Siegfried Löffler
Spiegelbild der sozialpolitischen
Entwicklung
Eine Bilanz zum 50. Geburtstag des
Bundessozialgerichts
Mit einem Festakt im Kongresspalais der Stadt
Kassel in Gegenwart von Bundessozialministerin Ulla Schmidt (SPD)
und des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU)
beging das Bundessozialgericht (BSG) seinen 50. Geburtstag.
Alt-Bundespräsident Roman Herzog würdigte in seiner
Festansprache den wichtigen Beitrag des BSG für die soziale
Sicherheit in Deutschland. Er sprach sich - ebenso wie Ulla Schmidt
- gegen Pläne zur Abschaffung der Fachgerichtsbarkeit aus.
In knapp 70.000 Urteilen aus 50 Jahren
spiegelt sich die sozialpolitische Entwicklung in Deutschland. Zehn
Jahre nach Kriegsende entfiel mehr als die Hälfte aller
Rechtsstreitigkeiten auf Klagen aus dem Bereich der
Kriegsopferversorgung. Heute sind es weniger als fünf Prozent.
In den 60er- und 70er-Jahren dominierten die Revisionen aus der
Renten-, Unfall- und Krankenversicherung. 40 Berufs- und 112
ehrenamtliche Richter des BSG haben außerdem das letzte Wort,
wenn es um Arbeitslosengeld, Maßnahmen zur beruflichen
Fortbildung und Umschulung, Erziehungs- oder Kindergeld,
Mutterschutzleistungen, Pflegeversicherung, Honorarstreitigkeiten
und Zulassung von Kassenärzten geht. Von Vorteil ist, dass
Versicherten und Versorgungsberechtigten in allen drei Instanzen
der Sozialgerichtsbarkeit keine Gerichtskosten
entstehen.
Sehr wichtig waren und bleiben die
Entscheidungen des BSG zum Unfallversicherungsschutz am
Arbeitsplatz und auf dem Weg hin und zurück. Er wird bei
kurzen Unterbrechungen eingeschränkt und geht bei
räumlich und zeitlich erheblichen Abweichungen verloren. Hier
hat das BSG klare Regeln aufgestellt. Die Krankenhauspflege -
ursprünglich eine "Kann"-Leistung - wurde durch starke
Einschränkung des Ermessens der gesetzlichen Krankenkassen zu
einem Rechtsanspruch.
In der Zeit der Hochkonjunktur hat die
Gesetzgebung die Ansprüche der Bürger gegenüber den
Sozialversicherungsträgern ausgeweitet. Viele glaubten, dass
das so weiter gehen würde. Gegenwärtig zwingt die
Kostenexplosion den Gesetzgeber, einen Teil der bisherigen
Ansprüche - wie zum Beispiel beim Zahnersatz und bei
bestimmten Arzneimitteln - aus dem Leistungskatalog zu streichen
und den Bürgern die private Absicherung gegen diese Risiken
zuzumuten. Bei Ansprüchen aus der vor zehn Jahren geschaffenen
gesetzlichen Pflegeversicherung stellt das BSG hohe Anforderungen
an die Eingruppierung in eine der drei Pflegestufen.
Es kann nicht Aufgabe der Gerichte sein, bei
der Auslegung der Sozialgesetze primär auf die finanziellen
Auswirkungen ihrer Urteile für Sozialversicherungsträger
und Arbeitgeber zu achten. Das muss der Gesetz-
geber vorher bedenken. Das BSG hat jedoch
öfters Hinweise gegeben, was bei künftigen Gesetzen zu
beachten sei. So fand sich etwa in der Urteilsbegründung 3 RK
25/78 vom 24. April 1979 ein deutlicher Hinweis auf die Grenzen der
Belastbarkeit der Solidargemeinschaft: Ein Versicherter war
während einer privaten Afrikareise an einer akuten Hepatitis
erkrankt und konnte dort nicht erfolgreich behandelt werden. Er
ließ sich in einer Sondermaschine der Rettungsflugwacht von
Niger nach Stuttgart transportieren und verlangte von seiner
Krankenkasse die Erstattung der dabei entstandenen Kosten in
Höhe von 30.000 Mark.
