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Jeannette Goddar
Je mehr Jugendliche studieren, desto besser
für das Land
OECD-Studie zu Bildung: Deutschland schneidet
vor allem bei Erziehung kleinerer Kinder schlecht ab
Wer Andreas Schleicher je bei einer Präsentation erlebt
hat, bekommt einen fast sinnlichen Eindruck davon, was einem
Empiriker nackte Zahlen bedeuten können. Sachlich und
bestimmt, im Tonfall fast unterkühlt und dennoch engagiert,
sitzt der Bildungsforscher da, einen Zeigefinger stets auf der
Tastatur; und erläutert beliebig vielen Zuhörern
detailgetreu und nüchtern, Tabellen, Balken, Tortenstücke
und was man daraus lernen kann. Zuweilen wirft Schleicher bei
diesen Gelegenheiten nicht nur Ziffern und Zahlen an die Wand,
sondern auch ein Zitat, das den 40-jährigen Bildungsforscher
besser gar nicht charakterisieren könnte: "Ohne Daten sind Sie
nur noch jemand mit einer Meinung." In der vergangenen Woche legte
der OECD-Forscher und Pisa-Koordinator im Bundesbildungsministerium
in Berlin die internationale Vergleichsstudie "Bildung auf einen
Blick" vor. Einmal im Jahr veröffentlicht die Organisation
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung diesen
Bildungsvergleich, der sich vor allem auf Investitionen - also auf
die Frage, in welchem Land wie viel Geld wofür ausgegeben wird
- stützt.
Das zentrale Ergebnis, wenig überraschend, aber dennoch
für jeden Bildungsmenschen erschütternd: Deutschland
investiert weit unterdurchschnittlich in die Bildung der
nachwachsenden Generation: Während das Mittel der OECD-Staaten
die Ausgaben für Schulen zwischen 1995 und 2001 um 21 Prozent,
für Hochschulen um 30 Prozent gesteigert hat, brachte
Deutschland nur sechs beziehungsweise sieben Prozent mehr auf. Und
das, obwohl der Aufholbedarf enorm ist. Das durchschnittliche
OECD-Land investiert 12,7 Prozent seiner Gesamtausgaben in Bildung;
in Deutschland sind es seit dem Jahre 1995 unverändert
9,7.
Noch aufschlussreicher sind die Daten allerdings, wenn man sie
in einen Zusammenhang mit längst vorhandenem Material stellt:
Denn je öfter die OECD-Forscher nach 2001 und zuweilen
weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit ihre
Pisa-Datenmassen durchrechnen ließen, desto deutlicher wurde,
was schon die ersten Erkenntnisse aus der Leseleistungsstudie
hatten befürchten lassen: Jede andere Industrienation ist
besser im Stande, familiäre und soziale Verhältnisse,
Herkunft, Sozialstatus und Bildungsferne auszugleichen. Oder: Von
Japan bis zu den USA, von Neuseeland über Mexiko bis Korea
wird aus einem Kind, das mit sechs Geschwistern auf 20
Quadratmetern bei laufendem Fernseher und ohne Bücher
groß wird, eher ein gebildetes Wesen als in Deutschland.
