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Gisela Notz
Impulse für eine Gesellschaft von morgen
geben
Ein Wandel in der Familienpolitik ist dringend
erforderlich
Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich,
der so von Bildern, Idealen und emotionalen Bewertungen umstellt
und verstellt ist, wie die Familie. Der "Wandel" oder die "Krise"
der Familie wurde schon früher in der Geschichte beklagt.
Wilhelm Heinrich Riehl beschrieb in seinem Band "Die Familie"
bereits 1855 den Verfall der Familie. Damals meinte er das "ganze
Haus" der vorindustriellen Gesellschaft, eine Familienform, zu der
verwandte und nicht verwandte Personen zählten und deren
Struktur eine Tätigkeitsbegrenzung von Frauen auf die rein
hauswirtschaftlichen Arbeiten nicht vorsah.
Kinder, Frauen und Männer, Alte und das
Gesinde beteiligten sich an der Erwerbsarbeit. Diese Familie war
ebenso wenig wie die folgenden Familientypen eine "heile Familie".
Sie funktionierte nur für eine kurze Zeitspanne, vornehmlich
im großbäuerlichen und -bürgerlichen Bereich, und
war bereits patriarchal organisiert. Was sich aus dem "Zerfall"
entwickelt hat, ist das klassische Familienbild, die
Zwei-Generationen-Familie mit dem leiblichen Vater, der
dazugehörigen Mutter und ihren gemeinsamen Kindern. Art und
Weise der gesellschaftlichen Produktion und der damit verbundenen
Besitz- und Machtverhältnisse sowie Arbeits(ver)teilungen
bestimmen nach wie vor die Struktur der Familie, die heute durch
vielfältige andere Lebensformen ergänzt wird.
Bereits in den 70er-Jahren war es durch die
Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften in Deutschland (Ost und
West) zu einer Abkehr vom traditionellen
bürgerlich-patriarchalen Familienbild gekommen. Heute wird
"Familie" in vielfältigen personellen Zusammensetzungen
gelebt. "Familie ist, wo Kinder sind", stand in den
Koalitionsvereinbarungen der Bundesregierung von 1998 und 2002. Der
Slogan wurde von vielen Organisationen begeistert aufgenommen.
"Alles, wo Kinder drin sind", wurde zum Familienbild der
Gewerkschaften. Von der Umsetzung der Definition in die
Realität sind wir noch weit entfernt, auch wenn Homo-Paare
ihre Partnerschaft jetzt eintragen lassen dürfen. Nach Artikel
6 Absatz 1 des Grundgesetzes stehen "Ehe und Familie" unter dem
besonderen Schutze der staatlichen Ordnung". Das
Ehegattensplitting, das Hausfrauen-Ehen mit höchstens geringem
"Zuverdienst" begünstigt und damit alle anderen
Zusammenlebensformen benachteiligt, wirkt nach wie vor. Heute
jedoch wird "Familie" in vielfältigen personellen
Zusammensetzungen gelebt.
Nicht nur Bevölkerungswissenschaftler
beobachten die Ausdifferenzierung von Familie und den
Geburtenrückgang in Ost- und Westdeutschland mit Sorge. "Das
eigentliche demographische Problem", heißt es dennoch in einem
Gutachten, das das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Auftrag gegeben hat, "ist das
Ausmaß der Kinderlosigkeit." Etwa jede fünfte
westdeutsche Frau des Jahrgangs 1955 blieb kinderlos; unter denen
des Jahrgangs 1965 sogar fast jede Dritte. Nun häufen sich die
Klagen, dass "das deutsche Volk" aussterben würde, durch
"Rassenvermischung" aufgelöst oder "durch Angehörige
fremder Völker" überschwemmt werden könnte oder gar,
dass sich ganz Europa zum Altersheim entwickle.
Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und
Politiker und Politikerinnen argumentieren mit dem
"Generationenvertrag", der unserem Rentensystem zugrunde liege. Sie
übersehen, dass höhere Geburtenraten alleine weder kurz-
noch langfristig zur Lösung des Rentenproblems beitragen
können. Kinder können nur dann in die Rentenversicherung
einbezahlen, wenn sie im Jugendlichen- und Erwachsenenalter
entsprechende Ausbildungen und Erwerbsmöglichkeiten vorfinden,
die ihnen das ermöglichen. Ist das nicht der Fall, werden auch
sie dem Sozialstaat, dem das Geld bereits jetzt auszugehen droht,
zur "Last" fallen. Die Funktionalität der
Generationsgemeinschaft erweist sich als abhängig von der
herrschenden Anordnung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit. In
der Bundesrepublik gibt es weit über vier Millionen
registrierte und insgesamt etwa sieben Millionen Erwerbslose. Die
ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit und von
Einfluss an der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen trägt immer
mehr zur Spaltung in Arme und Reiche, aber auch zur Spaltung
zwischen den Generationen bei.
