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Igal Avidan
Ein Leben wie auf einem Holzfloß
Die größte Synagoge Deutschlands
feiert ihr 100-jähriges Bestehen
Mit einer feierlichen Zeremonie, zur der ein
Präludium von Händel erklang, wurde am 4. September 1904,
am Vorabend des jüdischen Neujahrsfestes Rosh Hashana, die
Synagoge Rykestraße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg
eingeweiht. Erst dann folgte das jüdische Ma Towu-Gebet - "Wie
schön sind deine Zelte, Jakob", und sechs Thorarollen wurden
in die Synagoge hineingetragen. Die Zeremonie gestaltete Kantor
David Stabinski mit seiner schönen Tenorstimme, das Ewige
Licht entzündete Rabbiner Josef Eschelbacher, und die
Festpredigt hielt Rabbiner Adolf Rosenzweig. Am 12. September
feierte die Synagoge ihr 100-jähriges Bestehen.
Vor 100 Jahren war der "hohe Norden Berlins"
ein wachsendes Zentrum ärmerer, gläubiger,
osteuropäischer Juden. Die liberalen, wohlhabenden Juden
dagegen ließen sich im Westen der Stadt nieder.
Selbstverständlich mussten daher in der Rykestraße Frauen
auf der Empore Platz nehmen, die 1.000 Besucherinnen Platz bot.
Unten im Großen Saal des neo-romanischen Gebäudes
saßen bis zu 1.000 Männer. Die Trennung war aber nicht
sehr streng, sagt der Historiker Hermann Simon, Autor einer neuen
Studie über die Geschichte des Tempels: "Die Frauen waren
nicht abgeschottet. Sie konnten dem Gottesdienst folgen und, was
vielleicht noch wichtiger war, sie konnten die Männer unten
sehen und gesehen werden."
Jahrelang tobte ein heftiger Kampf um die
Einführung der Orgelmusik, wie es in liberalen Synagogen
bereits praktiziert wurde. Eine klare Mehrheit der in der Gegend
lebenden Juden sprach sich dafür aus, die Repräsentanten
der Gemeinde entschieden jedoch mit knapper Mehrheit dagegen. Die
Synagoge verfügte über einen Chor, aber nur einen
Knabenchor. Frauengesang ist für orthodoxe Männer ein
Tabu.
Das Backsteingebäude der Synagoge wurde
in einem Hinterhof errichtet, dem ein fünfgeschossiges
Vorderhaus mit Wohnungen und einer jüdischen Religionsschule
vorgelagert war. Dadurch sollten die Beter vor dem
Straßenlärm geschützt werden. Nur dank dieser Lage
blieb das Gotteshaus im Pogrom des 9. Novembers 1938 erhalten. Es
wurde in Brand gesteckt, das Feuer aber schnell gelöscht,
damit es nicht auf die umliegenden Wohngebäude übergriff.
Bereits zum Pessachfest im April 1939 wurde die Synagoge wieder in
Betrieb genommen, ein Jahr später aber wurde der Gottesdienst
verboten und das Haus zwangsweise an die Wehrmacht verkauft. Diese
nutzte den Tempel als Textillager.
Um ins Gotteshaus zu gelangen, muss man
normalerweise zurst durch ein schmiedeeisernes Tor. Doch das
lässt Hausmeister Hans-Jürgen Engler nur nach Genehmigung
zu. Sogar Shimon Peres ließ der Hausmeister einmal nicht
hinein, weil er ihn nicht kannte und keinen entsprechenden Hinweis
von der Sicherheit erhalten hatte. Auf der rechten Seite hinter dem
Tor findet sich noch ein original erhaltenes Handwaschbecken. Der
Gang von der Garderobe aus nach rechts führt in den
Großen Saal, der wie zur Entstehungszeit anmutet. Auch der
Thoraschrein ist echt, ebenso die Mosaikarbeiten und das
Gestühl. Baruch Poetke, einer der ältesten Beter,
erzählt von den Hohen Feiertagen im Jahr 1945, als dies die
einzige funktionierende Synagoge in Berlin war. Sie wurde nicht nur
von einheimischen Juden, sondern auch von Vertretern der vier
alliierten Mächte besucht. "Wir waren damals 30 bis 40
ältere Kinder und Jugendliche. Alle sind emigriert oder nach
Westdeutschland gegangen", sagt er.
1952 unterbrach die DDR-Regierung die
Telefonverbindungen zwischen Ost- und West-Berlin. Immer mehr Juden
flohen aus Angst vor dem zunehmenden stalinistischen Antisemitismus
in den Westen. 1953 spaltete sich die Berliner Jüdische
Gemeinde endgültig. Jakob Hein schreibt dazu in seinem
jüngst erschienen Buch "Vielleicht ist es sogar schön":
"So mussten Anfang der sechziger Jahre eine Vielzahl der
ostdeutschen jüdischen Gemeinden aufgegeben werden. Wichtige
religiöse Gebote wurden den ostdeutschen Verhältnissen
angepasst. Die Kulturkommission der jüdischen Gemeinde legte
beispielsweise fest, dass für das gemeinsame Gebet die
vorgeschriebene Mindestzahl von zehn jüdischen Männern
notwendig war, weil es unrealistisch war, mehr als drei oder vier
Männer versammeln zu können." Und an anderer Stelle
heißt es: "Die jüdische Gemeinde in Ostberlin war wie ein
kleines Holzfloß, das nach dem Untergang von Atlantis auf dem
Meer trieb."
Trotzdem wurde die Synagoge Rykestraße
unter dem Namen "Friedenstempel" instand gesetzt und blieb die
einzige Synagoge nicht nur in Ost-Berlin, sondern in der ganzen
DDR, in der zu jedem Shabbat ein Gottesdienst stattfand.
