Reinhard Lassek
Spürnase für Gefahr der
Zivilisation
Glück und Unglück in Zeiten der
Globalisierung
Zu allen Zeiten strebten die Menschen nach dem Glück. Im
Unglück waren sie auf das Mitleid und die Hilfe ihrer
Mitmenschen angewiesen. Doch die Glückserwartungen - so die
These des Münchener Professors für
Wirtschaftspädagogik Karl-Heinz Geißler - unterlagen
dabei weitaus weniger dem Epochenwandel als die Vorstellungen, in
welchem Zeitrahmen denn jene Hoffnungen und Ansprüche
befriedigt werden sollten.
Im christlichen - vormodernen - Abendland tröstete noch die
theologische Einsicht, dass diesseitiges Le-ben nur "Anlauf zur
Ewigkeit" sei, über ausbleibendes Glück hinweg. In der
Moderne übernahm die Gesellschaft dann jenes Credo der
Ökonomie "Zeit ist Geld". Und als die "Zeit" von der Physik
schließlich als "hartnäckige Illusion" entlarvt wurde,
verlor die Uhr ihre Geltung als absolutes Ordnungsmuster. Der
Abschied vom "chronometrischen Monotheismus" bedeutete zugleich die
Abkehr von der damit verbundenen "Pünktlichkeitsmoral" - was
für die Suche nach dem Glück durchaus befreiend wirkte.
Denn Glückserfahrungen sind in erster Linie nicht mit, sondern
gegen die Uhr möglich.
Die Moderne, so Geißler, ist letztlich daran gescheitert,
"die Rätsel der Zeit mittels Ordnung lösen zu wollen".
Die Postmoderne hingegen akzeptiert, dass unser Umgang mit der Zeit
notwendigerweise zu Widersprüchen und Irritationen führt.
Das Zeitmuster der Moderne - "Beschleunigung durch Steigerung der
Schnelligkeit" - wird daher in der Postmoderne mehr und mehr von
der "Beschleunigung durch Vergleichzeitigung" abgelöst. Unser
zeitliches Ordnungsprinzip ist der "Zugriff auf alles, jederzeit
und überall".
Non-Stop-Programm
Unser Leben gleicht einem pausenlosen Non-Stop-Programm. Das
gilt auch für die Jagd nach Glück und Geld. Denn es
genügt keineswegs, immer schneller zu werden. Größte
zeitliche und räumliche Flexibilität ist gefragt. Denn in
der Welt des "Multitasking" bringt allein die zeitliche Verdichtung
den Erfolg. Nicht mehr eins nach dem anderen, sondern
möglichst mehrere Dinge gleichzeitig gilt es zu erledigen.
Ohne Gejammer über den Zeitgeist oder plumpe Anbiederung an
den Fortschritt legt Geißler mit seinem spannend und zugleich
humorvoll geschriebenen Buch den Finger in die offene Wunde der
Postmoderne: Wir können uns zwar mit einem Mausklick in
London, Rio, Tokio oder New York einfinden, doch weltweit
wächst das ungute Gefühl, dass wir "freigeschalteten
Menschen" grundsätzlich nicht mehr auf dem Laufenden sind.
Hinzu kommt die bittere Erfahrung, dass die täglich
größer werdende Anstrengung, Zeit für sich zu
gewinnen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.
Der Glaube, im Konsum läge das wahre Paradies auf Erden,
übersieht nach Geißlers Ansicht eine kleine, aber
ungemein wichtige Differenz zum biblischen Paradies: "In diesem war
man wunschlos glücklich, während man heute immerzu neue
Wünsche benötigt, um glücklich werden zu
dürfen."
Unsere Suche nach dem "pausenlosen Glück", so Geißlers
erfrischendes Fazit, stößt an heilsame Grenzen: "Das
Glück hat seine Heimat in der Pause." Insofern führt
Geißler den Leser nicht in ein trostloses Zukunftsszenario,
sondern verrät augenzwinkernd, dass vielleicht alles gar nicht
so furchtbar kompliziert ist, wenn man nur einmal darüber
nachdenkt, "warum ein Kaffeestündchen mit lieben Menschen
zufriedener macht als tausend E-Mails".
Unglück und Mitleid
Wer für unruhige Glücksritter des "Multitasking"
ohnehin nur ein mitleidiges Lächeln übrig hat, der wird
sich gern in das ruhigere - aber dafür auch tiefere -
Fahrwasser des brillanten Essays von Henning Ritter begeben. Er
verdeutlicht, dass in Zeiten fortschreitender Globalisierung unser
menschliches Miteinander nicht nur von der "pausenlosen
Glückssuche", sondern - in Anlehnung an Rousseau - auch von
einer "Verdunstung des Mitleids" bedroht ist.
Ritter - Redakteur für das Ressort "Geisteswissenschaften"
bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" - will wissen, ob wir in
einer globalisierten und kommerziell organisierten Welt auch
fähig sind, zugleich das "Mitleid mit dem Leiden der Welt"
auszudehnen, oder ob unser Ethos in eines für das "nahe" und
eines für das "ferne Unglück" zerfällt. Er wird bei
seiner Suche nach den "Anfängen der Ungewissheit über
unsere moralische Zukunft" vor allem bei den Streithähnen
Rousseau und Diderot fündig, spannt jedoch den argumentativen
Bogen mühelos von de Sade über Balzac bis hin zu
Dostojewski, Freud und Jünger.
Bereits Voltaire hatte vor einer Welt gewarnt, deren
Informiertheit weiter reicht als die Gefühle. Doch
während der fortschrittsgläubige Diderot die Einheit des
Menschengeschlechts über die Vernunft herstellen oder bewahren
will, ist für den zivilisationskriti-schen Rousseau ein
Mensch, der reflektiert, bereits für das mitfühlende
Handeln verloren. Ein "kluger" Mann entfernt sich nun einmal
leichter vom Unglücksort als jemand, der sich nicht vom Denken
aufhalten lässt und Notleidenden augenblicklich zu Hilfe
eilt.
Auch wenn Ritter sich weder in die Gefolgschaft Diderots noch
Rousseaus begibt, kann er nicht umhin, Rousseau die bessere
Spürnase für das Gefahrenpotential der Zivilisation zu
attestieren. Moral funktioniert nun einmal besser in kleinen
überschaubaren Gruppen. Und da die "natürlichen
Gefühle" nur in der Nähe wirken, bleiben für die
Ferne nur die "künstlichen Gefühle". Der Kosmopolit, so
Rousseaus hartes Urteil, neigt dazu, in der Ferne Pflichten zu
sehen, die er in der Nähe nicht erfüllen will und
vertauscht schließlich das Ethos der Nähe mit dem der
Ferne - mit der Folge, dass die schwachen Verpflichtungen der Ferne
nur noch dazu dienen, einen hohen moralischen Anspruch mit minderer
Leistung zu verbinden.
Man braucht nicht lange zu suchen, um aktuelle Beispiele
für derartige "Fernstenliebe" zu finden. Ritters
faszinierendes Buch erinnert behutsam an die Fallhöhe, in die
man gerät, wenn man sich allzu blauäugig vom harten
Bodensatz menschlicher Unzulänglichkeiten entfernt.
Karlheinz A. Geißler
Alles. Gleichzeitig. Und zwar sofort.
Unsere Suche nach dem pausenlosen Glück.
Herder Verlag, Freiburg, 2004; 221 S., 19,90 Euro
Henning Ritter
Nahes und fernes Unglück.
Versuch über das Mitleid.
Verlag C. H. Beck, München 2004; 192 S., 19,90 Euro
Reinhard Lassek arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist; er
lebt in Celle.
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