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Detlev Lücke
Genauer Chronist mit poetischem Gemüt
Die spannende Chronik der Bundesrepublik
Deutschland als Lebensgeschichte des Günter Gaus
Günter Gaus, der langjährige
Ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der DDR,
ist Anfang Mai dieses Jahres an den Folgen einer schweren Operation
verstorben. Am Vorabend dieses Eingriffs saß er noch am
Manuskript seiner Autobiographie, die nun bedauerlicherweise
unvollendet bleiben muss. Mit seinen lebhaften, genauen
Erinnerungen kam der Autor nur bis zu seinem Antritt im
Bundeskanzleramt 1974. Sein Buch, ein Abschied vom Leben,
lässt nach dem Gelesenen diese Leerstelle als besonders
schmerzhaft erscheinen.
Das erste Kapitel des Buches beginnt mit dem
Ende der Bestrahlungen gegen seinen Krebs im Mai 2000, von denen er
43 ertragen musste. Gaus, Politiker, aber vor allem Autor,
beschreibt die Behandlung minutiös. Diese Einführung in
ein reiches, von Konflikten nicht verschontes Leben, schildert das
Erschrecken des Autors darüber, dass es endlich sei. Auch
für ihn. Ich erinnere mich, dass er mir gegenüber dieses
Ausgeliefertsein mit dem Satz zu überspielen suchte: "Ich
wusste ja bis jetzt gar nicht, ob sich Arzt mit tz schreibt oder
nicht." Im Buch heißt es: "Obwohl ich von einer
lebensbedrohenden Krankheit befallen war und mir an einer Gesundung
sehr gelegen, blieb mein Interesse an medizinischen Kenntnissen
gering. Ich entwickelte auch jetzt kein Bedürfnis, mitreden zu
können mit den Fachärzten, Hämatologen und
Radiologen, mit denen ich zehn Monate eng, sozusagen auf Leben und
Tod, verbunden war." Er musste es auch in den Jahren darauf sein,
mehr als ihm lieb war.
Vielleicht erklärt sich diese Haltung
aus dem Gefühl des Davongekommenseins, das seinen
Geburtsjahrgang 1929 prägte. Es war das Glück,
überlebt zu haben, das diesen jungen Menschen, von denen viele
im Zweiten Weltkrieg verheizt wurden, ein ausreichendes
Startkapital für die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost
und West spendierte. 1929 sind unter anderem auch Christa Wolf und
Wolfgang Ullmann zur Welt gekommen, mit denen Günter Gaus
Freundschaft und Zusammenarbeit verband. Wer diese Vitalität
nicht begreift, sollte auf den Soldatenfriedhof Halbe bei Berlin
fahren und die Gräber von tausenden jungen Leuten besuchen,
die mit 16 Jahren im Kampf gegen die Rote Armee sinnlos geopfert
wurden.
Entschwundene Welt
Günter Gaus beschreibt eine
entschwundene Welt, es ist die Welt der Kindheit in der
Vorkriegszeit unter der Fahne des Hakenkreuzes. Er schildert seine
Wurzeln, die Herkunft aus Braunschweigischen Bauernfamilien, aus
denen mancher noch mit den Welfen sympathisiert, die als
Könige von Hannover 1866 den Preußen unterlagen. Seine
Eltern betrieben einen florierenden Obst- und Gemüsehandel,
der im Laufe der Jahre immer besser lief. Gezeichnet wird dieses
Zeitbild aus Fotografien, Gegenständen und Anekdoten, die
typisch sind für Vertreter aus dem Kleinbürgertum, als
dieser Begriff noch kein Schimpfwort war. Günter Gaus legt
seine Erinnerungen weitgehend chronologisch an, was den Vorteil
hat, die Entwicklung eines Menschen in Brüchen wie Konstanten
zu verfolgen.
Zu Beginn des Krieges will der
Halbwüchsige "aktiver Offizier" werden, wenn möglich bei
der Marine. Sein Vater, der in der Blutmühle Verdun
kämpfte, ließ ihn gewähren. "Vermutlich entwaffnete
ihn das anhaltend Kindliche im Wesen des Halbwüchsigen, das um
so mehr ins Auge sprang, je bedrückender die Zeitläufte
wurden."
Schließlich verschlägt es Gaus mit
seinen Kameraden vom Gymnasium ins holländische Zwolle, wo sie
im Herbst 1944 Gräben gegen die nahegerückte
Invasionsfront schaufeln müssen. An einem sonnigen
Septembertag sehen sie über sich die größte Armada
zwei- und viermotoriger amerikanischer Flugzeuge sowie hunderter
Lastensegler. Die Armada fliegt gen Arnheim, wo sie von einer
SS-Division blutig aufgerieben wird. Das Kriegsende erlebt der
Autor in seiner zerbombten Heimatstadt. Er wird sein schuldloses
Überleben später die "Gnade der späten Geburt"
nennen, ein Begriff, der von manchem als willkommene Ausrede
eigenen Versagens "missverstanden" werden wird.
Die Autobiographie von Günter Gaus ist
eine präzise Beschreibung der Entstehung Westdeutschlands, des
Hineinwachsens in die Bundesrepublik. Die Radtouren mit
Schulfreunden ins Mainfränkische, die Tanzstunden in betont
bürgerlichen Formen und zu kurzen Anzugshosen, der Besuch des
Schwarzmarktes für eine Stange Zigaretten. "Der
Erfahrungssturm, der sich aus den noch ganz lebendigen Erinnerungen
an den Krieg erhob, wurde bald gebrochen von dem herrschenden
Verlangen nach Privatheit und persönlichem
Vorankommen."
