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Karl-Otto Sattler
Hartz im Getriebe, Europa im Blick
Was alles geschah: Ein Halbjahresrückblick
auf das parlamentarische Geschehen
Gelegentlich vermitteln sich dem Bürger draußen in der
Provinz richtig Aufregung und Spannung, wenn er im Fernsehen die
Bilder, die Statements, die vielsagenden Mienenspiele der
Polit-Prominenz verfolgt, die aus dem Reichstag und den anderen
Machtzentren des Berliner Regierungsviertels übertragen
werden. Wie ging es doch hektisch und nervenaufreibend zu, als
Union und FDP in einem Dschungelkrieg ihren Kandidaten für die
Nachfolge von Bundespräsident Johannes Rau kürten. Das
ist noch gar nicht lange her, und doch scheint dieser Machtkampf
eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen. Getagt wurde hinter
verschlossenen Türen, über die Medien wurden taktische
Botschaften lanciert. Ein wenig konnte sich der Fernsehzuschauer
mittendrin fühlen, als man Wolfgang Schäuble demontierte,
dann mit Annette Schavan als einem Zwischenjoker jongliert wurde
und schließlich Horst Köhler als Phönix aus der
Asche emporstieg.
Manch besorgte Stimme vor allem in den Medien prangerte dieses
Hin und Her als parteipolitisches Geschacher an - so werde das Amt
des Bundespräsidenten beschädigt. In der Tat sagten die
Strippenzieher Angela Merkel, Edmund Stoiber und Guido Westerwelle
offen, dass es ihnen im Kern um die Wahl 2006 geht. Aber Bedenken
hin oder her: Es war mal richtig spannend. Das lässt sich von
der Präsidentenkür am 23. Mai nicht mehr unbedingt sagen:
Köhler setzte sich in der Bundesversammlung wie erwartet gegen
Gesine Schwan durch. Dass sich die Kandidatin von SPD und
Grünen unvermutet gut schlug und Köhler nur knapp die
absolute Mehrheit erreichte, sorgte immerhin für einen Hauch
von Überraschung. Und obendrein lockerte ein kleiner
tagesordnungstechnischer Fauxpas von Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse den seriösen Urnengang etwas auf.
Das Geschehen im Schatten der Reichstagskuppel während des
ersten Halbjahrs ließ ohnehin nicht selten den
elektrisierenden Reiz vermissen. Europa erlebte mit der
EU-Erweiterung eine historische Zäsur, mit dem Streit
über die EU-Verfassung eine Grundsatzdebatte und mit der Wahl
zum EU-Parlament eine politische Weichenstellung. Der Urnengang am
13. Juni mit dem Absturz der SPD löste in der Tat ein Erdbeben
in Berlin aus. So sehr dieser innenpolitisch motivierte Einschnitt
die Parteienlandschaft durchpflügte, so bleibt diese Wahl doch
folgenlos für die Bundespolitik: An den
Mehrheitsverhältnissen im Bundestag ändert sich nichts,
und die Rückwirkungen der Entscheidungen im EU-Parlament
werden sich wohl in Grenzen halten.
Auch die Bundestagsdebatten über die europäische
Verfassung sowie über die EU-Ausdehnung dürften die
Bürger kaum nachhaltig in ihren Bann geschlagen haben.
Europapolitisch sind sie sich im Kern einig, die Koalition wie die
Opposition, und so fehlt da eben ein bisschen das Salz in der
Suppe. Ein Beitritt der Türkei, den Gerhard Schröder
prinzipiell befürwortet und den Angela Merkel ablehnt, ist
für viele Deutsche noch ein fern in der Zukunft liegendes
Thema. Und die Forderung der FDP nach einem Volksentscheid
über die europäische Verfassung mutet akademisch an -
weil klar ist, dass ein solches Referendum nicht stattfinden
wird.
Hinterlassen die Berliner Debatten über die EU kaum
sichtbare Spuren, so lässt sich das von manchen
innenpolitischen Entscheidungen nicht sagen. Nicht folgenlos bleibt
etwa die Entscheidung zum Emissionshandel, der die
Kohlendioxidbelastung der Luft reduzieren soll. Es war kein Wunder,
dass dieses Gesetz einen beinharten Interessenclinch provozierte.
Die Industrie fuhr schweres Lobbygeschütz auf. SPD-Wirt-
schaftsminister Wolfgang Clement und Umweltressortchef
Jürgen Trittin von den Grünen schienen zeitweise nicht
mehr als Koalitionspartner miteinander zu sprechen, sondern in
diplomatischer Mission wie Vertreter gegnerischer Staaten zu
verhandeln - samt dramatischer Nachtsitzung im Kanzleramt - so
kommen zuweilen internationale Verträge zustande. Aber das
Ergebnis setzte einen Markstein, auch wenn Trittin erheblich Federn
lassen musste. Öffentlich weniger spektakulär verliefen
die Konflikte um die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, da
ging es mehr um - durchaus bedeutsame - Details bei der
Förderung umweltverträglich produzierten Stroms.
Schließlich einigten sich Bundestag und Bundesrat auch im
Vermittlungsausschuss. Öko-Strom genießt also weiterhin
eine gewisse Priorität.
Hohe Wellen schlugen und schlagen noch immer die
Auseinandersetzungen um die Ausbildungsplatzumlage und um das
Zuwanderungsgesetz. Indes verschwimmen irgendwie die konkreten
Folgen dieser so heftig umkämpften Regelungen. "Ja, aber": So
heißt es bei der Lehrstellenabgabe - sie gilt und doch auch
nicht, weil stattdessen ein "Ausbildungspakt" mit der Wirtschaft
vereinbart wurde. Und kaum war beim Zuwanderungsgesetz, das im
Übrigen eine weitreichende Überwachung und Kontrolle von
Ausländern mit sich bringt, mühsam ein Kompromiss
zwischen Regierung und Opposition erzielt, da setzte schon eine
neue Debatte ein über die Praktikabilität der
Bestimmungen zur Öffnung der Arbeitsmärkte.
Aufgewühlt wird die Nation vor allem von den mit der Agenda
2010 einhergehenden tiefen Einschnitten in die Sozialsysteme. Zoff
zwischen Gewerkschaften und SPD, unzählige Demonstrationen
gegen Sozialabbau und Rentenkürzungen, massive Wahlenthaltung
als Protest, Patienten empören sich über
Praxisgebühren und steigende Zuzahlungen,
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt liegt unter Dauerbeschuss, wegen
Hartz IV balgten sich Wirtschaftsminister Wolfang Clement,
Länder und Kommunen monatelang: Es fällt indes auf, dass
der Bundestag seinerseits als Bühne dieser Konflikte etwas in
den Hintergrund geriet. Im vergangenen Jahr sorgte der Kanzler mit
seiner Agenda-Rede im Plenum noch für einen gewaltigen
Paukenschlag in der Republik, jetzt im März verhallte der
Schlagabtausch zwischen Gerhard Schröder und Angela Merkel
über die einjährige Bilanz rasch wieder. Offenbar fehlt
es bei aller streitigen Rhetorik an Konfliktstoff: Trotz diverser
Differenzen bei Details ist ja auch nicht zu verkennen, dass alle
Fraktionen des Bundestags wie auch die Länderkammer beim Thema
Nummer eins im Kern auf einer Linie liegen.
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