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Robert Luchs
Die diffuse Angst vor einem neuen Jahr 1683
Wie europäisch ist die Türkei und wie
europäisch kann sie werden?
Es war einer dieser Tage, an dem Politik im Hin-terzimmer
gemacht wird. EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen und
der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan
trafen sich in einem Brüsseler Hotel, sozusagen auf neutralem
Boden, um die letzten Hindernisse auf dem Weg nach Europa zu
beseitigen. Erdogan wollte zu Hause den Eindruck vermeiden, er
krieche in Brüssel zu Kreuze. Der Streit hatte sich zwei
Wochen vor der Empfehlung der EU-Kommission zur Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei an dem so genannten
Ehebruch-Paragrafen entzündet, den die Regierung Erdogan in
der neuen Strafrechtsreform enthalten wissen wollte. Für
außereheliche Seitensprünge sollten bis zu drei Jahren
Haft drohen.
Als der türkische Premier versprach, den Paragra-fen aus
der Reform auszuklammern, war der Weg frei: Verheugen sicherte der
Türkei zu, sie müsse nun keine zusätzlichen
Bedingungen erfüllen, um der Brüsseler Behörde ihre
Empfehlung zu ermöglichen. Das Parlament in Ankara brachte
eine umfassende Strafrechtsreform auf den Weg, mit deren Hilfe die
Meinungsfreiheit gestärkt und Folter, Korruption, Menschen-
und Drogenhandel bekämpft werden sollen.
Ob der Türkei ein Datum für den Verhandlungsbe-ginn
genannt wird, darüber wird der Rat der nun-mehr 25 Staats- und
Regierungschefs eine Woche vor Weihnachten entscheiden. Es bestehen
kaum mehr Zweifel, dass das Ergebnis positiv für die
Türkei ausfällt. Letztlich haben damit diejenigen Recht
behalten, die von Anfang an davor gewarnt hatten, den
"Ehebruch-Streit" überzubewerten. Die Gegner eines
Türkei-Beitritts wiederum sehen ganz andere Probleme auf die
Gemeinschaft zukommen. Die rückständige Landwirtschaft
beispielsweise erzwinge Milliardenhilfe, egal, welche
Transferhilfen letzten Endes ausgehandelt werden. Andere Bedenken
reichen von der politischen Überforderung der Gemeinschaft bis
hin zur Gefahr einer Völkerwanderung.
Erweiterungskommissar Verheugen, der sich in den vergangenen
Monaten außerordentlich stark für die Interessen der
Türkei eingebracht hat, ohne dabei deren Schwachstellen zu
übersehen, nennt das Szenario eines möglichen
"Zusammenpralls der Kulturen" deutlich beim Namen. Schwerer wiegt
für ihn die Nagelprobe eines EU-Beitritts für die
Beziehungen zwischen den westlichen Demokratien und der islamischen
Welt und damit eines gedeihlichen Miteinanders. Eine Ablehnung der
Türkei würde, so Verheugen, in der islamischen Welt als
Zurückweisung eines muslimisch geprägten Landes
interpretiert.
Beitrittsgegner Frits Bolkestein sieht das ganz an-ders und
warnt vor einer steigenden Zuwanderung aus islamischen
Ländern. Der niederländische EU-Kommissar sagte
kürzlich, der Beitritt der 83 Millionen Türken werde die
Europäische Union stark verändern. Die EU könne dann
ihre bisherige Agrar- und Regionspolitik nicht einfach fortsetzen
wie bisher. "Europa würde implodieren." Wer die Türkei
akzeptiere, müsse auch die Ukraine und Weißrussland
aufnehmen, seien diese Länder doch europäischer als die
Türkei. Am Ende dieses Jahrhunderts werde Europa islamisch
sein, meinte Bolkestein und erinnerte an die türkische
Belagerung Wiens. Sollte die Islamisierung tatsächlich so
rasant zunehmen, "wäre die Befreiung Wiens 1683 vergebens
gewesen".
Auch der Europa-Experte Werner Weidenfeld warnt vor den Folgen
einer "radikalen Modernisierung" für die türkische
Gesellschaft. Im Iran habe ein ähnlicher Prozess zur
Islamisierung geführt. Als Widerspruch seiner europa-
freundlichen Politik sehen denn auch Beobachter Erdogans
Vorstöße zur Lockerung des Kopftuchverbots oder den
Beschluss des türkischen Parlaments, den Abgängern
islamischer Religionsschulen den Zugang zu Hochschulen zu
gewähren. Auch nach Ansicht des CDU-Politikers Jürgen
Rüttgers gehöre ein islamischer Staat nicht in die
Europäische Union, da "unser Kontinent nur als eine
Wertegemeinschaft Bestand haben" wird.
