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Josef-Thomas Göller
Zwischen Autonomiestreben und islamistischem
Terror
Ursachen und Hintergründe des
Tschetschenienkonfliktes
Fast genau drei Jahre nach dem Terrorangriff
fanatischer Islamisten aus der arabischen Welt auf die USA steht
nun auch Russland unter dem Schock eines nihilistischen
Terroranschlags. Die Reaktion des russischen Präsidenten
Wladimir Putin lautet genauso wie die seines amerikanischen
Amtskollegen: Jetzt erfolgt die totale Kampfansage an - ja, an wen
eigentlich? An die Terroristen natürlich. Aber - es sind nicht
die gleichen, oder doch?
Vor dem Überfall der tschetschenischen
Terroristen auf die Schule in Beslan am 1. September glaubte Putin,
in Opposition zur Art und Weise der Terroristenbekämpfung der
USA stehen zu können. Jetzt die totale Kehrtwende.
Ähnlich wie Präsident Bush kündigt er als erste
Konsequenz aus dem Grauen von Beslan, das sich mittels
Fernsehkameras genauso wie das des 11. Septembers vor der ganzen
Welt ausbreitete, ein "hartes Vorgehen" an - als ob die russischen
Truppen nicht schon seit Oktober 1994 in Tschetschenien brutal und
rücksichtslos durchgreifen würden.
Und: Der russische Präsident nutzte den
Anschlag, um seine eigene Machtposition hin zum "Alleinherrscher
aller Reussen" auszubauen. Das ist seine Antwort: Mit einer weit
reichenden Machtkonzentration will er seinen Einfluss auf die
russischen Teilrepubliken ausdehnen und kaltschnäuzig die
zaghaften Ansätze von Demokratie im Land beschneiden. Nach
Putins Auffassung hat der Weg hin zur Demokratie Russland sein
Dilemma mit den tschetschenischen Terroristen eingebrockt, nicht
das Gegenteil. Er will seine Änderungsvorschläge bis zum
Jahresende der Duma zur Abstimmung vorlegen. Die Verantwortlichen
der Regionen und Republiken sollen künftig von ihm
vorgeschlagen und dann erst von den Regionalparlamenten
gewählt werden. Bislang wurden Regionalgouverneure und
Präsidenten der Republiken frei und direkt
gewählt.
Putin will zudem eine Änderung des
Wahlrechts. Künftig sollen alle 450 Sitze in der Duma, dem
russischen Parlament, über Parteilisten vergeben werden;
bislang wird die Hälfte der Abgeordneten nach
Mehrheitswahlrecht bestimmt. Auf diesem Weg gelangten auch
unabhängige Politiker ins russische Parlament. Künftig
wohl nicht mehr.
Mit Sicherheit braucht man für
tschetschenische "Freiheitskämpfer" keine gefühlsduselige
Sympathie aufzubringen, die Schulkinder für ihre politischen
Ziele ermorden, Flugzeuge und Theater in die Luft sprengen. Genau
so aber, wie der islamische Terror gegen die USA aus
europäischer Sicht als Ergebnis der verfehlten amerikanischen
Nahostpolitik verstanden wird, gibt es für die
tschetschenische Brutalität einen Hintergrund, der auf
unbewältigtes russisches Großmachtdenken und
menschenverachtende Unterdrückung im Stil alten Sowjetdenkens
zurückgeführt werden kann. Zu offensichtlich ist, dass
der russische Präsident, jetzt, da es ihm in den Kram passt,
auf den Zug des internationalen Kampfes gegen den islamistischen
Terrorismus aufspringen will, um von seinem eigenen Versagen
abzulenken. Moskau lässt verbreiten, der Überfall auf die
Schule im südlichen Russland sei letztendlich das Werk der
internationalen Terror-Organisation Al Qaida, die, das stimmt, der
ganzen nicht-islamischen Welt den Krieg erklärt hat. Richtig
ist zweifellos, dass Tschetschenen seit dem Krieg gegen die Russen
in Afghanistan (1979 - 1989) im engen Kontakt zum Al Qaida-Chef Bin
Laden stehen. Viele haben in Afghanistan gegen die Russen
gekämpft, sind dort zu Terroristen ausgebildet worden und
haben sich international als brutale Islamisten-Söldner
hervorgetan, insbesondere in den 90er-Jahren in
Algerien.
Dennoch kann die Wahrheit darüber, warum
die Tschetschenen Russland in zunehmend aggressiverer Weise
zusetzen, nicht auf Al Qaida als omnipotente Gefahr verengt werden.
Wer dies tut, geht Bin Laden voll auf dem Leim. Der nämlich
ist es, der dieses Bild gerne zeichnen möchte: das Aufstehen
der moslemischen Völker gegen alle
Ungläubigen.
