Werner Hornung
Wo steht's denn bloß wieder?
Im Trend der Zeit: Enzyklopädische
Exkursionen per DVD & CD-ROM und im Internet
Trotz Computer und Internet - zumindest imposant
stehen die mehrbändigen Prachtexemplare von Bertelsmann,
Brockhaus und Meyer noch im Regal: papierene Autoritäten in
Leinen oder Leder gehüllt, noble Dekoration und bibliophile
Datenbanken aus der vorelektronischen Gutenberg-Ära. In diesen
Nachschlagewerken finden sich wie üblich keine Verfassernamen
unter den einzelnen Artikeln; so bleibt die gewohnte Aura von
Objektivität erhalten. Genauer betrachtet sind Lexika - ob nun
als Buch, DVD oder CD-ROM - freilich immer ein subjektiv
gebündelter Extrakt aus Informationsvielfalt und
Intellekt.
Lexika gehören zu den heiligen Schriften
des wissenschaftlichen Zeitalters. Spätestens seit den
französischen Enzyklopädisten um Diderot und d'Alembert,
seit der Mitte des 18. Jahrhunderts also, liefern sie die
säkularisierte Botschaft für den wissbegierigen
Bürger. "Eine ganze Milchstraße von Einfällen"
entdeckte schon der Göttinger Physiker und Schriftsteller
Georg Christoph Lichtenberg (1742/99) in den mit
aufklärerischem Gelehrtenfleiß zusammengestellten
Nachschlagewerken seiner Zeit.
Inzwischen hat das Wissen in allen
Lebensbereichen erheblich zugenommen. Die Informationsflut bringt
eher Unübersichtlichkeit mit sich. Damit wird es für
Lexikon-Redaktionen noch schwieriger, aus der vorhandenen
Materialfülle zwischen blanker Beliebigkeit und einem
imaginären Bildungskanon gerade das auszuwählen, was als
wissenswert gelten kann.
Abgenommen hat dagegen bereits vor
Jahrzehnten das Pathos des erhobenen Zeigefingers, der kurios
klingende Ton aus Opas Enzyklopädie. Wie solche Artikel damals
formuliert waren, als diese Art von Literatur auch handfeste
Lebenshilfe vermitteln wollte, kann nicht allein in antiquarischen
Restexemplaren, sondern jetzt gleichfalls am PC-Monitor nachgelesen
werden.
Wilhelminische Zeiten
Dazu braucht man nur die DVD "Meyers
Großes Konversations-Lexikon" in das Laufwerk legen. Mit ein
paar Mausklicks gelangt man 100 Jahre zurück in die durch
Kaiser Wilhelm II. geprägte Epoche und wird beispielsweise
unter dem Stichwort "Motorwagen" an die Anfänge des
Autofahrens erinnert: "Nicht langsam dahinbummeln, aber auch nicht
rasen, sondern ein Mitteltempo, und zwar systematisch morgens und
mittags, im Sommer und Winter bei jedem Wetter, wenn nötig mit
Brille, Lederhandschuhen, Pelz etc. ausgerüstet. Infolge der
wohltuenden Wirkung auf die Nerven finden wir gerade unter den
Gehirnarbeitern enthusiastische Anhänger des
Motorwagens."
Um diesen 100. Band der "Digitalen
Bibliothek" fertigen zu können, musste das Team von
Directmedia Publishing erst ein neuartiges Verfahren zur
Texterkennung entwickeln; denn Meyers 20-bändiges
Konversations-Lexikon erschien 1905/09 in Frakturschrift und sollte
ja für den heutigen Gebrauch in die uns gewohnten
Antiqua-Zeichen übertragen werden. Die technisch keineswegs
leichte Umsetzung haben die Software-Spezialisten aber problemlos
geschafft.
Das Ergebnis ihrer kniffligen Arbeit ist eine
großartige DVD, die sowohl das eingescannte Faksimile als auch
den bearbeiteten Volltext präsentiert. Wer diese Edition heute
elektronisch aufblättert, der kann unter 155.000
Stichwörtern und ungefähr 10.000 Abbildungen
auswählen. Allesamt führen sie zu einem umfassenden
Panorama, das zugleich ein zeitgeschichtliches Dokument aus der
vorletzten Jahrhundertwende ist.
