Hagen Richmann
Verstehen und Zusammengehen
Helmut Schmidt über künftige
Mächtekonstellationen
Die weltweiten politischen, wirtschaftlichen und auch
gesellschaftlichen Zusammenhänge und deren Entwicklungen
stehen im Mittelpunkt vieler Erörterungen. Der ehemalige
Bundeskanzler Helmut Schmidt kann dabei nicht abseits stehen. In
seinem neuen Band stellt er seine Sicht der künftig
möglichen Mächtekonstellationen, deren Protagonisten und
deren Mitwirkende mit geringerer Bedeutung im Kräftespiel
vor.
Düsteres Szenario
An den Anfang seiner Überlegungen rückt er ein
"düsteres Szenario", das all die Krisen, Konflikte und Kriege
aufzählt, die heute die Politik beherrschen. Dabei geht es vor
allem um den immer dramatischer werdenden Kampf gegen den
Terrorismus und seine eventuelle Weiterung in einen Kampf der
Kulturen: "Wo liegen die entscheidenden Veränderungen? Was
sind die unverrückbaren Tatsachen? Was können wir von der
Zukunft wissen - und was bleibt ungewiß? Was können wir
tun? Was sollen wir tun?"
Trotz unterschiedlicher Perspektiven der Bedrohungen und
Entwicklungen erkennt Schmidt vier wesentliche globale
Gefährdungen, welche "die weitere Entwicklung maßgeblich
beeinflussen:
1. die Bevölkerungsexplosionen und ihre Folgen;
2. die Folgen der technischen und ökonomischen
Globalisierung;
3. die Anfälligkeit der internationalen Finanzmärkte
sowie
4. die Auswirkungen des internationalen Waffenhandels."
Mit den unterschiedlichen Erscheinungsformen dieser
Gefährdungen müssten sich sowohl die Staaten und Regionen
auseinandersetzen, die unmittelbar betroffen sind, als auch die,
welche eine Politik der Regulierung und Konfliktbeschränkung
betreiben könnten.
Blick auf Amerika
Nicht von ungefähr blickt Schmidt zuerst auf die
Vereinigten Staaten von Amerika. Ihre Stärken und
Schwächen, ihre globale Dominanz, ihre strategischen Optionen
bedeuten sowohl Chancen als auch Risiken. Aber eine unilaterale
Vorgehensweise würde sich letztlich verbieten, wenn die USA
erfolgreich und als Vormacht anerkannt sein wollten: "Je
nachdrücklicher und rücksichtsloser Amerika Führung
beansprucht und ausübt, um so mehr Ablehnung und Widerstand
kann es provozieren. Umgekehrt wird Amerika um so erfolgreicher
sein, je mehr man in Washington und New York auf die Interessen der
anderen Staaten Rücksicht nimmt."
Zu den weiteren Entwicklungen der anderen Mächte folgt eine
Analyse über China und den Fernen Osten, den Indischen
Subkontinent, Russland, den "Islam, den Mittleren Osten und das
Öl" sowie jene, die ohnmächtig am Rand der Welt
existieren. Schmidt gibt hier eine breite Übersicht über
die verschiedenen Bedingungen und Interessengegensätze in den
Regionen. Sein Anregung lautet eindeutig, die Kraft und
Prosperität Chinas nicht zu unterschätzen.
Zum Abschluss widmet sich Schmidt der schwierigen
Selbstbehauptung Europas und konstatiert: "Zu Beginn des 21.
Jahrhunderts befindet sich die EU in einer tiefgreifenden Krise
nicht nur ihrer Institutionen und ihrer außenpolitischen
Handlungsfähigkeit, sondern zugleich auch ihrer
ökonomischen und sozialen Strukturen" - auch deshalb, weil der
Beitritt von zehn neuen Mitgliedern zwar die Einwohnerzahl der EU
um 20 Prozent steigere, das gemeinsame Sozialprodukt aber nur um
fünf Prozent wachse.
Die Türkei als Hemmnis?
Deshalb sei eine längere Pause angebracht, um die EU zu
reorganisieren und die Defizite zu bewältigen. Ein Beitritt
der Türkei in die EU würde diesen Prozess jedoch hemmen,
wenn nicht gar verhindern. Hingegen dürfte sich die EU
keinesfalls als gleichrangig zu den USA entwickeln. Erstrebenswert
sei vielmehr eine Aufarbeitung der "großen Probleme und
Schwierigkeiten innerhalb des eigenen Hauses".
Trotz aller krisenhaften Strömungen: Europa, die USA und
ihr Verhältnis zueinander sind die Hauptlinien des Bandes von
Helmut Schmidt. So wie er sich kein einiges Europa ohne Frankreich
und Deutschland vorstellen kann, so wichtig und erstrebenswert ist
ihm eine gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit mit den USA - das
"kann auch aus amerikanischer Sicht nur nützlich und
erwünscht sein".
Helmut Schmidt
Die Mächte der Zukunft.
Gewinner und Verlierer in der Welt
von morgen.
Siedler Verlag, München 2004; 237S. 19,- Euro
Der Autor arbeitet als freier Journalist vorwiegend zu
sicherheits- und militärpolitischen Fragen in Berlin.
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