Kritikern, wie Agrar-Kommissar Franz Fischler, die durch den
Türkei-Beitritt eine finanzielle Überforderung der EU
befürchten, entgegnet die Bundesregierung, die Türkei
werde prozentual viel weniger Geld erhalten, als jedes frühere
Neumitglied. Dies sei eine der Voraussetzungen für die
konkreten Verhandlungen. Fischler hatte von 45 Milliarden Euro
zusätzlichen Kosten für die Union gesprochen, die noch an
den Belastungen durch die kürzlich aufgenommenen Mitglieder
stöhne. Demgegenüber verweisen deutsche
Wirtschaftsverbände auf die gewaltigen Absatzchancen, die der
türkische Markt biete.
Dass die EU wirtschaftlich von einem Beitritt seines Landes
profitieren könne, davon ist auch der türkische
Botschafter bei der EU, Oguz Demiralp, überzeugt.
Agrarbeihilfen werde es bis zu ihrem Beitritt ohnehin nicht mehr in
nennenswertem Umfang geben, und die Hilfe aus Brüssel für
arme Regionen sei begrenzt. Außerdem rechne Ankara mit
Beschränkungen für die Freizügigkeit von
Arbeitskräften, wie sie schon beim Beitritt Polens zur Union
vereinbart wurden. Die türkische Regierung erwarte sogar eine
Zuwanderung aus anderen EU-Ländern in die Türkei, wenn
sich dort die Lebensbedingungen verbesserten.
Bei der Frage der politischen Handlungsfähigkeit der EU
nach einem Beitritt der Türken gehen die Meinungen ebenfalls
weit auseinander. Die EU laufe in Gefahr, sich auf Kleinasien mit
all seinen drohenden Randstaatenproblemen zu überdehnen, sagen
die einen. Eine gemeinsame Außenpolitik der EU aus einem Guss,
an der in Brüssel seit Jahren vergebens gearbeitet wird, werde
durch eine Vollmitgliedschaft der Türkei nahezu unmöglich
gemacht, warnen CDU und CSU. Befürworter sagen hingegen,
gerade die neuen Grenzen der EU bis hin nach Asien eröffneten
den Europäern größere Gestaltungsmöglichkeiten
und mehr Einfluss. Zudem sei die Vorbildfunktion der Türkei
für andere muslimische Staaten ein wichtiger Aspekt für
die Aufnahme des Landes in die EU. Mit deren Beitritt wird ohnehin
frühestens in zehn Jahren gerechnet.
Mit der äußerst schleppenden Umsetzung beschlossener
Reformen verhält sich die Türkei allerdings alles andere
als vorbildlich. Den christlichen Kirchen wurden zwar Rechte
eingeräumt, doch lasse, so räumte Verheugen bei seinem
jüngsten Besuch in der Türkei ein, "in Bezug auf die
Religionsfreiheit die gesetzgeberische Aktivität der Regierung
zu wünschen übrig". Zwar wurden unter Erdogan die Rechte
der Kurden gestärkt, doch ist dies nur ein Anfang in dem immer
noch von Gewalt geprägten Verhältnis zu der Minderheit.
Erst kürzlich kamen wieder mehrere Kurden bei Gefechten mit
Soldaten ums Leben. Westliche Beobachter haben wiederholt
gefordert, die kurdische Sprache häufiger im Unterricht und in
den Medien zu verwenden.
Auch wenn die Regierung Erdogan angekündigt hat, Folterern
das Handwerk zu legen, so zeichnen nicht nur
Menschenrechtsorganisationen ein anderes Bild. Das
Antifolter-Komitee des Europarats sieht zwar erhebliche
Fortschritte bei der Bekämpfung von Folter und Misshandlung,
doch komme es in den Gefängnissen der Türkei weiterhin zu
schweren Menschenrechtsverletzungen. Ähnliches hörte
Kommissar Verheugen von der türkischen Menschenrechtsstiftung.
Amnesty international fordert deshalb mehr staatlichen Schutz
für drangsalierte Frauen; weit über ein Drittel aller
türkischen Frauen seien weiterhin familiärer Gewalt
ausgesetzt. Sie würden zwangsverheiratet, misshandelt und
vergewaltigt.
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