In diesem schonenden Umgang des
pluralistischen Systems mit den Menschen erkennt er den
größten Vorzug dieser Art von Demokratie. Mit der stetig
wachsenden Wirtschaftskraft Westdeutschlands "wuchs das Gefühl
unter den Bundesbürgern, diesmal als Deutsche auf der
richtigen, der stärkeren, der überlegenden Seite zu
sein". Gaus erklärt aus dem Drang der kleinen Leute ans
"Tonangebende" ihr "Menschenrecht auf Anpassung". Eine Formel, die
ihm vor allem von Bürgerrechtlern aus der DDR später
übel genommen werden sollte.
Nach einem kurzen Studium der Germanistik und
Kunstgeschichte in München, beginnt er 1950 seine
Grundausbildung als Redakteur an einer Journalistenschule der
bayerischen Hauptstadt, die vom damaligen Chefredakteur der
"Süddeutschen Zeitung", Werner Friedmann, geleitet wird. Gaus
bezeichnet ihn als einen Glücksritter, der sich in Kleidung
und Habitus den Offiziersclubs der Amerikaner anzupassen suchte.
Der junge Mann trägt seinerseits Kreppschuhe, wird
Lokalreporter bei der SZ, schreibt außenpolitische Kommentare
und lernt Leute kennen und schätzen wie den Chefreporter Hans
Ulrich Kempski.
Ein Autor imponiert ihm besonders in seinen
maßgeschneiderten Anzügen und handgenähten Schuhen,
ein Emigrant mit ungarischem Akzent: Hans Habe. "Ein Herr von einem
anderen Stern" mit "höchst fragwürdigem Charakter".
Günter Gaus zitiert den Schriftsteller Robert Neumann, Habes
Nachbar am Lago Maggiore: "Es stinkt der See, die Luft ist rein,
Hans Habe muss ertrunken sein."
Von solcher Freude an Beobachtungen und
Merkwürdigkeiten lebt das Buch. Gaus zitiert Chiffren, die
einen Menschen charakterisieren. Den "Spiegel"-Chef Rudolf Augstein
beispielsweise, der ihm telefonisch ein Stellenangebot mit dem Satz
offeriert, er fühle sich so einsam. Der mit seinen Kollegen
"auf einen Löffel Suppe" essen ging und häufig auf deren
Tellern herumräuberte. Der Herbeitelefonierte wird, nachdem er
Direktor für Hörfunk- und Fernsehen beim Südwestfunk
war, Chefredakteur des Hamburger Nachrichtenmagazins. Mit seinen
Fernsehinterviews zur Person, in denen er Politiker, Schriftsteller
und Künstler befragte, hat er in Jahrzehnten ein Archiv der
Worte und Bilder deutscher Nachkriegsgeschichte
geschaffen.
In seiner Biographie verrät er, wie
Adenauer in dem Gespräch mit ihm, von dem man stets nur den
Hinterkopf sah, einen halbminütigen Blackout hatte, der
herausgeschnitten wurde. Fairness war ein Prinzip des Interviewers,
der Sternstunden des Fernsehens im Gedankenaustausch mit Hannah
Arendt, Rudi Dutschke, Gustaf Gründgens schuf.
Mit Wehner auf Nordlandfahrt
Ein Extra-Kapitel widmet Günter Gaus dem
SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner, mit dem ihn zeitweise
eine enge Freundschaft verband. Kennengelernt hatten sie sich bei
einem Essen. Gaus machte einige abfällige Bemerkungen
über den restaurativen Charakter der Bundesrepublik. Wehner
fuhr ihn an: "Mein Herr, wir lassen uns diesen Staat nicht
vermiesen. Wir lassen uns nicht wieder von diesem Staat trennen,
mein Herr. Es ist auch unser Staat." Aus dieser verletzenden,
verwundeten Replik erwuchs gegenseitiger Respekt, ein TV-Interview
mit dem vielverdächtigten Wehner wurde verabredet ("Das trauen
Sie sich ja doch nicht"), die Familien verbrachten gemeinsame
Urlaube auf Öland.
Günter Gaus, dieser pedantische Chronist
mit dem poetischen Gemüt, hat seine Aufzeichnungen mit dem
Eintritt ins Kanzleramt beenden müssen. Kein Wort mehr
über seine Tätigkeit als Ständiger Vertreter
außer den Vorbemerkungen im ersten Kapitel. Manch Zeitzeuge
mag aufatmen, aber selten hat man ein Buch derart deprimiert aus
der Hand gelegt, weil es keine Fortsetzung mehr geben wird. In den
letzten Jahren war der Verstorbene Herausgeber der Ost-West-Zeitung
"Freitag" und oft hat er seinen Standpunkt begründet, der
seiner Lebensbeschreibung den Titel gab: "Ich bin doch nicht nach
links gewechselt, die anderen sind nach rechts
marschiert."
Günter Gaus
Widersprüche.
Erinnerungen eines linken
Konservativen.
Propyläen Verlag, Berlin 2004, 380 S.,
25,- Euro
Der Autor ist Leitender Redakteur der
Wochenzeitung "Das Parlament".
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