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Claudia Heine
Unwichtige Schriftsteller und staubfreie
Texte
Ungarn ist "phantastisch und bedeutungslos" sagt
Péter Esterházy
Mit der Wende 1989 kam nicht nur die Demokratie nach Ungarn,
sondern auch die USA und Großbritannien - in Form von
Büchern. Wie alle osteuropäischen Länder erlebte
auch Ungarn einen Ein- und Umbruch des Büchermarktes.
Amerikanische, englische und an dritter Stelle deutsche Titel
beanspruchten einen Platz, der eigene Produktionen und solche aus
Polen, Russland und Tschechien verdrängte. Damit verbunden war
eine Neubewertung von Literatur. Ausgelöst auch durch ein sich
wandelndes Interesse der Leser, die nun weniger Belletristik,
dafür aber mehr Sachbücher konsumierten. Die
gesellschaftliche Funktion des Schriftstellers - neben Tschechien
wird auch Ungarn gern als Land der Dichter und Philosophen
bezeichnet - erfuhr eine Wandlung. Kritische Beschreibungen
politischer Zustände mussten nicht mehr zwischen den Zeilen
versteckt werden, sondern konnten in ihnen platziert werden: "Ich
habe den Eindruck, dass man neu lernen muss, ein schreibender
Mensch muss eigentlich neu ungarisch lernen, oder wenn nicht die
ganze Sprache, so muss er doch die Wörter neu kennenlernen",
schrieb Péter Esterházy über die neue Situation der
Literaten.
Er wurde in den 70er- und 80er-Jahren populär auch deshab,
weil er es verstand, zwischen den Zeilen zu schreiben, Andeutungen
zu machen und doch viel mitzuteilen. Immer wieder wird in diesem
Zusammenhang auf seine "Kleine ungarische Pornografie" von 1984
verwiesen, in der das Obszöne nur ein Gleichnis für den
Zustand der Gesellschaft sein sollte. Die politischen
Umwälzungsprozesse 1989 begleitete Esterházy in Essays
und Kolumnen mit bissigem Humor und Ironie. Gleichzeitig fand er es
nicht bedauerlich, dass Literatur nicht mehr so eine zentrale Rolle
spielte. Zehn Jahre später resümiert er: "Das ist gut,
wenn Literatur unwichtig ist. Denn ihre Wichtigkeit war keine
literarische, sondern eine politische, die wie Staub auf der
Literatur pickte. Das war ein sehr moralischer, ein sehr wichtiger
Staub, aber den brauchen wir jetzt nicht mehr."
Die neue Offenheit führte zu neuen Konflikten, und so
konnte am Beginn des Jahres der Autor und Vorstandsmitglied im
Verband ungarischer Schriftsteller, Kornel Döbrentei, in
antisemitischen Äußerungen die Juden als "maskierte
Pseudopropheten" bezeichnen, die einen "moralischen Holocaust"
gegen das "ungarische Volk" führten. Mehr als 200
Schriftsteller, darunter Peter Nádas, György Konrad und
Péter Esterházy, verließen daraufhin im April 2004
den Verband, da sich der Vorstand weigerte, sich von diesen
Äußerungen zu distanzieren. Er mische sich nicht in
tagespolitische Auseinandersetzungen ein, hieß es.
Ein Ausrutscher war das nicht. Immer wieder wird Ungarns
Öffentlichkeit von Antisemitismus-Diskursen heimgesucht. Imre
Kertész trat wegen antisemitischer Ausfälle auch ihm
gegenüber schon 1990 aus dem Schriftstellerverband aus.
Anlässlich der Verleihung des Nobelpreises 2002 beschimpften
ihn national-konservative Medien, allen voran Döbrentei, den
Preis nicht wegen des literarischen Wertes, sondern allein wegen
des Themas bekommen zu haben: Der autobiografisch angelegte "Roman
eines Schicksallosen" thematisiert das Überleben eines
jüdischen Kindes in deutschen Konzentrationslagern.
"Geschmacksterror" nannten sie das.