Überspringt man einmal die
Kolonialpolitik des Zaren- und Sowjetreiches in Tschetschenien seit
1818, lässt sich der derzeitige Konflikt auf den Herbst 1991
zurückführen, als die Tschetschenen einseitig ihre
Unabhängigkeit gegenüber Moskau erklärten. Sie
wollten die Gunst der Stunde nutzen und das ihnen nur theoretisch
laut sowjetischer Verfassung zugesicherte Recht des Austrittes aus
der UdSSR wahrnehmen.
Verfolgt und deportiert
Der Wunsch nach Freiheit ist gerade bei den
moslemischen Tschetschenen verständlich, da sie als ethnische
Gruppe - und zudem noch als Moslems - seit der Zarenzeit grausam
misshandelt wurden.
1944, als sich der Sieg der Sowjetunion
über die Wehrmacht anbahnte, beschuldigte Stalin völlig
irrational die Tschetschenen ebenso wie eine Reihe anderer
unliebsamer "Volksgruppen" der Kollaboration mit den Deutschen und
deportierte eine halbe Million von ihnen in die Weiten Sibiriens.
250.000 Menschen starben auf dem Weg dahin, erfroren, verhungerten.
Noch einmal rund die Hälfte der Übrigen kam in den
folgenden Jahren in der Eiseskälte West-Sibiriens ums Leben.
Erst 1956 durften die Überlebenden, ein paar Zehntausende,
nach Tschetschenien zurückkehren.
Im August 1991, als kommunistische Hardliner
in Moskau putschten, machte erneut das Gerücht einer
Deportation von Tschetschenen den Umlauf, diesmal, weil sie die
Perestroika unterstützt hatten. Umgehend jagten die
Tschetschenen ihre von den Sowjets eingesetzten Volksvertreter aus
dem Amt und wählten einen eigenen Präsidenten.
Der Kreml, plötzlich konfrontiert mit
einem Auseinanderbrechen der gesamten Sowjetunion, gewährte
zwar einer Reihe seiner Republiken den Austritt aus der Union,
nicht aber den Tschetschenen. Denn dort liegt Erdöl, und eine
wichtige Öl-Pipline führt genau durch dieses Gebiet. Fast
drei Jahre lang ignorierte der damalige russische Präsident
Boris Jelzin die Unabhängigkeit der Muslime im Südosten.
Dann entschloss er sich im Oktober 1994 zu einer lächerlichen
Aktion. Im Auftrag des russischen Geheimdienstes versuchten
moskautreue Tschetschenen die Separatisten-Regierung gewaltsam zu
entfernen. Doch der Coup flog auf. Daraufhin griff Jelzin zur rohen
Gewalt, denn sein Verteidigungsminister hatte ihm versprochen, die
tschetschenische Hauptstadt Grosny binnen zwei Stunden einzunehmen.
Der erste Tschetschenien-Krieg brach am 11. Dezember 1994 aus und
zog sich nicht zwei Stunden, sondern zwei Jahre lang hin. Er
kostete nach offiziellen Angaben 80.000 Tschetschenen und 4.000
russische Soldaten. Die russischen Truppen schossen in dieser Zeit
Grosny zur Ruine zusammen, vergewaltigten Frauen, ermordeten sie
vor den Augen ihrer Kinder, verübten Verbrechen an der
Zivilbevölkerung, die jeglicher Beschreibung
spotten.
1996 gaben die Russen auf. Denn im Juni 1995
schlugen erstmals tschetschenische Terroristen in Russland zu. Sie
brachten ein Krankenhaus in der Kleinstadt Budjonnowsk in ihre
Gewalt und hielten die Patienten, darunter Mütter mit
Neugeborenen, als Geiseln fest. Moskau einigte sich damals
friedlich mit den Geiselnehmern und begann unmittelbar danach
Verhandlungen mit den Separatisten. Als die Russen abzogen,
hinterließen sie den Tschetschenen zwar de facto Autonomie,
aber auch ein nahezu völlig verwüstetes Land, in dem es
keine Infrastruktur mehr gab. In solch einem Klima wächst
Kriminalität, übernehmen Warlords die
Führung.
Und der Westen, auf den die Tschetschenen
hoffnungsvoll blickten, sah unbeteiligt zu. Da gab es ein bisschen
UN-Hilfe hier und Diskussionsrunden deutscher Stiftungen in Bad
Honnef oder Bonn dort, zu denen "Betroffene" als Redner eingeladen
wurden. Arabische "Freunde" der Tschetschenen, die in Afghanistan
gekämpft hatten, nutzten das Vakuum und brachten Geld und
Hoffnung mit: Hoffnung für junge Männer und Frauen, sich
durch ein Selbstmordattentat einen Platz im Paradies zu sichern.
Die Tschetschenen hatten plötzlich Verbündete. Am
Beispiel des Rebellenführers Schamil Bassajew lässt sich
diese Entwicklung am besten darstellen. Bassajew, einst Mitglied
des berüchtigten Geheimdienstes KGB, focht noch zu Beginn der
90er-Jahre im Abchasien-Krieg an der Seite der Russen gegen
Georgien.