Mit dem Konzept - bereits erschienene Werke
ohne redaktionellen Eingriff zu digitalisieren - hat der in
Berlin-Kreuzberg ansässige Verlag beständigen Erfolg. Der
Vorteil seiner Produkte liegt auf der Hand, besser gesagt: im
Laufwerk. Dort drehen sich Scheiben mit anspruchsvollem Inhalt, die
zudem ein bedienerfreundliches Recherchieren am Bildschirm
ermöglichen. Bislang am meisten gekauft wurde die Anthologie
"Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka"; und vor zwei Jahren war
die CD-ROM "Wahl 2002" (mit den Programmen sämtlicher
Parteien) vorübergehend ein Bestseller.
In diesem Herbst kommt unter anderem eine
Quellensammlung über den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess
(1963/65) heraus. Sie enthält neben den Protokollen reichlich
Fotomaterial und Tonbandmitschnitte. Zu noch weiteren Projekten bei
Directmedia Publishing befragt, meinte Verlagssprecherin Gertraud
Götz: "Möglichen Trends folgen wir nur dann, wenn sie den
Recherchemöglichkeiten einen entscheidenden Clou
hinzufügen. Für uns sind Entwicklungen im Bereich der
Speicherkapazität von Datenträgern wichtiger als Moden
der Software-Gestaltung."
Ganz anders dagegen sieht es bei den
Marktführern im Bereich der aktuellen Nachschlagewerke aus.
Hier spielt das Produktdesign eine wesentliche Rolle. Das
fängt bereits bei der äußeren Hülle an. Sowohl
die "Encarta" von Microsoft als auch der "Brockhaus multimedial"
stecken in ziemlich großen Verpackungskartons. Die Software
selbst ist natürlich ebenfalls effektvoll gestaltet. Beide
Redaktionen haben alle Register gezogen, die momentan zur
Verfügung stehen: Aussprachehilfen, Ton- und Filmdokumente,
Musikclips, Videos, animierte Graphiken, 3D-Darstellungen und
selbstverständlich Web-Links. Außerdem wurden die
jährlichen Neuauflagen stets durch Zusatzangebote
erweitert.
Mit ihren Lexika allein können sich die
Konkurrenten kaum mehr überbieten; sie sind mittlerweile von A
bis Z solide ausgereift. Microsoft präsentiert in seiner
"Encarta", die bisher ja schon Unterstützung beim Erstellen
von Referaten leistete und Tips für spezielle
Unterrichtsthemen parat hatte, einen eigenen Programmbereich
für noch jüngere PC-Nutzer: eine Enzyklopädie
für Kinder ab sieben Jahre, bilderreich angelegt und mit
leicht verständlichen Texten versehen.
Auch der etwas teurere "Brockhaus
multimedial" ist populärwissenschaftlich konzipiert und
für ein breites Publikum gedacht. Wobei das Interesse an ihm
sicher nochmals zunimmt, denn von diesem Herbst an läuft die
DVD ebenso auf den Betriebssystemen Linux und Mac OS. Nach relativ
schneller Installation hat man mit der "Premium-Version 2005"
Zugriff auf einen Textkorpus aus circa 17 Millionen Wörtern
(Encarta/Professional: fast 20 Millionen), auf fast 20.000
Illustrationen und auf bestes Infotainment: Beispielsweise
können geographische Kenntnisse am Computer spielerisch
verbessert werden; dazu sind beim neu angebotenen
"Länderpuzzle" verschiedene Kartenumrisse bestimmten Staaten
oder Städten zuzuordnen.
Noch leichter als bei dem unterhaltsamen
Erdkunde-Test ist eine Lösung gefunden, wenn auf der
Brockhaus-Startseite über die Profi-Suche ein Stichwort
eingetippt wird - etwa: Stresemann. Sofort folgt im
Lösungsfeld darunter eine Auflistung passender Begriffe. Durch
erstes Anklicken kommt man zu einem kurzen Text, der über den
bekannten Herrenanzug in Schwarz-Grau informiert. Mit Hilfe eines
weiteren Mausklicks sind wir dann bei einer ausführlich genug
verfassten Biographie zu Gustav Stresemann (1878 - 1929), dem
bedeutenden Reichskanzler und Außenminister der Weimarer
Republik.
