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Mir A. Ferdowsi
Wohin steuern die arabischen Eliten?
Über den innerarabischer Diskurs
Sieht man von der aktuellen innerirakischen
Entwicklung ab, so ist es entgegen allen Befürchtungen und
Voraussagen weder im Laufe des Krieges gegen den Irak noch bislang
in der arabisch-islamischen Welt zu einem "Aufstand der Massen"
gegen die USA und ihre Verbündeten gekommen. Gleichwohl haben
aber sowohl der Krieg wie auch zuvor die Anschläge vom 11.
September in der Region eine von der westlichen Öffentlichkeit
wenig beachtete, aber überaus kontroverse Diskussion
ausgelöst.
Vor diesem Hintergrund ist es zu
begrüßen, dass das Deutsche Orient-Institut in Hamburg im
Auftrag des Auswärtigen Amtes die wesentlichen Facetten dieser
Debatten und Veränderungen im Weltbild nordafrikanischer, nah-
und mittelöstlicher Intellektueller seit dem 11. September
erfasst hat, um Aufschluss über die wahrscheinlichen,
mittelfristigen und richtungweisenden Tendenzen der politischen und
gesellschaftlichen Diskussion zu geben.
Im Mittelpunkt des Interesses standen
folgende Leitfragen: Stehen wir vor dem Übergang zu einer
Neuverortung, die Auswirkungen auf politisches Handeln haben wird?
Zeichnet sich die Herausbildung oder Wiederbelebung einer
politischen Ideologie nationalistischer oder islamistischer Art ab?
Oder werden verschiedene, "gemischte" Deutungsmuster
nationalistisch-islamistischer Art angeboten?
Der Band enthält qualitativ wie
quantitativ sehr unterschiedlich ausgefallene 25 Beiträge. In
drei Kapiteln gegliedert, werden zunächst
länderspezifisch die unterschiedlichen Stoßrichtungen der
Debatten in Marokko, Algerien, Ägypten, Saudi-Arabien,
Jordanien, Libanon, Syrien, Palästinensische Gebiete und
schließlich im Iran dargestellt. Es folgen Träger und
Themen der Diskussionen, die von säkularen und religiösen
Einrichtungen und Organisationen, von "think-tanks" und Al
Azhar-Universität bis hin zu Demokratisierungs-,
Menschenrechts-, Frauengleichstellungs- und Globalisierungsdebatten
reichen. Abschließend wird der Beitrag des arabischen Sat-TV,
der Printmedien und des Internets zum Wertewandel
untersucht.
Sieht man von einigen exzellenten Texten ab,
so vermag der Band den Fragestellungen leider nicht gerecht zu
werden. Dies gilt vor allem für die überwiegende Zahl der
mehr lexikalisch-glossarartig, denn analytisch ausgefallenen
Beiträge im zweiten und dritten Abschnitt, obgleich doch
gerade im letzteren einige der behandelten Themen -
Demokratisierung, Menschenrechte und die Gleichstellung von Frauen
- inhaltlich mehr substantiellere Aussagen erfordert und auch
verdient hätten. So erfährt man zwar durch den Beitrag
über die Menschenrechtsdebatte viel über die
Diskussionsforen, die verschiedenen Organisationen und
stichwortartig die zentralen Themen, doch leider sehr wenig
über die von Land zu Land unterschiedlich gesetzten Akzente
der Diskussion.
Lesenswert und inhaltreich sind hingegen die
Beiträge von Amr Hamzawy und Hanspeter Mattes. Hamzawy zeigt
in seinem Beitrag über die Globalisierungsdebatte, wie wenig
sich reformorientierte Denker inhaltlich von gemäßigten
Islamisten unterscheiden, da - nicht anders als in der westlichen
Globalisierungsdebatte - beide die prinzipielle Differenz zwischen
den negativen Merkmalen der Globalisierung und den positiven
Essenzen des Universalismus betonen. Unterschiede bestehen
lediglich hinsichtlich der kulturellen Globalisierung: Den
hoffnungsvollen Annahmen der säkularen Denker, mit Hilfe des
neuen Phänomens die Moderne zu vollenden, stehen
Befürchtungen der islamistischen Richtung ob einer erneuten
westlichen kulturellen Hegemonie gegenüber.