Islamischer Che Guevara
In den ersten Tschetschenien-Krieg trat er
dann als "nationaler Patriot" an der Seite seiner Landsleute ein
und kandidierte 1997 für die Präsidentschaft. Nachdem er
von dem moderaten Separatisten Aslan Maschadow in den
Präsidentschaftswahlen geschlagen wurde, diente sich Bassajew
den noch zaghaft in Tschetschenien agierenden Islamisten an und
bezeichnet sich seither als "Islamischer Che Guevara". Damit
sicherte er sich finanzielle und logistische Unterstützung Bin
Ladens und begann Präsident Maschadow
bürgerkriegsähnlich zuzusetzen. Der war kaum in der Lage,
über Grosny hinaus zu regieren.
Auf Druck der Fundamentalisten im Hintergrund
führte Tschetschenien 1999 das islamische Recht ein, danach
eröffneten radikale tschetschenische Islamisten unter
Führung von Bassajew mit Bombenattentaten in Moskau den
Zweiten Tschetschenien-Krieg. Außerdem bezogen sie die
Nachbarprovinz Dagestan mit in ihrem Kampf gegen die russische
Zentralregierung ein. Moskaus Reaktion auf diese Herausforderung
erfolgte im alten Sowjetstil. Erneut bombardierten die Russen
Grosny und starteten eine Großinvasion. Seither kämpfen
von den kaukasischen Bergen aus Islamisten und Separatisten wieder
gemeinsam gegen die Besatzer. Die Grenzen zwischen beiden
tschetschenischen Gruppen sind fließend. Beide verüben
seit 1999 in immer kürzeren Abständen
Terroranschläge im russischen Kernland, bevorzugt in Moskau.
Doch sie bekämpfen sich auch untereinander, wie die Ermordung
des Präsidenten Kadyrow im Mai 2004 beweist.
Den Tschetschenen als Volk geht es einzig um
ihre staatliche Unabhängigkeit; der Autonomiestatus unter
Gängelung Moskaus genügt ihnen nicht. Diese
Bevölkerungsmehrheit kann man als "moderate" Separatisten
bezeichnen, die auf den Westen als Vorbild und potentiellen
Verbündeten blicken. Handelt die westliche Wertegemeinschaft
indes nicht, ist abzusehen, dass das
Unabhängigkeitsbedüfnis der Tschetschenen endgültig
von Islamisten gekidnapped wird.
Anssi Kullberg, der finnische Experte
für islamistischen Terrorismus, verweist auf ein Beispiel, wie
den Islamisten der Wind aus den Segeln genommen werden kann: In den
Balkan-Kriegen der späten 90er-Jahre formierte sich aus der
örtlichen Moslembruderschaft die "Befreiungsarmee für das
Kosovo", UÇK. Als jedoch radikale Islamisten aus den
arabischen Staaten versuchten, die UCK zu infiltrieren, hat der
Westen dieses Bemühen zunichte gemacht, indem er sich
rechtzeitig in den Kosovo-Konflikt einbrachte: als
großangelegte Nato-Aktion. Arabische Agenten, die in Bosnien
und dem albanischen Bürgerkrieg 1997 sowie im Kosovo 1998/99
anti-westliche und islamistische Propaganda betrieben, wurden von
der NATO schnell des Landes verwiesen. Auch sprang die
Bevölkerung nicht länger auf das Werben der Islamisten
an, sobald westliche Hilfe ins Land floss.
Gleiches könnte in Tschetschenien
gelingen. Leider aber insistiert Putin, der paradoxer Weise 2000
zum Präsidenten gewählt wurde, weil er die Zerschlagung
tschetschenischer Terroristen versprochen hatte, darauf, in
völlig veralteten Mustern dem Autonomiewillen der
Tschetschenen zu begegnen.
Mit seiner Verweigerung der
Unabhängigkeit sowie der Fortsetzung der Brutalität
russischer Truppen gegenüber der Bevölkerung schürt
er das Abdriften dieser kaukasischen Moslems ins radikale Lager der
Islamisten, die keine Hemmung haben, ihren
"Unabhängigkeitskampf" in die ganze Welt zu tragen. Noch
bomben die Tschetschenen nur in Moskau und anderen russischen
Städten.
Europa muss Putin und den Tschetschenen
helfen. Andernfalls könnten Paris und Berlin, das wie
Frankreich ein Kopftuchverbot für den öffentlichen Dienst
einführt, bluten, weil Moskau dem Begehren eines Volkes nach
Unabhängigkeit kein Gehör schenken will. Der
französische Jurist für Terrorismusbekämpfung,
Richter Jean-Louis Bruguiere, äußerte kürzlich im
"New Yorker", Tschetschenen, die mit Al Qaida zusammenarbeiten,
seien in der Lage, mittels russischer Technologie Satelliten zu
stören und auf diese Weise neue Terroranschläge zu
verüben - weltweit.
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