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Gottfried-Karl Kindermann
Bewährungsprobe für Taiwans
Demokratie
Der lange, steinige Weg vom Festlandschina zur
Unabhängigkeit
Die demokratisch-republikanische Revolution von
1911 in China hatte zwar die dort seit 1644 regierende und
hoffnungslos korrupt gewordene mandschurische Ching-Dynastie
gestürzt, wonach der Revolutionsführer Sun Yat-sen
(1866-1925) am 1. Januar 1912 die Republik China proklamierte. Doch
Chinas junger Demokratie war zunächst nur eine Lebenszeit von
anderthalb Jahren beschieden.
Ein Staatstreich des ersten regulären
Präsidenten Yüan Shi-k'kai hatte in China eine
Militärdiktatur errichtet. Nach Yüans Tod zerfiel die
Zentralregierung, und die Macht geriet in die Hände regionaler
Militärmachthaber, die jeweils über eine oder mehrere
Provinzen herrschten und Bürgerkriege um die Frage
führten, wer als Sieger eine neue Dynastie begründen
würde. Doch Chiang Kai-shek, der Nachfolger Sun Yat-sens, und
seine Partei, die Kuomintang (Nationale Volkspartei), bewirkten
durch einen Feldzug quer durch China 1926 bis 1928 eine
prekäre Wiedervereinigung des Landes und die Gründung
einer neuen Nationalregierung mit Sitz in der alten Kaiserstadt
Nanking. Bürgerkriege mit den Warlords wie mit den
chinesischen Kommunisten und der China von Japan aufgezwungene
achtjährige Krieg verhinderten jedoch die geplante
Verwirklichung eines demokratischen Regierungssystems. Als nach dem
Kriegsende 1945 das erneute Aufflammen des Bürgerkrieges
zwischen Nationalisten und Kommunisten folgte, ergriffen die USA
die Initiative zu einer großangelegten Vermittlungsaktion
zwischen den Bürgerkriegsgegnern. Als Resultat entstand 1946
die von Ideen Sun Yat-sens inspirierte
Fünf-Gewalten-Verfassung. Sie ergänzte die im Westen
übliche drei Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive,
Judikatur) durch zwei altchinesischen Institutionen entstammende
Gewalten (die kontrollierende und die prüfende
Gewalt).
Ihr entsprechend wurden trotz des
Bürgerkrieges 1948 erste allgemeine Wahlen abgehalten. Doch
als sich 1949 Jahr ein militärischer Sieg der von Mao Tse-tung
geführten Kommunisten anbahnte, entzog Chiang Kai-shek sein
Regime der Vernichtung, indem er es auf die Inselprovinz Taiwan
verlegte. Ihm folgte nicht nur die politische Führung der
Kuomintang, sondern auch ein Großteil des neu gewählten
gesamtchinesischen Parlaments. Es fungierte gleichsam als
Legitimationsgrundlage für den Anspruch der nun auf Taiwan
befindlichen nationalchinesischen Regierung, weiterhin die legitime
Regierung ganz Chinas darzustellen. Als solche konnte sie bis 1971
das ganze Land in der UNO und in einer Mehrzahl der
Hauptstädte anderer Staaten vertreten. Offiziell stellte sich
das nationalchinesische Regime als Freies China dar und somit als
letztes chinesisches Bollwerk gegen den Kommunismus und
Ausgangspunkt einer auf die Rückgewinnung Chinas abzielenden
Bewegung. Deshalb galten auf Taiwan nicht nur die Kommunisten als
Todfeinde des Regimes, sondern auch Separatisten, die Taiwan
letztlich von China trennen wollten. 1945 hatte für Taiwan die
50 Jahre währende japanische Kolonialherrschaft ein Ende
gefunden, und die dorthin kommenden festlandschinesischen
Autoritäten waren anfangs begeistert empfangen worden. Doch
das Regime des ersten chinesischen Gouverneurs für Taiwan,
Chen Yi, regierte mit derartigen Exzessen von Korruption,
Repression und der Missachtung taiwanesischer Anliegen, dass es im
Februar 1947 zum Ausbruch eines Volksaufstandes kam, der von Chen
Yis Regime grausam niedergeschlagen wurde. Aus dieser
traumatisierenden Erfahrung ist die wenig strukturierte
taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangen. De jure
existierte zwar auf Taiwan ein Staatswesen mit demokratischer
Verfassung. Doch wegen des Bürgerkriegszustandes mit dem
kommunistischen China wurden Notstandsgesetze mit einer
autoritären Regierungsführung erlassen.