Der Mann verlor in letzter Instanz. Das BSG
stellte klar, dass die Transportkosten ins Krankenhaus nicht
höher sein dürften als die der ärztlichen Behandlung
und der Krankenhauspflege. Heute stößt sich freilich
niemand mehr an der Formulierung, die vor 25 Jahren noch in ihrer
Deutlichkeit überraschte: "Den Versicherten, die eine
derartige Reise unternehmen, ist es zuzumuten, sich gegen die damit
verbundenen Risiken durch Abschluss einer Privatversicherung zu
schützen."
Zuweilen orientierte sich der Gesetzgeber an
der Rechtsprechung des BSG, so zum Beispiel bei der Anerkennung
kieferorthopädischer Behandlungen als ärztliche
Leistungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen. Eine
Wechselwirkung zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung gab es
Mitte der 70er-Jahre im Zusammenhang mit der Frage, wann der
Arbeitsmarkt verschlossen war und sich daraus Ansprüche auf
Berufs- beziehungsweise Erwerbsunfähigkeitsrente
ergaben.
Gesetzgeber orientiert sich am BSG
Das BSG hatte im Beschluss GS 2/75 vom 10.
Dezember 1976 die Ansicht vertreten, dass dies dann der Fall sei,
wenn "weder der Rentenversicherungsträger noch das
zuständige Arbeitsamt innerhalb eines Jahres seit Stellung des
Rentenantrags" einen für den Versicherten in Betracht
kommenden Arbeitsplatz anbieten könne. Die Begrenzung der
Wartezeit auf ein Jahr schien dem BSG zumutbar, weil in den meisten
Fällen für diese Zeit Arbeitslosengeld zu beanspruchen
war. Der Gesetzgeber war damit einverstanden. Weil aber viele
Betriebe die Möglichkeiten zur Frühverrentung zu einer
Verlagerung der Kosten betrieblicher Personalanpassungen auf die
sozialen Sicherungssysteme nutzten, geriet die Finanzierbarkeit der
gesetzlichen Rentenversicherung ins Wanken.
Dem Staat blieb nichts anderes übrig,
als mit der Vorverlegung der Abschläge bei Frauen - die
bereits mit 60 Jahren die Altersrente bekommen konnten - und bei
Arbeitslosen gegenzusteuern. Im Urteil B 5 RJ 44/02 R vom 25.
Februar dieses Jahres hat das BSG festgestellt, dass Abschläge
wegen Frühverrentung zulässig sind. Bei der Abwägung
der Interessen der Frührentner an der Beibehaltung der
für sie günstigeren früheren Regelung und des
öffentlichen Interesses an einer Veränderung gebühre
letzterem der Vorrang. Das müssen sich auch die Versicherten
sagen lassen, deren Renten niedriger als erwartet ausfallen, weil
die früher großzügig gewährten
Ausbildungs-Ausfallzeiten stark gekürzt wurden, um primär
die Substanz, das heißt den durch eigene Beitragsleistungen
erbrachten Rentenanspruch zu sichern. Die Rechtsprechung hat das
gebilligt.
Die beachtlichste Leistung vollbrachten die
Richter des BSG vor einem Jahrzehnt, als es galt, nach der
Wiedervereinigung die neuen Bundesländer zu integrieren. Sie
mussten sich vor allem mit vielen Klagen aus dem Bereich der
Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie aus der - in der DDR
nicht existierenden - Kriegsopferversorgung beschäftigen.
Rechtsstreitigkeiten aus den neuen Bundesländern wurden mit
Vorrang erledigt. Waren besonders in den Jahren zwischen 1994 und
1998 unverhältnismäßig viele Prozesse aus dem
früheren Gebiet der DDR gekommen, ist inzwischen der Anteil
der Rechtsuchenden aus den neuen Bundesländern mit 16 bis 17
Prozent identisch mit dem Anteil an der Gesamtbevölkerung
Deutschlands beziehungsweise liegt er sogar darunter. Aus dieser
Normalisierung kann man schließen, dass die Integration der
neuen Bundesländer weitgehend gelang und das Vertrauen der
Bürger in eine unabhängige Rechtsprechung wuchs. Auch das
war ein Grund zum Feiern des runden Geburtstags.
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