Keine Frage, die gefundenen Auskünfte
stehen so auch in vielen gedruckten Nachschlagewerken. Doch der
Vorteil bei dem digitalisierten Datenträger sind die farbig
markierten Hyperlinks, die ein zusätzliches
Bücherschleppen ersparen und rasch zu diesen
Lexikon-Einträgen weiterführen: Inflation, Kellogg-Pakt,
Rheinland-Räumung und Youngplan.
Ähnlich gut ist der kartographische
Komfort beim integrierten Brockhaus-Weltatlas. Der virtuelle Globus
lässt sich in jede gewünschte Himmelsrichtung drehen und
seine Ansicht topographisch oder politisch gestalten. Zudem ist
eine Einteilung nach den Zeitzonen möglich, und ein
Zoom-Schieber verändert den Maßstab. Schaut man
öfter und genauer auf die Karten, fallen freilich ein paar
Mängel auf: Zum Beispiel fehlt die wichtige transkontinentale
Eisenbahnstrecke vom australischen Darwin nach Adelaide ebenso wie
der längst eröffnete internationale Flughafen
Shanghai-Pudong. Wird nun über die praktische Ortssuche noch
"Peking" eingegeben, verwundert das angezeigte Ergebnis. Außer
dem Namen der chinesischen Hauptstadt ist nämlich dies zu
lesen: "Peking, Sachsen-Anhalt (D)". Klickt man jetzt die Zeile an,
so markiert auf der Karte sofort eine rote Nadel einen Punkt im
westlichen Sachsen-Anhalt, nahe der "Straße der Romanik"
gelegen.
Peking in Sachsen-Anhalt
Gibt es diesen Ort wirklich? Peking in
Sachsen-Anhalt? Kein Atlas mit besonders günstigem
Maßstab, auch kein deutsches Postleitzahlen-Verzeichnis kennt
eine solche Siedlung. Taucht damit wieder einmal - wie gelegentlich
in Publikationen des Bibliographischen Instituts (Mannheim) - ein
enzyklopädisches "U-Boot" auf? Das sind Einträge mit
erfundenem Inhalt, meist pseudowissenschaftlich formulierte
"Nihil-Artikel".
Da war etwa 1986 in Meyers Politik-Lexikon
von "Volponismus" die Rede: "eine liberale Bewegung aus
Süddeutschland"; da trieb 1994 die Redaktion des
24-bändigen Brockhaus entsprechenden Schabernack mit der
"ausschließlich am Menschen saugenden Gemeinen Steuer-Zecke
(Ixodes fiscalis), die sich mittlerweile über ganz Deutschland
ausgebreitet hat". Außerdem wurde im Brockhaus-Taschenlexikon
"Weltgeschichte" ja erst vor kurzem ein fiktiver Politiker namens
Abel Y. Bembel aus Frankfurt-Sachsenhausen vorgestellt. Eine
Erklärung zu solch lexikographischen Scherzen liefert die
sonst so informative DVD nicht, deshalb müssen Internet und
Google weiterhelfen.
Nach einigem Suchen gelangt man
schließlich an diese Web-Adresse: "www.wikipedia.de."
Wikipedia ist ein globales Wissensportal. Seine nicht-kommerziellen
Betreiber lassen Beiträge von jedermann zu, ebenso eventuell
nötige Korrekturen. Dem Bochumer MdB Axel Schäfer (SPD)
gefällt das demokratisch angelegte Projekt so gut, dass er es
sogar auf seiner Homepage (www.axelschaefermdb.de)
unterstützt. In der deutschen Ausgabe des Online-Lexikons
finden sich inzwischen über 145.000 Artikel, darunter eben
auch einer über die oben erwähnten "U-Boote".
Die Brockhaus-Redaktion wird dieser eine
Artikel über ihre amüsanten Textfantasien kaum
stören, das gebührenfreie Gesamtangebot von Wikipedia
dagegen schon. Wegen dieser Kostenersparnis wird die Website von
Internet-Surfern übrigens recht häufig aufgerufen, was
wiederum zu Serverproblemen und gar zur Auskunftsverweigerung
führt. In solchen Fällen heißt es dann auf den
Bildschirmen: "Wikipedia: wegen Überlastung temporär
deaktiviert."