Dank einer Initiative des Präsidenten
Chiang Ching-kuo hob die Kuomintang-Regierung diese seit 38 Jahren
bestehende Notstandsgesetzgebung jedoch 1987 auf. Dies und
zusätzliche Gesetze von 1989 legitimierten die zuvor
untersagte Zulassung neuer Parteien. So entstand insbesondere die
Demokratische Fortschrittspartei als Sammelbecken von Bürgern,
die sich sowohl für die Taiwanisierung als auch für die
weitere Demokratisierung auf der Insel einsetzten. Viele ihrer
Führer mussten wegen separatistischer Betätigung bis zu
acht Jahre Haft verbüßen, und der 2000 erstmals zum
Staatspräsidenten gewählte Führer dieser Partei,
Chen Shui-biän, hatte als Rechtsanwalt der Angeklagten
fungiert. Nach Chiang Ching-kuos Tod 1988 stellte die regierende
Kuomintang mit dessen Vizepräsidenten, dem von der Insel
stammenden Dr. Lee Teng-hui, erstmals einen Taiwanesen, der
Festlandschina nie bereist und seine Ausbildung in Japan und den
USA erhalten hatte, an die Spitze von Staat und Partei. Eine 1990
ergangene Entscheidung des Verfassungsgerichts löste das 1948
in ganz China gewählte "lange Parlament" auf. Die
Einführung der allgemeinen Direktwahl des
Staatspräsidenten bedeutete einen weiteren Schritt im Prozess
der Demokratisierung. Obwohl die See- und Luftstreitkräfte der
Volksrepublik China Drohmanöver unmittelbar vor den
Küsten Taiwans durchführten, gewann dennoch der Peking
verhasste Lee Teng-hui und mit ihm die Kuomintang 1996 mit
großem Vorsprung die erste dieser Direktwahlen.
Überraschend gelang es aber der
separatistischen Demokratischen Fortschrittspartei mit Chen
Shui-biän und seiner Partnerin Lü Shao-lien 2000, trotz
extremer Drohungen aus Peking, die Wahlen für die Ämter
des Präsidenten und der Vizepräsidentin zu gewinnen. Das
aber war nur möglich, weil sich die zuvor regierende
Kuomintang gespalten hatte. Ihr führender Kandidat und
vormaliger Vizepräsident Lien Chan erzielte nur 23,1 Prozent
der Stimmen. Gekränkt, weil nicht er Kandidat der Kuomintang
geworden war, hatte deren populärster Politiker, der
Provinzgouverneur Soong Tzu-yi, parteiunabhängig kandidiert
und 36,84 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt. Dennoch
überrundete ihn der Kandidat der Demokratischen
Fortschrittspartei Chen Shui-biän mit 39,3 Prozent und gewann,
da es in Taiwan bei Präsidentschaftswahlen keine Stichwahl
gibt. Erstmals war damit die 51-jährige Regierungsführung
der Kuomintang auf Taiwan durch einen demokratisch bewirkten
Führungswechsel durchbrochen worden. Lien und Soong, die sich
gestehen mussten, dass sie vereint mit 59,94 gegen 39,3 Prozent
Chen Shui-biän leicht hätten schlagen können,
schlossen ihre jeweiligen Anhänger vor den
Präsidentschaftswahlen des Jahres 2004 zum sogenannten
"panblauen Lager" zusammen und rechneten mit einem Wahlsieg. Chen
ließ von seinen Anhängern eine vom Norden Taiwans bis zum
Süden reichende Menschenkette einander symbolisch zum Schutz
Taiwans die Hände reichender Menschen bilden. Im panblauen
Lager hingegen warfen sich Lien und Soong bei einer
Großveranstaltung auf den Boden, um demonstrativ die Erde zum
Zeichen dafür zu küssen, dass sie Taiwan genauso liebten
wie Chens "pangrünes" Lager.
Am Tag vor der Wahl vom 20. März 2004
feuerte ein unbemerkt entkommender Attentäter Schüsse auf
Chen Shui-biän und Lü Shao-lien, die beide leicht
verletzt wurden. Die Wahlresultate des folgenden Tages brachten
Chen auf der Basis eines hauchdünnen Vorsprungs von nur 29.518
Stimmen einen überraschenden Wahlsieg von 50,11 Prozent.