Hanspeter Mattes gelingt es in seinem Beitrag
über die Auswirkungen des 11. Septembers und des Irakkrieges,
die sehr facettenreiche Debatte über Neoimperialismus
differenziert nach politischen, wirtschaftlichen und kulturellen
Dimensionen aufzuzeigen. Nicht weniger kontrovers verläuft
auch eine seit 2002 andauernde Nationalismusdebatte: Während
von etlichen Nationalisten das Scheitern des arabischen
Nationalismus schlichtweg geleugnet wird, erkennen zwar andere die
Existenz des arabischen Nationalismus an, kritisieren ihn aber als
Irrweg.
Durch den Irak-Krieg, so scheint es, hat sich
die Kluft zwischen der Gruppe der "neoliberalen Araber", bestehend
aus Realisten, Demokraten und Liberalen, und ihrem feindlichen
Gegenüber, also Nasseristen, Nationalisten, Radikalen und
ihren islamischen Parteigängern vertieft. Dadurch wurde die
Polarisierung erst recht zementiert. Zwar haben beide Ereignisse
nicht unwesentlich zur Annäherung zwischen Nationalisten und
Islamisten geführt, doch Mattes weist darauf hin, dass das
neue Bündnis kaum Aussichten hat, sich zu einer
nationalistisch-islamistischen Hybridideologie zu entwickeln. Denn
sowohl Arabismus wie auch Islamismus stellen je für sich
genommen eine gescheiterte Ideologie dar, deren Vertreter auch
vereint das bestehende Vakuum nicht füllen können. Sie
haben keine Entwicklungsvision anzubieten, sondern bilden lediglich
ein taktisches Kampfbündnis, um Herausforderungen Dritter zu
begegnen.
Eine Gesamtschau der Beiträge legt -
trotz der monierten Schwächen - folgenden Schluss
nahe:
Erstens, dass nicht in allen untersuchten
Staaten dieselben Debatten im Mittelpunkt stehen - was angesichts
der unterschiedlichen ökonomischen und kulturellen
Konstitutionen auch kaum verwunderlich ist.
Zweitens, dass die noch immer zahlreichen
"Tabuthemen" in den meist autoritären Staaten von vornherein
als Debattengegenstand ausgeschlossen sind und dass es entweder
einer gezielten Enttabuisierung seitens der Staatsführung
bedarf oder einer Fundamentalopposition, die bereit und in der Lage
ist, diese Hemmschwelle zu durchbrechen. Das aber ist bislang in
den meisten Staaten nicht in Sicht.
Drittens, dass inhaltlich in allen
untersuchten Staaten die Debatte um politische Reform
einschließlich der Stellung der Religion im Staat eine
herausragende Rolle einnehmen. Die Befürworter einer
Demokratisierung und Modernisierung nach westlichem Muster haben es
wegen der US-Außenpolitik im Nahen Osten, vor allem seit dem
11. September gegenwärtig noch schwerer als zuvor,
hierüber eine konstruktive Debatte einzuleiten. Nicht zuletzt
der Irak-Krieg ist offensichtlich zu einem
Argumentationslieferanten für die Re-Islamisierung der
Debatten um kulturelle Identität, die Verteidigung der
nationalen Souveränität und eigener, authentischer
Konzepte geworden.
Trotz der teilweise
kursorisch-impressionistischen Darstellungsweise kann das Buch dazu
beitragen, die komplexe politische Wirklichkeit der Region zu
verstehen. Da nicht alle Beiträge auf die der Untersuchung
zugrunde liegenden Leitfragen eine befriedigende Antwort geben,
darf man auf den für Ende 2005 avisierten abschließenden
Band gespannt sein, der eine umfassende und bilanzierende
"Stabilitäts- und Risikoanalyse Nordafrikas, Nah- und
Mittelost und eine Perspektive der Entwicklung bis zum Jahre 2010"
liefern soll.
Sigrid Faath (Hrsg.)
Politische und gesellschaftliche Debatten in
Nordafrika, Nah- und Mittelost. Inhalte, Träger,
Perspektiven.
Deutsches Orient-Institut Hamburg,
Mitteilungen Band 72. Hamburg 2004; 508 S., 24,80 Euro
Mir A. Ferdowsi ist Privatdozent für
Politische Wissenschaft am Geschwister-Scholl-Institut der
Universität München.
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