Claudia Schute
Positive Bilanz der ersten Arbeiten auf der
Großbaustelle Schulpolitik
Niedersachsen: Das Land setzt seine
Schulstrukturreform um und mit dem angekündigten Rückzug
aus der Kultusminsterkonferenz deren Existenz auf's
Spiel
18 Monate lang ging es in Niedersachsens Schulpolitik zu wie auf
einer Großbaustelle - vor wenigen Wochen starteten die rund
3.700 Schulen des Landes auf einem durch die Schulstrukturreform
der CDU/FDP-Landesregierung völlig neugestalteten Fundament.
"Wir werden das Land aus der Abstiegszone herausholen", hatte
Christian Wulff im Wahlkampf nach 13 Jahren SPD-Regierung
versprochen. Ein ehrgeiziges Ziel, zumal im Sommer 2002 die PISA
II-Studie Niedersachsens Schulqualität im unteren Drittel
verortet hatte. "Strukturelle Unterfinanzierung, Beliebigkeit von
Lerninhalten und ein am ideologischen Wunschdenken orientiertes
Einheitsschul-Konzept, das der Unterschiedlichkeit von Begabungen
nicht gerecht wird", sind für Kultusminister Bernd Busemann
(CDU) rückblickend Ursachen des schulpolitischen
Versagens.
Mit dem Machtwechsel im Februar 2003 verknüpften Eltern,
Lehrer und nicht zuletzt Schüler daher hohe Erwartungen.
Gerade eine Woche war die neue christlich-liberale Landesregierung
im Amt, da wurde mit einem neuen Schulgesetz schon ein umfassender
Kurswechsel eingeleitet, der auf Abbau des Unterrichtsausfalls
sowie eine nachhaltige Qualitätssteigerung abzielte. Bereits
zum Schuljahr 2003/04 wurden für über 100 Millionen Euro
2.500 neue Lehrer eingestellt, die Unterrichtsversorgung stieg auf
nahezu 100 Prozent. Im zweiten Schritt wurde die
Schulstrukturreform in Angriff genommen. Ziel der Koalitionspartner
war es, ein leistungsfähiges, durchlässiges und
wohnortnahes, gegliedertes Schulsystem zu schaffen. Gesetzlich
festgeschrieben und umgesetzt wurden:
- Individuelle Förderung bereits im Kindergarten, unter
anderem durch Sprachförderung sowie durch eine intensivere
Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Grundschule.
- Stärkung der individuellen Förderung: Für alle
Schüler von Klasse 1 bis 10 wird künftig von den Lehrern
ein individueller Förderplan geführt, der besondere
Begabungen, aber auch Defizite ausweist.
- Abschaffung der Orientierungsstufe und Stärkung der
Grundschule: Seit diesem Schuljahr besuchen alle Schüler
weiterführende Schulen ab Klasse 5.
- Stärkung und gesetzlich garantierte Durchlässigkeit
des gegliederten Schulwesens: Bisherige Gesamtschulen haben
Bestandsschutz, müssen sich allerdings in der Konkurrenz zu
anderen Schularten bewähren. Neue Gesamtschulen werden nicht
errichtet. Die Grundschulen geben am Ende der Klasse 4 eine
Schullaufbahnempfehlung ab, über die Schulwahl entscheiden die
Eltern. Damit deren Wahl keine Einbahnstraße ist, haben
Schüler erstmals qua Gesetz bei entsprechenden Leistungen das
Recht, in eine höhere Schulform zu wechseln.
- Unterrichtsangebote werden intensiviert durch früheren
Beginn der ersten und zweiten Fremdsprache, eine Stärkung der
Naturwissenschaften, die Erhöhung der Pflichtstundenzahl an
der Grundschule sowie die geplante Reform der gymnasialen
Oberstufe.
- Eine klarere Profilierung der Hauptschule unter anderem durch
60 bis 80 Praxistage in Betrieben, die verstärkt auf eine
Berufsausbildung vorbereiten. Hauptschulen werden vorrangig mit
Ganztagsangeboten ausgestattet. Ziel der Landesregierung: Die
Hauptschule soll das "Restschulen"-Image verlieren.
