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Ursula Homann
Vom Leben und Sterben im Getto
Die Lodzer Chronik - aussagekräftig und
erschütternd
Vor 60 Jahren wurde das Getto Lodz/Litzmannstadt aufgelöst.
Die Menschen, die im August 1944 noch dort waren - es waren knapp
70.000 -, wurden in die Vernichtungslager Chelmno und Auschwitz
verschleppt. Nur wenige überlebten diese letzte Etappe der
Vernichtungsmaschinerie. Doch im Gegensatz zum Getto von Warschau,
dessen Geschichte schon früh erforscht worden ist, wurde die
Geschichte des Gettos von Lodz lange sträflich
vernachlässigt. Das hat sich inzwischen gründlich
geändert, nicht zuletzt durch eine
Universitätspartnerschaft zwischen Gießen und Lodz.
Als wichtiges Hilfsmittel erwies sich bei der Erforschung der
Geschichte des Lodzer Gettos neben Essays, Reportagen und
Tagebuchaufzeichnungen die sogenannte Getto-Chronik, ein etwa
2000seitiger Text. 15 Mitarbeiter, überwiegend Journalisten
und Schriftsteller, hatten seit Januar 1941 täglich alle
relevanten Ereignisse im Lodzer Getto auf polnisch und deutsch
akribisch festgehalten - aus der Perspektive der Verwaltung des
"Judenältesten", was sie aber nicht daran hinderte, ihre
Notizen mit kurzen aufschlussreichen Kommentaren zu versehen.
Auf Initiative von Mordechaj Chaim Rumkowski (er stand an der
Spitze der scheinbaren jüdischen Selbstverwaltung und gilt als
eine der umstrittensten Figuren in der Geschichte des Holocaust)
war in der Verwaltung des "Ältesten der Juden" eine Abteilung
gegründet worden, die Leben und Sterben im Getto für
zukünftige Generationen dokumentieren sollte, wie aus einer
Karte der sogenannten "Enzyklopädie des Gettos" hervorgeht,
die 1944 als letztes großes Unternehmen des Archivs zur
Ergänzung der Chronik entstanden war. Daneben gab es dort noch
ein Grafikbüro und ein "photographisches Referat" mit einem
gut ausgestatteten Labor, in dem heimlich aufgenommene Fotos
entwickelt wurden.
Chronik-Autoren
Nachzulesen sind die Eintragungen der Lodzer Chronik aus den
letzten beiden Monaten Juni und Juli 1944 in der kürzlich
herausgegebenen Edition "Letzte Tage". In der Einleitung beleuchtet
Sascha Feuchert die Geschichte von Getto und Archiv und stellt die
drei wichtigsten Chronik-Autoren vor: Oskar Singer, Oskar Rosenfeld
und Peter Wertheimer, von denen keiner die Schreckenszeit
überlebt hat. In einem weiteren Beitrag untersucht Jörg
Riecke die Sprache von Opfern im Angesicht des Todes.
Am eindrucksvollsten und erschütterndsten ist die Chronik
selbst, die tiefe Einblicke in eine abgeschlossene Welt jenseits
aller humanen Lebensbedingungen gewährt. Jeder Tageseintrag
beginnt mit allgemeinen Nachrichten und statistischen Angaben,
über Sterbefälle, zu denen auch Selbstmorde gehören,
über Geburten, ansteckende Krankheiten, Verhaftungen. Aber es
kommen auch Trauungen und Raubmorde vor.
Besonders aussagekräftig ist der oft angefügte "Kleine
Getto-Spiegel". Durch ihn erfährt man über
Schwierigkeiten im Zusammenleben auf engstem Raum, von
Tragödien, die sich insgeheim abspielen, von "Nachrichten, die
durch die Drähte des Gettos dringen" und eine allgemeine
Nervosität hervorrufen. Angst "schnürt allen die Kehle
ab", vor allem dann, wenn Freiwillige zur Arbeit außerhalb des
Gettos gesucht werden. Weiß doch keiner, was draußen mit
den Menschen geschieht.
"Wer nur die kleinsten 'Plejzes' (Beziehungen) haben wird, der
wird versuchen, sich der Ausreise zu entziehen" heißt es an
einer Stelle. Kaum einer will "heraus aus der Hölle, weil man
sich an sie gewöhnt hat", schreibt Oskar Singer, und Oskar
Rosenfeld fügt hinzu: "Gott allein weiß, für wen es
besser sein wird; für den, der hier bleibt oder für den,
der weggeht." Aber man liest auch, dass manche Menschen "verstockt"
seien und dass durch Not und Angst der ein oder andere "egoistisch"
und "rücksichtslos" geworden sei.
Alarmierende Gerüchte machen häufig die Runde machen
und nicht wenige werden dann vonPanik ergriffen.
Niederdrückend und allgegenwärtig sind Hunger, Not,
Einsamkeit, Misstrauen und Bangigkeit, die man oft deutlich
zwischen den Zeilen spürt. "Und doch - der jüdische
Glaube an eine Gerechtigkeit, die irgendwann siegen wird,
lässt den äußersten Pessimismus nicht zu. Man
versucht, sich selbst zu trösten, sich irgendwie selbst zu
täuschen", heißt es an einer Stelle. "Keine
Ausreise-Aufforderung, eine Ration, ein Laib Brot - diese drei
Fakten an einem Tag hatten die Kraft, das Getto glücklich zu
machen" merkt Oskar Singer einmal an. "Der Tag verlief ruhig... Die
Stimmung im Getto ist rosig. Alles ist voller Hoffnung auf ein
baldiges Ende des Krieges", so ein Eintrag am 23.Juli 1944.
Manchmal klingt auch leiser Humor an, wie etwa in der Geschichte
von der Bepflanzung eines Kinderwagens mit Gemüse, den der
Besitzer aus Furcht vor Diebstahl unablässig im Getto
herumfuhr.
Der Band - Auftakt für eine komplette Ausgabe der Chronik,
die für das Jahr 2006 vorgesehen ist - schließt mit der
Chronologie zur Geschichte des Gettos. Diese wiederum endet mit dem
Vermerk, dass Lodz am 19. Januar 1945 von der Roten Armee befreit
wurde und dass 600 Menschen, die im Getto als Aufräumkommando
zurückgelassen worden waren, das Getto überlebt haben
sowie etwa 270 Menschen, denen es gelungen war, sich vor den
Deportationen in Sicherheit zu bringen.
Sascha Feuchert und andere (Hrsg.)
Letzte Tage.
Die Lodzer Getto-Chronik Juni/Juli 1944.
Wallstein Verlag, Göttingen 2004; 256 S., 19,- Euro
Ursula Homann arbeitet als freie Journalistin im
sauerländischen Arnstadt.
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