Dem Nutzer eines Offline-Mediums kann so
etwas nicht passieren. Zudem stammen bei bewährten
Nachschlagewerken die Auskünfte stets von kompetenten
Verfassern und sind glaubwürdig. Ein solcher
enzyklopädischer Klassiker ist seit Jahrzehnten "Der Fischer
Weltalmanach", den es als Taschenbuch und digitalisiert gibt. Wer
zur CD-Version 2005 greift, hat den Vorteil, dass manche Zahlen,
Daten und Fakten besser zu lesen sind, weil sie auf dem Monitor
größer erscheinen. Ein weiterer Pluspunkt gegenüber
der gedruckten Ausgabe sind die geographischen Karten, die hier bei
allen Staaten von Afghanistan bis Zypern die aktualisierten
Informationen ergänzen. Damit und mit den vielen Farbfotos ist
der einst etwas blass aussehende Weltalmanach richtig ansehnlich
geworden.
Klassenprimus in seiner Kategorie ist auch
"Retrospect 2004", das historische Prachtstück der
Münchner Software-Firma Digital Publishing. Gleich ob man nun
eine der acht CD-ROMs oder die DVD im Laufwerk liegen hat,
Mausklick für Mausklick geht es voran auf der gewünschten
Route durch das 20. und angefangene 21. Jahrhundert. Unterwegs kann
eine Vielzahl an illustrierten Sachartikeln und Biographien, an
Videosequenzen und Tondokumenten aktiviert werden. Sie
veranschaulichen wichtige Ereignisse und Entwicklungen aus den
Bereichen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft oder Kultur.
Selbstverständlich wurden thematisch zusammenhängende
Beiträge vernetzt. Wird zum Beispiel im Glossar "Adenauers
zweite Kanzlerschaft" eingegeben, dann bietet dieser Text
zwölf hervorgehobene Querverweise. So können schnell
weitere Infos von "Adenauer" über "Saarfrage" bis
"Wirtschaftswunder" aufgerufen werden. Komfortablere Zeitreisen am
PC sind kaum möglich!
Vor- und Nachteile
Trotz derart gelungener Produkte, vor allem
im wachsenden Segment des Sprachenlernens, ruht man sich nicht aus,
sondern entwickelt noch bessere, noch vielseitiger gestaltete
Medienpakete. Verlagssprecherin Wolf skizziert den Trend so: "Kaum
ein Hersteller hat nur noch allein CD-ROMs oder DVDs im Angebot.
Die Kombination aus Buch, Audio-CDs und CD-ROMs ist vor dem
Hintergrund einer integrierten Nutzung sinnvoll, da eben jedes
Medium seine speziellen Vor- und Nachteile hat. Dem Internet wird
sicherlich eine immer wichtigere Rolle zukommen, besonders als
Kommunikationsmedium für aktuelle Informationen. Gerade das
integrierte Nebeneinander verschiedener Medien birgt viele Chancen
in sich."
Bibliographisch-elektronische
Hinweise:
Meyers Großes
Konversations-Lexikon;
6. Auflage, 1905 - 1909. DVD für Windows
und ab Mac OS 10.2.
Directmedia Publishing, Berlin 2004; 235,-
Euro
Encarta-Enzyklopädie Professional
2005.
4 CD-ROMs oder 1 DVD für
Windows.
Microsoft, München 2004; 89,99
Euro
Der Brockhaus multimedial 2005
premium.
6 CD-ROMs für Windows; 1 DVD für
Windows,
Linux oder Mac OS X.
Brockhaus, Mannheim 2004; 99,95
Euro
Der Fischer Weltalmanach 2005. CD-ROM
für Windows.
United Soft Media, München 2004; 19,90
Euro
Retrospect 2004. 8 CD-ROMs und 1 DVD für
Windows.
Digital Publishing, München 2003; 99,99
Euro
Der Autor lebt im fränkischen
Lichtenfels, unterrichtet Geschichte, Sozialkunde und Deutsch und
schreibt für mehrere Zeitungen.
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