Gastland bei der Frankfurter Buchmesse zu sein - eigentlich ein
Grund zur Freude. Das war es natürlich auch in Ungarn 1999,
aber das Ereignis löste zugleich einen erbitterten Diskurs
über ungarische Identität, neue Literatur und alte Werte
aus, geprägt von antisemitischen und nationalen Parolen. So
beklagte Istvan Csurka, Chef einer damals im Parlament vertretenen
rechtsextremen Partei, dass die Organisatoren den "kosmopolitischen
Ausverkauf Ungarns" betreiben und die Buchmesse das
"Multikulturelle, Holocaustige, Kosmopolitische" betone. Nationale
Schicksalsfragen dagegen seien tabu. Er scheute sich nicht, einen
Autor als "liberal-homosexuell-hermaphroditisch-kosmopolitisch" zu
bezeichnen. Als die Regierung erkennbar zögerte, sich von
solchen Äußerungen zu distanzieren, sagte Imre
Kertész seine Teilnahme an der Eröffnungsfeier ab.
Dieser Streit war symptomatisch für das, was die ungarische
Literatur seit Mitte des 20. Jahrhunderts in zwei Lager teilt: in
"Urbanisten" und "Populisten". Die "Urbanisten" - unter ihnen viele
Juden - entstammten einem städtischen Bürgertum, waren
meist westlich und weltlich orientiert. Im Gegensatz dazu
betrachteten die Populisten das Bauerntum als das wertvollste, weil
unverdorbenste Element der Nation und sahen in einer modernisierten
bäuerlichen Lebensform die einzige Perspektive des Ungarntums.
Dafür schrieben sie. Doch als sich ihre Ziele, die Befreiung
der Bauern aus feudaler Abhängigkeit und ihr verstärkter
Zugang zu Bildung, erfüllt hatten, kam ihnen ihr Inhalt
abhanden. Es wurde ersetzt durch phrasenhafte Bauernromantik und
nationale Romantik, wohingegen die Urbanisten den Blick stets
über die Grenzen des Landes richteten und dort auch Erfolge
feierten. Nach 1989 gerieten beide Strömungen in ungewohnt
scharfer Form aneinander. Begünstigt dadurch, dass eigentlich
keine - nennenswerte - populistische Literatur in den letzten
Jahrzehnten entstanden ist, die "urbanistische" gleichzeitig im
Westen Erfolge feiert. Auch darum ging es im Buchmessenstreit:
Während die einen für ihre künstlerischen Produkte
einen westlichen Markt suchen und finden, erblicken die anderen in
dieser Suche den Verrat ungarischer Werte und Interessen.
Für die erste Gruppe stehen Autoren wie Imre Kertész,
Péter Esterházy oder Péter Nádas. Nationale
Romantik auf Kosten anderer spielt hier keine Rolle. Esterházy
formuliert es so: "Ich glaube nicht, dass es das ungarisch Gute
gibt, dass es ungarische Werte gibt, und wenn es sie hier gibt,
sind sie ungarisch. [...] Wir sind nicht groß, wir sind klein.
Das ist keine Selbstverachtung, nicht einmal Selbstkritik, nein, es
ist einfach so. Wir sind ein kleines, phantastisches und
bedeutungsloses Land."
Phantastisch schon, aber bedeutungslos? Für solch eine
unkonventionelle Haltung verkleinert sich der Spielraum meist, wenn
ein Land vor politischen Zäsuren steht. Dann geht es genau um
das Gegenteil, nämlich "dem Rest der Welt" die eigene
Bedeutung zu beweisen. Kein Wunder, dass Diskurse über
Identität und politische Werte in solchen Zeiten
Hochkonjunktur haben - auch in Ungarn. Das kleine Land mit, im
wahrsten Wortsinn, einzigartiger Sprache, trat im Mai 2004 der
Europäischen Union bei. Ein historisches Ereignis, auf das
lange hingearbeitet wurde. Auch, was das Verhältnis zur
eigenen Geschichte angeht, das als ein vom Geist der Aufarbeitung
geprägtes erscheinen sollte. Im April wurde in Budapest die
erste Holocaust-Gedenkstätte Ungarns eröffnet. Anlass war
der 60. Jahrestag des Beginns der systematischen Ermordung von
ungefähr 600.000 Juden. Beendet ist der Streit über
dieses Kapitel ungarischer Geschichte deshalb noch lange nicht.
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