Siegfried Löffler
Urteile spiegeln ihre Zeit wider
BAG und BSG haben Geburtstag
Über Arbeitsmangel brauchen sich die Richter des
Bundesarbeitsgerichts (BAG) in Erfurt und des Bundessozialgerichts
(BSG) in Kassel nicht zu beklagen. Auch nach einem halben
Jahrhundert gibt es noch viele ungelöste Rechtsfragen.
Dafür sorgt die hohe Arbeitslosigkeit, lange Zeit ignorierte
höhere Belastungen der Krankenversicherungs- und Rentensysteme
als Folgen der demographischen Entwicklung und nicht zuletzt eine
Vielzahl komplizierter, für die Bürger kaum
verständlicher, gesetzlicher Regelungen. So bieten die 50.
Geburtstage der höchsten Instanzen für das Arbeits- und
Sozialrecht, die am 11. Mai in Erfurt und am 28. September in
Kassel gefeiert werden sollen, keinesfalls nur einen Anlass,
zufrieden zurückzublicken, obwohl die Richter in der roten
Robe in den letzten fünf Jahrzehnten einen entscheidenden
Beitrag zur Sicherung des Rechtsfriedens und der sozialen
Sicherheit leisteten.
Natürlich können sich die Richter die Fälle nicht
aussuchen. Sie kommen manchmal in großer Intensität auf
sie zu. Das gilt besonders in wirtschaftlich schwierigen Zeiten,
die - wie gegenwärtig - einschneidende Änderungen des
Arbeits- und Sozialrechts bewirken. So bietet die Bilanz von 50
Jahren BAG- und BSG-Rechtsprechung interessante Einblicke in die
wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Entwicklung
Deutschlands nach Kriegsende, von der Überwindung der
Rechtszersplitterung in den Besatzungszonen, bis zur Orientierung
als Teil eines größer werdenden Europas. Beide Gerichte
pflegen inzwischen eine "europa-sensible" Rechtssprechung mit engen
Kontakten zum Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften
(EuGH) in Luxemburg.
Zu den ersten Grundsatzentscheidungen des BAG gehörten die
Einführung eines Hausarbeitstags für Arbeitnehmerinnen.
Bereits im Frühjahr 1955 folgten die ersten Urteile zugunsten
der Lohngleichheit zwischen männlichen und weiblichen
Arbeitnehmern. Der 1957 geschaffene EuGH dehnte den Grundsatz der
Lohngleichheit später auf alle EU-Staaten aus.
Was den Arbeitskampf angeht, ist es auch noch nach Jahrzehnten
beim Richterrecht geblieben, weil der Gesetzgeber nach wie vor
zögert, ein praktikables Arbeitskampfgesetz vorzulegen. Die
Tarifpartner haben sich daran gewöhnt, dass das BAG
unverändert an der Ausgewogenheit zwischen dem Recht der
Arbeitnehmer auf Streik und dem der Arbeitgeber auf Aussperrung von
Streikenden festhält. Auf Richterrecht basiert im wesentlichen
auch die Rechtsprechung zum Anspruch auf
Weihnachtsgratifikationen.
Ein "heißes Eisen" ist und bleibt die Auslegung des
Betriebsverfassungsgesetzes zu den Rechten und Pflichten der
Betriebsräte und zur Mitbestimmung im Betrieb. Hier gibt es
nach wie vor starke Kritik von den Arbeitgebern und in der
Fachliteratur, nachdem das BAG 1994 seine Rechtsprechung zugunsten
eines Unterlassungsanspruchs des Betriebsrats gegenüber dem
Arbeitgeber änderte.
Auch bei der Bewertung von 50 Jahren Rechtsprechung des BSG
findet man ein Spiegelbild der sozialpolitischen Entwicklung in
Deutschland. Es konnte nicht überraschen, dass zehn Jahre nach
Kriegsende mehr als die Hälfte der in Kassel eingegangenen
Rechtsstreitigkeiten auf Klagen aus der Kriegsopferversorgung
entfielen. Heute betreffen weniger als fünf Prozent aller
Klagen Rechtsstreitigkeiten aus dem Versorgungs- und
Entschädigungsrecht.
In den Jahren der Hochkonjunktur glaubten viele, dass das so
weiter gehen werde, und auch der Gesetzgeber förderte die
Ausdehnung des sozialen Schutzes nach skandinavischem Vorbild. So
wurden aus vielen Kann-Leistungen Rechtsansprüche. Als das
nicht mehr unbegrenzt finanziert werden konnte, schränkte der
Gesetzgeber - sehr zum Leidwesen der Bürger, die sich daran
gewöhnt hatten - diese Ansprüche nach und nach wieder
ein. Das geschah zwar auch nach skandinavischem Vorbild; die
"Erfinder" in Nordeuropa taten das aber früher und
konsequenter.
Im Zusammenhang mit den jüngsten
Kostendämpfungsmaßnahmen in der Kranken- und
Rentenversicherung wird auf die Sozialgerichte eine Fülle
neuer Prozesse zukommen. Das BSG ist allerdings mit der Erledigung
von zwei Drittel aller eingegangenen Revisionen innerhalb eines
Jahres der schnellste der fünf Obersten Gerichtshöfe des
Bundes.
Auch das BAG bemüht sich um eine zügige Entscheidung
der eingehenden Revisionen innerhalb von 15 Monaten. Bei den
Kündigungsrechtsstreitigkeiten, bei denen es um die
wirtschaftliche Existenz der Rechtsuchenden geht, gelingt das oft
sogar in zehn Monaten.
Einen ganz entscheidenden Beitrag für die Rechtssicherheit
und für das Vertrauen der Bevölkerung in die
Rechtsprechung haben beide Gerichte nach der Wiedervereinigung
Deutschlands geleistet. Personell verstärkt, sorgten die
Richter dafür, dass Rechtsstreitigkeiten aus den neuen
Bundesländern mit Vorrang erledigt wurden. Beim BAG - das von
1954 bis 1999 im gleichen Gebäude wie das BSG in Kassel Recht
sprach und kurz vor der Jahrtausendwende nach Erfurt verlegt wurde
- mussten viele Rechtsstreitigkeiten geklärt werden, die von
Kündigungen bei der Umstellung von der Plan- zur
Marktwirtschaft, durch Auswirkungen naher STASI-Kontakte auf
Arbeitsverhältnisse und Altersversorgung sowie die
unterschiedliche Lohnhöhe in Ost und West ausgelöst
wurden. Das BSG musste sich vor allem mit vielen Klagen aus dem
Bereich der Renten- und Arbeitslosenversicherung
beschäftigen.
Waren besonders in den Jahren 1993 bis 1996
unverhältnismäßig viele Prozesse aus dem
früheren Gebiet der DDR gekommen, liegt inzwischen der Anteil
der Rechtssuchenden aus den neuen Bundesländern deutlich unter
dem an der Gesamtbevölkerung Deutschlands. Aus dieser
Normalisierung kann man schließen, dass die Integration der
Bevölkerung der neuen Bundesländer im Bereich des
Arbeits- und Sozialrechts weitgehend gelungen ist und das Vertrauen
der Bürger in eine unabhängige Rechtsprechung wuchs.
Siegfried Löffler
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