Kein Wunder, geht aus den jüngsten OECD-Erkenntnissen
hervor: Kaum irgendwo wird dermaßen selektiv das meiste Geld
in ohnehin schon privilegierte Schüler gesteckt. In der
Grundschule liegt Deutschland mit jährlichen Ausgaben von 4237
Dollar 20 Prozent unter dem OECD-Durchschnitt. Je größer
die Kinder - vor allem aber: je höher der angestrebte
Bildungsabschluss wird - desto näher kommt man einem Wert, der
einer Wissensgesellschaft ansteht: Sowohl in der gymnasialen
Oberstufe als auch an den Universitäten liegt Deutschland mit
Ausgaben von über 10.000 Dollar plötzlich über dem
OECD-Mittel. Eine fatal falsche Weichenstellung, konstatiert
Andreas Schleicher: "Über die Verteilung der Gelder muss
dringend nachgedacht werden." In einem Alter, in dem restlos alle
Kinder Förderung beim Start in das selbstständige Leben
dringend nötig hätten, schlägt der Ressourcenmangel
unmittelbar auf die Schulbänke durch: Der statistische Sieben-
oder Achtjährige in Deutschland wird 162 Stunden im Jahr
weniger unterrichtet als der gleichaltrige OECD-Jugendliche im
Durchschnitt. In dem vergleichsweise raren Unterricht muss er sich
seinen Lehrer auch noch mit 18 Mitschülern teilen - das ist
OECD-weit Negativrekord. In der Kita, die zurzeit mit vereinten
Kräften von einer Verwahranstalt in eine Bildungseinrichtung
verwandelt werden soll, ist der Schlüssel noch schlechter: Ein
deutscher Erzieher kümmert sich um 24 Kinder, sein Kollege in
Island und Neuseeland um fünf; der Durchschnitt liegt bei 15.
Dazu kommt, dass deutsche Erzieher mit ihrer zwei- oder
dreijährigen Fachschulausbildung im internationalen Vergleich
schlecht ausgebildet sind; in den meisten anderen Ländern ist
der Hochschulbesuch Voraussetzung. Der Leiter des bayerischen
Staatsinstituts für Frühpädagogik, Wassilios
Fthenakis, fordert deswegen seit Jahren die Verlegung der
Ausbildung an Fachhochschulen und Universitäten. Das System
stehe auf dem Kopf, sagt Fthenakis: "Unsere besten Pädagogen
müssten für die Kleinsten da sein. Stattdessen machen
Erzieher eine Ausbildung von zweifelhafter Qualität,
Gymnasiallehrer studieren jahrelang und absolvieren ein
zweijähriges Referendariat. Das ist verkehrte Welt."
Apropos Hochschulbesuch: Die OECD-Forscher räumen auch mit
dem Vorurteil auf, dass akademische Bildung Luxus sei und ein Land
lieber bedarfsorientiert für bestimmte Berufe ausbilden solle:
Der Anteil der industriellen Arbeitsplätze für schlecht
Ausgebildete betrage ab dem Jahr 2010 nur noch zehn bis 20 Prozent,
rechnet Schleicher vor. Angesichts dessen sei das Postulat von
einer Inflation der hohen Abschlüsse ("Akademikerschwemme")
absurd. Schleicher: "Je mehr Leute studieren, desto besser."
Statistisch, hat die OECD errechnet, bringt jedes Jahr
zusätzliche Bildung für die Bevölkerung nämlich
drei bis sechs Prozent mehr Bruttoinlandsprodukt. "Ein hoher
Bildungsstand", so die OECD, sei ein "Indikator, dass die
Bevölkerung den Anforderungen der modernen Lebens- und
Arbeitswelt gewachsen ist."
In anderen Ländern hat man das offenbar verstanden: In
Australien nehmen aus deutscher Sicht unglaubliche 77 Prozent eines
Jahrgangs ein Studium auf; in Schweden sind es 75 Prozent und auch
in Island, Finnland und Polen nicht viel weniger. Das OECD-Mittel
liegt mit 51 Prozent noch knapp über der Hälfte.
Deutschland fällt mit 35 Prozent - allerdings bei steigender
Tendenz - dagegen weit ab und wird nur noch unterboten von der
Schweiz, Mexiko, Belgien, Österreich und der Tschechischen
Republik.
Nichts Positives zu vermelden also? Doch, ein bisschen.
Gewürdigt werden von der OECD das Programm zum Ausbau von
Ganztagsschulen, die Weiterentwicklung des Bafögs, die
Umstellung auf Master- und Bachelor-Abschlüsse im Rahmen des
Bologna-Prozesses und die vielen Naturwissenschaftler unter den
Studierenden. Der Grundirrtum der Deutschen aber bleibt bestehen:
Bildung ist wertvolles Humankapital, kein lästiger
Kostenfaktor. Jeannette Goddar
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