- Abitur nach zwölf statt bislang 13 Jahren wie bereits in
sieben anderen Bundesländern.
- Ab 2006 wird das Zentralabitur eingeführt, ab 2007
landesweit einheitliche Abschlussprüfungen auch an
Hauptschulen und Realschulen: Verbindliche, untereinander
vergleichbare Abschlüsse wie in Bayern und
Baden-Württemberg sollen auch in Niedersachsen klare
Leistungsmaßstäbe setzen.
"Durchweg gut" sei die Resonanz auf die Veränderungen
gewesen, erklärte Kultusminister Busemann. Kein
Schulträger habe eine Fristverlängerung zur Abschaffung
der Orientierungsstufe beantragt. Die Zahl der Schulstandorte -
gerade im ländlichen Raum - sei gestiegen. Die Eltern
hätten sich bei der Schulwahl für ihre Kinder im
Großen und Ganzen sehr verantwortungsbewusst verhalten. Die
12.000 Orientierungsstufen-Lehrer seien reibungslos versetzt und
die gleichzeitige Aufnahme dreier Jahrgänge an den
weiterführenden Schulen jetzt im Sommer gut organisiert
worden. "Dass wir diese Herkulesaufgaben unter tatkräftiger
Mithilfe aller Beteiligten bewältigt haben, zeigt, dass unsere
Reformen positiv eingeschätzt werden", so Busemann.
Grundlegende Forderungen seien "nach Jahren des schulpolitischen
Verfalls" nun in hohem Maße erfüllt, befand der
Vorsitzende des Philologenverbands Niedersachsen, Guillermo
Spreckels. "Dass die Orientierungsstufe weggefallen ist,
bekümmert niemanden. Mehr Unterricht und die höchste Zahl
jemals vom Land beschäftigter Lehrer steigern die
Qualität der Schulen im Land", kommentierte die "Neue Presse"
und ernannte Busemann zum "Superschulminister".
Nachdem mit der Schulstrukturreform der organisatorische Rahmen
neugestaltet wurde, wird nun eine Schulreform erarbeitet, die drei
wesentliche Neuerungen vorsieht: Erstens sollen Bildungs- und
Erziehungsziele klar definiert werden. Als Kompass dienen die von
den Kultusministern der Länder Ende 2003 beschlossenen
einheitlichen Bildungsstandards und Niedersachsens
Kernlehrpläne. Auch die landesweiten Abschluss- und
Vergleichsarbeiten werden sich daran ausrichten. Zweitens sollen
Schulen und Lehrer mehr Verantwortung dafür tragen, dass alle
Schüler die gesetzlich festgelegten Ziele erreichen.
Qualitätssicherung und -entwicklung, Personalverantwortung und
Unterrichtsorganisation übernehmen die Schulen, müssen
jedoch künftig Rechenschaft ablegen. Drittens soll nach dem
Vorbild der Niederlande ein Schul-TÜV in Bad Iburg entstehen,
der den Schulen regelmäßig auf den Zahn fühlt. Das
Kultusministerium erwartet von der Schulreform eine nachhaltige
Steigerung der Bildungsqualität. "Wir werden dann auch bei
Vergleichsuntersuchungen nicht mehr auf der Verliererseite stehen.
Es gilt, die Zukunftschancen unserer Kinder und Jugendlichen
nachhaltig zu verbessern", betonte Minister Busemann.
Die SPD im Landtag nahm den kürzlich veröffentlichten
OECD-Bildungsreport und dessen allgemeine Kritik an deutschen
Schulen hingegen zum Anlass für einen Rundumschlag gegen die
Bildungspolitik der Koalition. SPD-Fraktionschef Sigmar Gabriel
forderte, die Bildungsinvestitionen durch Abschaffung der
Eigenheimzulage zu steigern und bescheinigte dem Kultusminister,
der den OECD-Bericht unter anderem aufgrund veralteter Daten
kritisiert hatte, "seinen Beruf verfehlt" zu haben. Ein Stück
weit entlud sich damit auch oppositionelle Hilflosigkeit: An
Niedersachsens Schulen hat eine Revolution von oben stattgefunden,
und niemand von unten hielt es für nötig, dagegen auf die
Barrikaden zu gehen.
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