Familiensoziologen sehen die Ursache
dafür, dass sich immer weniger Frauen für Kinder
entscheiden, darin, dass Beziehungen in den letzten Jahrzehnten
zwar nicht seltener geworden sind, aber instabiler. Gerade
beruflich qualifizierte Frauen zögerten nicht lange, den
Trennstrich unter eine Beziehung zu ziehen. Sie schließen
daraus, dass sich der Staat auf Paarberatungsstellen konzentrieren
müsste und allein finanzielle Anreize nicht mehr ausreichen.
Die Frage, in welche Richtung die Paare beraten werden sollen,
bleibt offen.
Kindererziehen ist eine verantwortungsvolle
gesellschaftliche Aufgabe, der man sich stellen kann oder nicht;
wie anderen gesellschaftlichen Aufgaben auch. Dennoch wird
Kinderlosen undifferenziert Egoismus, Karrierestreben,
"Trittbrettfahren" unterstellt. Frauen und Männer haben ein
Recht darauf, selbst zu bestimmen, ob und wann sie Kinder haben
wollen und unter welchen Bedingungen. Um dieses Recht hat die
westdeutsche Frauenbewegung nachhaltig unter dem Motto "Kinder oder
keine entscheiden wir alleine" gekämpft. Freilich sind
vielfältige Rahmenbedingungen, detaillierte Informationen und
verarbeitbares Wissen über verschiedene Lebensweisen
notwendig, um das Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen zu können.
Diese Rahmenbedingungen fehlen, weil die veränderten
Vorstellungen, die viele Frauen an Zusammenlebensformen entwickeln,
zu wenig Beachtung finden. Das traditionelle Familienmodell wusste
eine männliche Arbeitsbiografie mit einer lebenslangen
Hausfrauen- oder Zuverdienerinnenexistenz zu verzahnen, nicht aber
zwei Erwerbsbiografien. Wie sehr die Balance zwischen Beruf und
Familie noch immer auf Kosten der Frauen geht, zeigt, dass in
Westdeutschland im Jahr 2003 von den 25- bis 45-jährigen
Frauen 84,8 Prozent (Ost 76,5 Prozent), die keine Kinder im
Haushalt haben, berufstätig waren, aber nur 63,1 Prozent (Ost
75,2 Prozent), die Kinder haben und nur knapp über die
Hälfte, nämlich 52,8 Prozent (Ost 60,8 Prozent)
derjenigen, die Kinder unter sechs Jahren haben. Im gleichen Jahr
standen für zwei Prozent (Ost 16 Prozent) der Kinder unter
drei Jahren Krippenplätze, für 60 Prozent (Ost 87
Prozent) der Kinder von drei bis sechs Jahren
Kindergartenplätze und für vier Prozent (Ost 26 Prozent)
Hortplätze zur Verfügung. Für die meisten
Männer ändert sich nichts, ihre Erwerbsbeteiligung liegt
bei rund 90 Prozent (Ost und West), egal wie alt die Kinder sind
und egal ob Einrichtungen zur Verfügung stehen. Die Tatsache,
dass es zu wenig Kinderbetreuungseinrichtungen gibt, trifft
eigenständig lebende Mütter in besonderer Weise, aber
auch Kinder, die in pädagogisch wertvollen Einrichtungen
Freunde finden, spielen, lernen und soziale Kompetenzen
einüben können.
Perspektiven für Familien
An der Rollenaufteilung zwischen den
Geschlechtern hat sich dort, wo "Kleinfamilie" gelebt wird, allen
Untersuchungen zufolge wenig geändert. Sie ist es aber, die
eine Begegnung der Partner auf gleicher Ebene verhindert. Eine
andere Verteilung von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Haus-
und Sorgearbeit sowie gleichberechtigte Entscheidungsstrukturen in
den Zusammenlebensformen könnten sich hingegen konstruktiv und
lebensbereichernd auf die Beziehungen zwischen Frauen und
Männern auswirken. Diese Chance wird vertan, wenn nach der
Restabilisierung traditioneller Familienbande gerufen wird. Neben
der "Kernfamilie" bestehen bereits vielfältige Lebensformen.
Es wäre viel gewonnen, wenn Familienpolitik das zur Kenntnis
nehmen würde. Für die Zukunft geht es darum, dass keine
Lebensform bevorzugt und keine benachteiligt wird und allen
Menschen, ob mit oder ohne (eigene) Kinder gleiches Recht und
Existenzberechtigung für die von ihnen gewählte
Lebensform zugestanden wird, solange dort niemand ausgebeutet,
unterdrückt oder seinen eigenen Interessen widersprechend
behandelt wird. Wäre das erreicht, würde es keine Rolle
spielen, ob Menschen alleine, zu zweit oder zu mehreren, mit oder
ohne (eigene) Kinder, monogam oder polygam, homo-, hetero-,
bisexuell oder in anderen als sexuellen Beziehungen zusammen leben
und auch nicht, aus welchem Land sie kommen und welche Hautfarbe
sie haben. Es geht um freie Zusammenschlüsse unter freien
Menschen.
Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin und
arbeitet in der Forschungsabteilung Sozial- und Zeitgeschichte der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn.
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