Karl Jüsten
Die Umkehr zu Gerechtigkeit und Solidarität
ist gefordert
Die Kirchen als Anwälte der
UN-Millenniumsziele
Absichtserklärungen der UN zur
Bekämpfung von Hunger und Armut in der Welt sind so alt wie
die Vereinten Nationen selbst und schon manches Mal ergebnislos
verhallt. Ist das bei den UN-Millenniumszielen, auf die sich 189
Nationen im Jahr 2000 geeinigt haben, nun anders?
Die Erreichung der UN-Millenniumsziele bis
zum Jahr 2015 ist sehr ehrgeizig. Sie beinhalten weltweit geteilte
und politisch verbindlich erklärte Entwicklungsziele,
zeitliche Bindung und messbare, klar und verständlich
formulierte sowie realistisch gesetzte und erreichbare Ziele. Die
Kirchen haben diesen Schritt international wie national schon lange
gefordert und die damit verbundenen Herausforderungen
aufgegriffen.
Auch wenn schon manches erreicht scheint,
noch ist Skepsis geboten. Denn die Kluft zwischen der Anzahl und
dem Umfang der Ankündigungen politischer Vorhaben zugunsten
von Entwicklung, Menschenrechten und Frieden einerseits und der
tatsächlichen Ausgabenpolitik andererseits wächst. Wie
einem geheimen Zwang folgend werden von der nationalen wie der
internationalen Politik doch immer wieder andere Prioritäten
verfolgt.
Dieses Verhalten stellt ein gewaltiges
Glaubwürdigkeitsdefizit dar, das uns insbesondere die
ärmsten Ländern mit einem gewissen Recht vorwerfen
können. Von der Erreichung des "0,7-Prozent-Ziels" ist die
Bundesrepublik Deutschland weit entfernt. Obwohl die Umsetzung der
Millenniumserklärung geschätzt zusätzlich 50
Millionen US-Dollar erfordert, ist die öffentliche
Entwicklungshilfe weltweit nicht weiter angestiegen. Gelder
für die internationale Zusammenarbeit werden stattdessen
ungeniert für andere Zwecke verwandt wie für
Sicherheitsdienstleistungen oder den Klimaschutz. Man kann sich oft
nicht des Eindrucks erwehren, dass die Entwicklungshilfe weiterhin
als Kür für gute Zeiten und fette Jahre gilt. Sollte es
nicht gelingen, diesen Trend umzukehren, so droht auch den
UN-Millenniumszielen ein politisches und moralisches
Fiasko.
Moralischer Offenbarungseid
Glaubt man der aktuellen politischen Agenda
der internationalen Konferenzen, scheint die westliche Welt trotz
dieses moralischen Offenbarungseids mehr und mehr zu begreifen,
dass die Probleme, die sie selber hat, mit dem Hunger und der Armut
in der Welt sehr viel zu tun haben. Es hat sich bei den reichen
Ländern herumgesprochen, dass die Bekämpfung des Elends
in der einen Welt im eigenen Interesse liegt.
Entwicklungspolitik ist nicht mehr nur etwas
für Idealisten und Kirchenleute, sondern sollte längst
ein Schwerpunkt der Außenpolitik und der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit sein. Folgt man den Worten unseres neuen
Bundespräsidenten Köhler bei seiner Antrittsrede, muss
sie Priorität deutscher Politik werden. Nach der Auffassung
der Fachleute ist ein eigenständiges
Entwicklungshilfeministerium mit einem angemessenen Haushalt ein
wesentlicher Garant hierfür.
Wir brauchen darüber hinaus in
Deutschland mehr Akteure mit Gewicht, die vorrangig dem Politikziel
der Bekämpfung des Hungers und Armutshalbierung dienen wollen,
die dieses nicht nur wegen des ökonomischen und
sicherheitspolitischen Nutzens kurzfristig verfolgen sondern ihm
aus ethischen Gründen langfristig Vorrang einräumen. Der
Weltbankpräsident James Wolfensohn sagte beim letzten
Weltbankforum in München: Wir brauchen
Führungspersönlichkeiten in Wirtschaft, Finanzwelt und
Politik, die glaubwürdig Gerechtigkeit und Solidarität
leben und praktizieren; er sprach sogar von einer
Spiritualität gelebter Werte. Das aber ist ein Potential, das
insbesondere die Kirchen einbringen können: Verkündete
und gelebte Werte von Solidarität und
Gerechtigkeit.
Die Würde des Menschen
Der kirchliche Ansatz für eine
gelingende Entwicklungspolitik folgt nicht einem modischen Trend
oder einer politischen Aktualität, sondern basiert auf dem
christlichen Menschenbild. Als Ebenbild Gottes ist der Mensch mit
gleicher Würde ausgestattet und hat die gleichen Rechte. Jeder
Mensch ist nach seinen Möglichkeiten gehalten, die
entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen und zu schützen,
damit alle in Recht und Würde leben können.
Jeder soll an den Errungenschaften des
menschlichen Geistes und den Schätzen des Lebens und der Erde
teilhaben können. Solche Rahmenbedingungen sind die
Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben.
