Thorsten Wöhlert
Die Würfel fallen nicht in Nahost, sondern
in Europa!
Gilles Kepels großes Buch über "Die
neuen Kreuzzüge"
Nichts wird mehr so sein, wie es war. Der Satz fiel noch unter
dem Eindruck der brennenden Twin Towers in New York und ist seitdem
unzählige Male wiederholt worden. Er hat sich bewahrheitet und
ist doch nicht die ganze Wahrheit, weil schon lange vor den
Anschlägen nichts mehr so war, wie es schien. Deren Geschichte
und Vorgeschichte sind seitdem oft und ausführlich dargestellt
worden. Gilles Kepel, einer der renommiertesten Experten auf dem
Gebiet des islamischen Fundamentalismus, fügt den zahlreichen
Deutungen eine weitere hinzu, die so komplex, detailliert und
faszinierend ist, dass es einiger Konzentration und
zeitgeschichtlicher Kenntnisse bedarf, um nicht die Übersicht
zu verlieren.
Kepel zeichnet nicht das Bild eines neuen, gefährlicheren
Ost-West-Konfliktes, in dem sich "der Islam" und "der Westen"
gegenüberstehen wie einst die Blöcke im Kalten Krieg. Er
benennt und beschreibt jedoch Akteure auf beiden Seiten, deren
politische Strategien auf genau dieser verhängnisvollen
Weltsicht basieren und so verantwortlich sind für die
Katastrophe des 11. Septembers und seine Folgen.
Dabei nimmt Kepel sich Zeit, die einzelnen Entwicklungslinien im
Nahen Osten, in den USA und in Europa genau und differenziert
darzustellen. Er beschreibt nicht nur politische Prozesse der
vergangenen 20 Jahre in den drei Regionen. Mindestens ebenso
wichtig sind dem Professor für politische Studien am Institut
d?Etudes Politiques in Paris die jeweiligen Akteure, ihre oft
widersprüchlichen politischen, religiösen und
weltanschaulichen Überzeugungen und daraus resultierende
taktische wie strategische Motive und Handlungsoptionen. Auch
wirtschaftliche Interessen spielen eine Rolle. Das kann in der
ölreichen Nahostregion gar nicht anders sein.
Um so markanter dagegen die historisch-analytischen
Ausflüge in die religiöse und Geistesgeschichte der
Protagonisten. Die fallen zum Teil so dezidiert aus und
(ver?)führen den Leser zu ebenso überraschenden wie
zwingend logischen Einsichten, dass selbst skeptische Geister nach
anfänglicher Rebellion mangels faktengestützter
Kritikfähigkeit schnell kapitulieren dürften. Dies gilt
vor allem für ausführliche Passagen, die den
religiösen und politischen Auseinandersetzung in der
arabisch-islamischen Welt gewidmet sind und die die
widersprüchliche Genesis jener Kräfte beschreiben, die
nicht nur hierzulande allzu pauschal unter dem Label islamischer
Fundamentalismus oder Islamismus firmieren. Allein deshalb sei
dieses Buch allen kopftuchstreitenden Innenpolitikern
empfohlen.
Botschaft und Kernthesen des Buches finden sich bereits im
Vorwort. Gehalt und Plausibilität gewinnen sie jedoch erst,
wenn man dem Autor durch das Vorwort zum Scheitern des Osloer
Friedensprozess und die sich anschließenden sechs Kapitel
folgt, die der neokonservativen Revolution in den USA, der
Evolution des islamischen Dschihad und der besonderen Rolle
Saudi-Arabiens vor und nach dem 11. September sowie dem
ernüchternden Resümee des Anti-Terrorkrieges folgt.
Erst dann erschließt sich der Sinngehalt des Titels: Die
neuen Kreuzzüge. Es sind, so Kepel, ihrer zwei mit Schauplatz
in Nahost und Europa. Den einen führen amerikanische
Neokonservative als unilateralen Kampf einer selbsterklärt
wohlwollenden Hegemonialmacht um Sicherheit, Demokratie und
Menschenrechte im Nahen Osten. Der andere geht von militanten
Islamisten aus - als Kampf um die Herrschaft über Herzen und
Hirne in der islamischen Welt, bei dem der Terror gegen den
"äußeren Feind" nur einen "notwendigen"
Nebenkriegsschauplatz bildet.
Faszinierend an der Darstellung ist, dass Kepel die jeweiligen
Motive nicht nur scharf analysiert und gut beschreibt. Er nimmt sie
ernst, denunziert nicht und zeigt zudem erstaunliche Parallelen
auf, die nicht zuletzt in der moralisch diskreditierenden und
(selbst-) zerstörerischen Wirkung beider Kreuzzüge
liegen.
Gilles Kepel ist als Historiker, Politologe und Orientalist
davor gefeit, auf exogene oder missionarische Konfliktlösung
zu setzen. Um so erstaunlicher - und bedenkenswerter - seine
soziologisch begründete Schlussthese. Für ihn findet die
kulturelle Auseinandersetzung um die Zukunft des Islams in den
muslimisch geprägten Vorstädten und Enklaven Europas
statt. Hier - und nicht im Nahen Osten - entscheidet sich die
Kontroverse um eine islamische Moderne, um die Trennung von Staat
und Moschee. Das ist für den Alten Kontinent nicht nur eine
religiöse, sondern auch eine soziale Herausforderung. Ex
Okzidente Lux? Gilles Kepel ist nicht nur Orientalist, er ist auch
Franzose. Ein spannendes Buch!
Gilles Kepel
Die neuen Kreuzzüge. Die arabische Welt und die Zukunft des
Westens.
Piper Verlag, München/Zürich 2004; 389 S., 22,90
Euro
Der Autor arbeitet als Journalist und Islamwissenschaftler in
Berlin.
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