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Andrea Dunai
Die eigene Schuld als schweres Gepäck der
Vertreibung
Volksdeutsche erinnern sich an die alte
Heimat
Sechs Geschichten, Dutzende von Protagonisten
und noch mehr Schauplätze. Lauter "Candids", die von den
Wellen der Weltgeschichte aus einem zumeist kleinen, der breiten
Öffentlichkeit unbekannten Ort in einen anderen getrieben
wurden. Alle waren sie Staatsbürger osteuropäischer
Staaten, alle führten in ihrer multiethnischen Heimat ein
bodenständiges Familienleben. Und alle waren volksdeutsch.
Alle waren sie von der "Kollektivschuld" betroffen, deren "schweres
Gepäck" sie seitdem mit sich tragen. Ihre Sozialisation im
Nachkriegsdeutschland verlief indes unterschiedlich.
Dagmar und Christel kamen mit ihrer Mutter
aus Schlesien. Die ersten Jahre in der neuen Umgebung verliefen,
den Umständen entsprechend harmonisch, doch mit der Zeit
vertauschten sich die Rollen in der Familie. Die Kraft der Mutter
ließ nach, Gefühle konnte sie nicht mehr zeigen. An
diesem Umstand änderte auch die Tatsache nichts, dass sie in
Westdeutschland ihr drittes Kind zur Welt brachte. Astrid blieb die
Geborgenheit endgültig fremd. Die Kiste mit den Briefen und
Fotos hat sie erst nach dem Tod ihrer Mutter geöffnet,
während sich ihre Geschwister vor Ort in Breslau oder in Yad
Vashem aktiv der Vergangenheit stellten.
Das andere Kapitel handelt von Günter,
der 1964 mit der Aufarbeitung seiner Familiengeschichte begann. Da
die freie Ausreise aus der DDR in das benachbarte "Bruderland"
nicht gestattet war, besorgte er sich auf der Leipziger Buchmesse
von einer fremden Polin eine Einladung. Zunächst machte er
Halt in Auschwitz, dann fuhr er in seine Geburtsstadt Lodz. Hier
lebte er bis zur "Kinderlandverschickung" vom August 1944, als die
Rote Armee bereits kurz vor Litzmannstadt stand. wie die Stadt
damals hieß.
Schmerzliche Erfahrungen
Zuerst die Konfrontation mit dem Unmaß
deutscher Verbrechen, dann das Schicksal der Volksdeutschen waren
für ihn eine schmerzhafte Erfahrung. Dennoch ist er immer noch
von den positiven Erinnerungen an die neue Leipziger Heimat
überwältigt. "Wie in Lodz redete die Mutter weiter im
Lodzer Deutsch, sprach von Pomidoren statt von Tomaten, von einer
Tetschke statt von einer Aktentasche (…). Der Vater
rezitierte weiter russische Gedichte, die er als Schüler noch
unter zaristischer Herrschaft gelernt hat." Dass die Idylle
verschwand, begriff er in dem Moment, als der Vater aufhörte,
mit ihm Fußball zu spielen. Später schimpfte er viel auf
die Juden. Lange konnten die Missverständnisse nicht
geklärt und besprochen werden. Heute besucht der
Hobbyhistoriker Günter Kurse an der
Humboldt-Universität.
Hingegen sind die Eheleute aus Böhmen
und Ungarn, die sich nach dem Krieg in Karl-Marx-Stadt kennen
gelernt haben, regelmäßige Besucher in ihrem
tschechischen und ungarischen Heimatdorf. Beide haben sich mit
ihrer Vergangenheit versöhnt. Ohne Verbitterung und Hass
erzählen sie über das kleine Pschoblik und
Bátaszék, beides winzige Orte, die von dem Wüten der
Geschichte heimgesucht wurden.
Im Kindergarten hörte Josef zum ersten
Mal von Russen und Juden. Sie wurden als die größten
Feinde der Sudetendeutschen dargestellt. In das Dorf, das
früher dem Habsburger, später dem Deutschen Reich
angehörte und auf dessen Hauptstraße seit 1942 die
Wlassow-Leute für Disziplin sorgten, marschierte 1945 die Rote
Armee ein. Nach der Mitgliedschaft in der NSDAP wurde nicht einmal
gefragt. Die Volksdeutschen mussten so oder so gehen. Joseph
Tscherner, bewacht von tschechischen Militärs, saß im
Frühjahr 1946, Elisabeth Schuszter im Winter 1948 mit einer
Gruppe von Ungarndeutschen in dem Zug Richtung Ostzone. Elisabeth
wurde von den Mitschülern verständnisvoll verabschiedet.
Die Vertreibung nennt sie heute Aussiedlung.
Auch eine andere Protagonistin schwärmt
von ihrer baltischen Heimat, obwohl sie diese als kleines Kind
zweimal, 1939 und erneut 1945, verlassen musste. Der zweite
Abschied war trauriger. Diesmal führte der Weg über die
Trümmerfelder von Dresden in die amerikanische Zone. Man
suchte dort nach anderen Baltendeutschen. Das Gefühl der
Zusammengehörigkeit half bei vielen, die
Anfangsschwierigkeiten zu überwinden. Das war aber eher
untypisch.
"Mit Dingen, die ich nicht verändern
kann, muss und will ich mich abfinden. Das Schlimme erscheint dann
nicht mehr so schlimm, manchmal verschwindet es sogar aus dem
Gedächtnis" - erzählt der Karpatendeutsche Alfred, der
mehr als ein halbes Jahr in einem slowakischen Lager halbverhungert
auf seine "Ausreise" wartete. Seine Schwester wurde in Deutschland
als "Flüchtling" beschimpft. Die Integration, wenn es sie
überhaupt gab, datiert sie auf die 90er-Jahre.
Diese Familiengeschichten werden wie
Puzzleteile in die tragische Geschichte des 20. Jahrhunderts
eingebettet. Als profunde Kennerin ihres historischen Umfelds und
der Psyche ihrer Befragten gestaltet Helga Hirsch diese Portraits.
Auch ihr Vater stammt aus Breslau, auch sie hatte das
Bedürfnis, nach der Lebensgeschichte ihrer Familie zu
forschen. Doch der Bruch des Schweigens vollzog sich bei ihr lange
Zeit nicht von selbst, eine jüdische Freundin half ihr dabei.
"Ich spürte Dankbarkeit, weil Miri mir die beglückende
Erfahrung schenkte, dass ich meine Geschichte erzählen durfte,
ohne mich schuldig zu fühlen."
Helga Hirsch
Schweres Gepäck.
Flucht und Vertreibung als
Lebensthema.
Edition-Körber-Stiftung, Hamburg 2004;
256 S., 14,- Euro
Andrea Dunai arbeitet als freie Journalistin
vorwiegend zu den Themen Osteuropa und Zeitgeschehen; sie lebt in
Berlin.
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