Dafür sorgte ab 1966 der Ökonom
Oljean Ingster, der nebenamtlich als Kantor und Prediger fungierte.
Er erlebte hautnah die zwiespältige Haltung der atheistischen
DDR zur jüdischen Gemeinde. "Damals arbeiteten die Betriebe am
Sonnabend. Das Staatssekretariat für Kirchenfragen selbst
musste intervenieren, damit ich frei bekomme. Ich musste allerdings
die Zeit nacharbeiten, jeden Tag eine Stunde. Schwierig wurde es,
wenn ein jüdischer Feiertag auf einen Wochentag fiel. Ich bat
um unbezahlten Urlaub, der wurde mit aber nicht gewährt, so
dass ich regulären Urlaub nehmen musste."
Trotz seines Engagements sank die Zahl der
Gemeindemitglieder von 3.000 im Jahre 1961 auf 240 vor der
Wiedervereinigung, von denen nur Einzelne zum Shabbat-Gottesdienst
kamen. Hilfe in religiösen Angelegenheiten erhielt die
Gemeinde von West-Berlin. Kantor Estrongo Nachama und Rabbiner
Ernst Stein betreuten inoffiziell die kleine Ost-Berliner Gemeinde.
"Bei jeder Beerdigung sagte man in der Gemeindeverwaltung
Ost-Berlins: ‚Macht euch keine Sorgen, Nachama kommt'",
erinnert sich Simon. Die seltenen Beschneidungen führte der
Arzt Peter Kirchner durch, der ab 1971 Gemeindevorsitzende war.
Koschere Lebensmittel für die Feiertage erhielt die Gemeinde
aus Ungarn, von wo auch regelmäßig ein jüdischer
Schlächter kam. Ingster glaubt, dass die DDR die Gemeinde am
Leben erhalten wollte, allerdings sollte sie auch nicht zu
groß sein. "Man hoffte, das wird sich von allein erledigen.
Dabei hat sich die DDR erledigt, und die Gemeinde ist
geblieben."
Erst seit Mitte der 80er-Jahre, als sich
prominente Ost-Berliner zunehmend als Teil der Opposition gegen das
Regime begriffen, erinnerten sich diese ihrer jüdischen
Wurzeln und strömten zu den Lesungen und Konzerten in der
Synagoge Rykestraße: Stefan Heym, Jurek Becker, Wolf Biermann
und Klaus Gysi. Als Staatssekretär für Kirchenfragen
hatte er 1987 die Einstellung des amerikanischen Rabbiners Isaac
Newman mit dem Ziel eingefädelt, den US-Besuch des Staatschefs
Erich Honecker zu erleichtern. Sogar amerikanische Zeitungen
versprach Gysi dem Rabbi, die Stasi sorgte für koschere Wurst,
und die DDR-Regierung sorgte für Gehalt, Miete,
Dienstmädchen und Chauffeur, schreibt der Historiker Michael
Wolfssohn. Plötzlich wurden die Vorstände der Gemeinde in
der Volkskammer mit Orden überschüttet, sagt Ingster,
doch die kleine Gemeinde war nur ein Spielball der großen
Politik.
Der pensionierte Rabbiner kümmerte sich
aber weniger um die DDR-Gemeinden, sondern um eine einheimische
Jüdin, Eva Grünstein, Tochter des Vize-Innenministers.
Nachdem er in der Rykestraße spontan eine Frau zur Thoralesung
aufrief, probte der Gemeindevorstand den Aufstand und entließ
den Rabbi, der im April 1988 die DDR verließ. Allerdings erst,
nachdem er in der US-Botschaft seine neue Freundin heiratete und
mit in die Freiheit nahm. Das Weiße Haus blieb Honecker
für immer versperrt.
Mit der Wiedervereinigung erhielt die
große Synagoge Polizeischutz. Im Polizeistaat DDR war dies
nicht notwendig gewesen. In das Vorderhaus zog vor viereinhalb
Jahren die streng orthodoxe Religionsschule "Beit Midrasch
D'Berlin" ein, die mit der Synagoge nichts im Sinne hat. "Zwischen
der sehr aktiven Schule und dem noch im Dornröschenschlaf
befindlichen Tempel liegen Welten", sagt ein regelmäßiger
Synagogenbesucher. "Die Religionsschüler grüßen die
Beter der Synagoge nicht einmal, weil sie ihnen nicht fromm genug
vorkommen."
Zumindest zum 100. Jubiläumsakt war die
Synagoge bis auf den letzten Platz besetzt. Im Anwesenheit von
Bundespräsident Horst Köhler und vor etwa 500 Gästen
sagte Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit: "Jüdisches
Leben hat in Berlin wieder eine Zukunft. Darauf sind wir
stolz."
Dann brachte der afro-amerikanische
jüdische Kantor Joshua Nelson den Saal zum Hüftschwingen,
und sogar die Prominenz klatschte und stampfte mit den
Füßen zu den ansteckenden Gospelrhythmen. Da der
umstrittene Kunstsammler Friedrich Christian Flick, Enkel des
NS-Kriegsverbrechers, sein Nichtkommen rechtzeitig angekündigt
hatte, verlief die Zeremonie ohne Zwischenfälle. Nachdem die
Betergemeinschaft Kantor Ingster für sein Engagement gefeiert
hatte, gingen die Gäste in den Hof hinaus. Sie hatten die
mahnenden Worte des Rabbiners Stein im Ohr: "Ohne eine
selbstbewusste, sich regenerierende Gemeinde wird dies ein leeres
Haus sein."
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