Buchstäblich fassungslos wegen dieser total unerwarteten
Wahlniederlage, begannen die Führer von "panblau" nach
Gründen zu suchen, um diese Wahlen anzufechten. So habe das
Attentat am Vortag der Wahl den Gewinnern psychologische Vorteile
verschafft, es habe einen Alarmzustand ausgelöst, in dessen
Folge Tausende von Soldaten und Polizisten nicht hätten
wählen können, außerdem habe es eine
ungewöhnlich viele ungültige Stimmen gegeben. Mit
tagelangen Massendemonstrationen vor dem Präsidentenpalast
forderten die Anhänger von "panblau" eine Neuauszählung
der Wahlzettel und begannen zu prozessieren. Chen Shui-biän
reagierte nachgiebig, stimmte einer Neuauszählung und
Überprüfung der Stimmen durch ein Richtergremium ebenso
zu wie auch einer kriminalistischen Untersuchung des Attentats und
ließ die Streifschusswunde auf seinem Bauch in den Medien
darstellen. Endgültige Ergebnisse dieser Untersuchungen und
deren richterliche Bewertung werden erst gegen Ende September
erwartet. Lien Chan hofft sogar auf eine Gerichtsentscheidung,
zugunsten einer vollständigen Neuwahl. Doch beide Lager
rüsten sich für die im Dezember 2004 stattfindenden
Parlamentswahlen. Denn noch verfügt panblau im Parlament
über eine knappe Mehrheit. Die drei panblauen Parteien (die
Kuomintang, Soongs Volkspartei und die Neue Partei) beraten
über Formen eines Zusammenschlusses, sei es ähnlich der
aus CDU und CSU gebildeten Union oder sei es durch Reintegration
unter dem Dach der Kuomintang. Sollte aber pangrün die Wahlen
auch zum Parlament gewinnen, würde dies eine
beträchtliche Stärkung Chen Shui-biäns bedeuten und
die Niederlage des panblauen Lagers vertiefen. Die Formen, in denen
dieser präzedenzlos verschärfte Lagerkampf ausgetragen
und geregelt wird, werden als Indikatoren für die
Stabilität von Taiwans junger Demokratie gewertet.
Zutiefst beunruhigt über das Anwachsen
der Anhängerzahl Chen Shui-biäns von 39,1 Prozent im Jahr
2000 auf 50,11 Prozent 2004 wie auch von Symptomen einer
zunehmenden Taiwanisierung des "panblauen Lagers", erließ
Peking im Zeichen seiner "Ein-China-Politik" scharfe Drohungen in
Richtung einer formellen Unabhängigkeitserklärung
Taiwans. Denn Präsident Chen gab bekannt, er plane für
2006 eine grundlegende Verfassungsreform, die 2008 im Jahr der
Pekinger Olympiade in Kraft treten solle. Die bisherige Verfassung
sei 1946 für ganz Chinas konzipiert worden und tauge nicht
für das viel kleinere Taiwan. Druck aus Peking veranlasste
dritte Staaten - einschließlich der US-Regierung von George W.
Bush - auf Taiwan einzuwirken, es solle sich doch mit seiner de
facto Unabhängigkeit zufrieden geben und nicht unter
Gefährdung der gesamten Sicherheitsarchitektur des
westpazifischen Raumes eine China provozierende
de-jure-Unabhängigkeit der Insel anstreben. Washington
wiederholte zwar seine Unterstützung des so genannten
Ein-China-Prinzips. Doch es verband das mit dem Hinweis auf sein
Interesse an einer "friedlichen Regelung" der Taiwanfrage wie dem
Taiwan Relations Act von 1979, der unter anderem amerikanische
Waffenverkäufe an Taiwan vorsieht. Diese waren kürzlich
erneut Gegenstand chinesischer Beschwerden. Entgegen der
"Ein-China-Theorie" Pekings und im Bewusstsein seiner
wirtschaftlichen und politischen Qualifikationen überredete
Taiwan drei befreundete Staaten, einen vermutlich vergeblichen
Antrag auf Zulassung Taiwans zur UNO auf die Agenda der
nächsten UN-Generalversammlung zu stellen. Es fällt
Peking schwer zu erkennen, dass der Haltungswandel auf Taiwan durch
zwei fast gleichzeitige Entwicklungen bedingt ist. Einmal durch das
Altern der vor 55 Jahren mit Chiang Kai-shek übersiedelten
Festländer, in deren Führungspositionen einheimische
Taiwanesen nachgerückt sind. Deren inneres Verhältnis zu
China ist maßgeblich anders. Zweitens durch die
Demokratisierung, die den Separatisten die Bildung politischer
Parteien ermöglichte. Beides hatte den Effekt einer stillen,
aber realen Revolution, die das Identitätsgefühl der
Einwohner Taiwans stark geprägt hat. Pekings einfallslose und
selbstschädigende Drohpolitik hat bisher zumeist zugunsten der
Separatisten gewirkt. Eine konstruktive Taiwanpolitik wäre
bemüht, um Vertrauen zu werben und zu versuchen,
Zwischenlösungen wie zum Beispiel konföderative
Strukturen anzubieten. Doch Pekings Führungskräfte
scheinen hinsichtlich der Taiwan-Frage tief gespalten. Taiwans
Demokratie scheint gefestigt genug, um trotz innerer Turbulenzen
dem Druck aus Peking und Washington standzuhalten.
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