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Lutz Herden
Der "machtlüsterne Wüstling" Lenin
Abrechnung mit der Sowjetgesellschaft
Geschichte, dieser nie zu bändigende Stoff
der Überlieferung und Erinnerung, aber auch des
Verdrängens und Täuschens, ist mit der Erfahrung
verbunden, dass Menschen aus ihr nichts lernen oder nur das lernen
wollen, was sie brauchen, um sich ihrer Gegenwart zu versichern.
Man mag dem ehemaligen sowjetischen Spitzenpolitiker Alexander
Jakowlew (Jahrgang 1923) wünschen, dass mit seiner
Autobiographie nicht so verfahren wird. Dieses Werk empfiehlt sich
als phänomenaler historischer Abriss der sowjetischen Epoche
russischer Geschichte und besticht durch seinen wahrlich
enzyklopädischen Charakter.
Das Buch ist eine wahre Fundgrube für
den aufgeschlossenen Zeitgenossen, besonders die politischen Eliten
Russlands und Deutschlands, die über strategische
Partnerschaften nachdenken. Jakowlew konfrontiert den Leser mit
einer Lebens- und Epochenbilanz, deren immenser Faktenreichtum
nicht zuletzt dem (für das vorliegende Buch)
"glücklichen" Umstand zu verdanken ist, dass er jahrzehntelang
im Führungs- und Nervenzentrum der Sowjetgesellschaft
gearbeitet hat - im Apparat und in den höchsten Gremien der
Kommunistischen Partei.
Dabei gerät die Exkursion durch
Kraterlandschaften des verflossenen Jahrhunderts über weite
Strecken zur resoluten Abrechnung mit dem Sowjetsystem. Jakowlew
fällt mit seinen Analysen historische Urteile, die
vernichtenden Schuldsprüchen gleichkommen. "Durch Russland
galoppierte die Barbarei", schreibt er über die Jahrzehnte
nach 1917 und deren zivilisatorische Entartungen.
Allerdings, so unerbittlich die
Systemerkenntnis, so konziliant die Selbsterkenntnis. Jakowlew gibt
sich wohl als schonungsloser Chronist der Epoche von Stalin bis
Gorbatschow zu erkennen, weniger indes als selbstkritischer
Prokurator in eigener Sache. Jahrzehntelang stand er selbst mit
anderen Parteigrößen am 1. Mai auf der Kremlmauer, um den
vorbei ziehenden Moskauern zuzuwinken: "Ich habe mehrfach versucht,
meine Tribünengefühle auszudrücken, es ist nicht
Gescheites dabei herausgekommen", merkt er an.
Den einen oder andern mag es stören,
Jakowlews beinharte Analyse von einer gehörigen Portion
persönlicher Amnesie flankiert zu sehen, den geschichtlichen
Wert des vorliegenden Buches schmälert der gnädige Umgang
mit eigener Vita und Verstrickung kaum.
"Revolution ist Hysterie und Ohnmacht vor dem
erdrückenden Gang der Ereignisse. Ein Akt der Verzweiflung,
der sinnlose Versuch aus dem Stand und in vollem Lauf all das zu
überwinden, was Jahrzehnte angespannter Mühen der ganzen
Gesellschaft erfordert", diagnostiziert Jakowlew mit Blick auf den
Sturz der Regierung Kerenski durch die Bolschewiki im November 1917
und die folgende Periode des "revolutionären
Terrors".
Höchst aufschlussreich, geradezu
spektakulär ist in diesem Kontext sein Verweis auf die
finanziellen Transaktionen, mit denen das kaiserliche Deutschland
Lenin und dem geplanten Umsturz seit 1915 zur Seite stand und Sorge
trug, dem zaristischen Feind auf dem östlichen
Kriegsschauplatz kräftig zu schaden. Gewährsmann
Alexander Helphand - genannt "Parvus" - ließ die Gelder direkt
aus dem deutschen Generalstab in die Kriegskasse Lenins
fließen: Von 60 Millionen Goldmark ist die Rede, wo bisher nur
von einem plombierten Zug gesprochen wurde, der Lenin Anfang 1917
unbehelligt durch Deutschland schleuste. Der Geldstrom sollte auch,
wie Jakowlew ergänzt, im ersten Jahr der Revolution bis hin zu
den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk (1918) nicht
versiegen.
Lenin-Uljanow selbst geißelt der
Verfasser als "machtlüsternen Wüstling" und
"schwadronierenden Halbgebildeten". Wer das theoretische Werk des
russischen Revolutionsführers einigermaßen kennt, etwa
seine "Philosophischen Hefte" (1914/16) oder die auf akribischer
Faktenanalyse fußende Anatomie des "Imperialismus als
höchstes und letztes Stadium Kapitalismus" (1916), die bis
heute aktuell ist, wird diese Geringschätzung nicht
nachvollziehen können.
Es überrascht ohnehin, dass Jakowlew
Lenin einerseits als prinzipienlose Kreatur abkanzelt und
andererseits doch Jahrzehnte lang einer sich auf Lenin wie keinen
anderen berufenden Ordnung gedient hat. Er tat dies bekanntlich
nicht als Funktionärswinzling in irgendeinem Provinzsowjet,
sondern mitten im Apparat, als geschätzte Zunge und
dienstbares Hirn der Nomenklatura - als Redenschreiber mehrerer
Generalsekretäre der KPdSU.
Dieses Geschäft ließ ihn eine
Ära nach der anderen überstehen, den "Träumer" und
unberechenbaren Experimentator Chrustschow, den in die Stagnation
führenden Breschnew, den verkappten Reformer Andropow, den
siechen und einem Politbüro-Kompromiss geschuldeten
Tschernenko.
Unter Michail Gorbatschow schafft es Jakowlew
als Protagonist der Perestroika kurz vor ultimo sogar noch ins
Politbüro. Eine solche Karriere der vermiedenen Brüche
und des Großen Sprungs zum Schluss erfährt auf ihrem
Höhepunkt die "Waschung durch Freiheit", wie der Autor die
1985 begonnene "Reform des Sozialismus" nennt. Das grandiose
Scheitern dieses Versuchs - vor allem Gorbatschows persönlich
- bis hin zur Selbstauflösung der UdSSR Ende 1991 ist selten
so fesselnd beschrieben worden wie in diesem Buch.
Alexander Jakowlew
Die Abgründe meines
Jahrhunderts.
Aus dem Russischen von Friedrich
Hitzer.
Faber & Faber. Leipzig 2003; 911 S.,
29,90 Euro
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