"Entwicklung ist der neue Name für Frieden" so sagte schon
Papst Paul VI. 1967. Die Förderung von Entwicklung ist der
Schlüssel zu einer gerechten und friedlichen Welt. Die
Solidarität mit den Marginalisierten, der Schutz der
Schwachen, die Option für die Armen sind ihre tragenden
Handlungsmaximen.
Die Kirchen können auf einen reichen
Schatz an Erfahrung mit den Partnern im Süden, mit
Ausgegrenzten und Benachteiligten verweisen. Sie wissen, auf welche
Weise konkrete Hilfe zur Überwindung von Armut und politischer
Einsatz zugunsten gerechter Verhältnisse wirken können.
So hat sich zum Beispiel in der Entschuldungskampagne das
gemeinsame Vorgehen der Kirchen im Süden und im Norden
zugunsten einer nachhaltigen und konsequenten Entschuldung voll
bewährt. Im Bemühen um mehr Gerechtigkeit im Welthandel
klagen die Kirchen ein, dass die Länder des Südens auf
gleicher Augenhöhe mit den Reichen verhandeln.
Strategische Allianzen
Die Ministerpräsidentenkonferenz der WTO
in Cancún im vergangenen Jahr ist letztlich an deren Weigerung
dazu gescheitert. Als ältester "Global Player" bemühen
sich die Kirchen darum, der Globalisierung des Elends eine
Globalisierung der Solidarität entgegenzusetzen. In der
Analyse wie der Aktion suchen sie strategische Allianzen mit der
Wissenschaft, der Politik, der Wirtschaft, mit den Medien und mit
Nichtregierungsorganisationen, mit denen sie gleiche Ziele
verbinden. Die Kirchen in Deutschland greifen nicht zuletzt mit
ihren großen und kleinen Hilfswerken die Initiative der UN auf
und konzentrieren ihre Projektarbeit in Abstimmung mit ihren
Partnern im Süden und in Osteuropa auf die vorrangigen Ziele
der Armutsbekämpfung.
Die Öffentlichkeitsarbeit und die
Bildungsarbeit tragen mit dazu bei, für die Anliegen der
Armutshalbierung in Deutschland selbst Lobby zu machen, denn wenn
diese Ziele von der breiten Bevölkerung unterstützt
werden, können sie sich einer höheren Beachtung in der
Politik sicher sein.
Angesichts des Dilemmas zwischen den edlen
Zielen der UN einerseits und der noch ausstehenden Realisierung
sind zwei Anliegen für die Kirchen von besonderer
Dringlichkeit: Die Verbesserung der finanziellen Ausstattung, indem
die UN-Vereinbarung von 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes eines
jeden Staates für die Entwicklungszusammenarbeit erfüllt
wird, und die Verbesserung partizipativer Elemente, die die
Zielgruppen als echte Partner Ernst nehmen.
Besonderes Augenmerk legen die Kirchen auf
eine kohärente Politik, die nicht nur in der
Entwicklungspolitik auf die Übereinstimmung mit den
Entwicklungszielen achtet. So hat die Bundesregierung mit ihrem
Kabinettsbeschluss vom 5. April 2001 erklärt, ein eigenes
Aktionsprogramm zur Umsetzung der Millenniumsziele
durchzuführen. Sie will dieses Aktionsprogramm 2015 in die
deutsche Gesellschaft hineintragen und hat sich verpflichtet, in
ihrer europäischen und internationalen Politik diese Anliegen
voranzubringen.
Diese Kohärenz fehlte bei der
WTO-Ministerpräsidentenkonferenz in Cancún. Es war dort
ein nicht abgestimmtes und zum Teil widersprüchliches Vorgehen
der verschiedenen Bundesressorts bezüglich der
Entwicklungsziele zu beobachten. Das federführende
Bundeswirtschaftministerium gab wirtschafts- und handelspolitischen
Interessen den Vorrang und trat nicht vorrangig für das
UN-Millenniumsziel einer globalen Partnerschaft ein, das den
entwicklungspolitischen Zielsetzungen des Aktionsprogramm 2015 der
Bundesregierung folgt und vom Bundesminister für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zurecht vertreten
wurde. Im Herbst 2005 wird von den Regierungen eine erste
Zwischenbilanz über den Fortschritt auf dem Weg zur Erreichung
der Millenniumsziele gezogen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass zu
oft entwicklungspolitische Notwendigkeiten hinter
marktwirtschaftlichen Überlegungen, sicherheitspolitischen
Sorgen und außenpolitischen Interessen zurückstecken. Die
Ziele werden wohl nicht planmäßig erreicht werden. Die
Regierungen werden analysieren müssen, warum die Ziele in
weite Ferne gerückt sind und dann berichtigende Maßnahmen
ergreifen. Die Kirchen werden wach beobachten, ob und wie engagiert
die Mächtigen und Reichen dieser Welt ihre selbst auferlegte
Verpflichtung zur Armutsbekämpfung erfüllen, denn sie
verstehen sich als Anwälte für die Schwachen dieser
Welt.
Prälat Karl Jüsten ist Leiter des
Katholischen Büros Berlin und zusammen mit Prälat Stephan
Reimers Vorsitzender der Gemeinsamen Konferenz der Kirchen für
Entwicklung.
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