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Jeannette Goddar
Es ist cool, für die Wirklichkeit zu
rechnen
Immer mehr Schulen gründen Firmen und
bieten Schülern so einen Einstieg in die Praxis
Es ist ja nicht so, dass Victoria Etzold nicht
gern zur Schule gehen würde. Nach der Realschule wechselte sie
freiwillig auf das Fachgymnasium Wittenberg, um ihr Abitur zu
machen. Von Beginn der elften Klasse an stand an der
sachsen-anhaltinischen Schule "Fachpraxis" im Lehrplan, die
Schüler und Schülerinnen möglichst lebensnah auf das
Berufsleben vorbereiten sollte. Victoria Etzold konnte den Stunden
nie viel abgewinnen. Letztlich, sagt sie, hätte sie dort vor
allem am Computer rumgesessen: "Mit Praxis hatte das nicht viel zu
tun."
Bis ihre Fachpraxis-Lehrerin Uta Liemich
einen zündenden Gedanken hatte: Sie regte ihre Schüler
an, eine Firma zu gründen. Victoria Etzold und einige andere
waren sofort Feuer und Flamme. Binnen weniger Wochen wurde ein
Konzept geschrieben; kurze Zeit später ging die
Schülerfirma "flex-evo" an den Start. Mit 450 Euro
Startkapital gründeten die Jugendlichen eine Eventagentur. In
der Lutherstadt Wittenberg, aber auch in der Landeshauptstadt
Magdeburg boten sie ihre Dienste an. Tatsächlich kam über
die Monate der eine oder andere schöne Auftrag rein: Die
Organisation der Weihnachtsfeier für die eigene Schule; aber
auch die Ausrichtung eines Volleyballturniers und eines
mittelalterlichen Abends von anderen Auftraggebern.
Die 17-Jährige avancierte zur
Geschäftsführerin des achtköpfigen Unternehmens. Am
Anfang arbeitete sie in der Verwaltung mit - außer der
Abteilung "Verwaltung" gab es "Organisation", "Finanzen" und
Marketing" - doch schon bald musste in dem jungen Unternehmen
umstrukturiert werden. Mehrere Jugendliche fühlten sich auf
ihrer Position überfordert, wollten wechseln oder warfen
gleich das Handtuch. Auch die Geschäftsführerin kam in
ihrer neuen Rolle als Moderatorin und Verantwortliche nicht
zurecht. Als Ersatz fiel die Wahl auf Victoria.
Die fand sich besser, aber auch nur nach und
nach in den Posten ein: Nie hätte sie gedacht, welch
große Rolle gruppendynamische Prozesse und Teamgeist im
"echten Leben" spielten, sagt sie: "Jeder hatte eine feste
Position. Jeder war auf den anderen angewiesen. Und jeder musste
pünktlich und zuverlässig seine Arbeit erledigen, damit
nicht die ganze Gruppe durchhängt. Bis wir das raus hatten,
hat es mindestens ein halbes Jahr gedauert."
Um genau diese so genannten "soft skills" und
natürlich betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse zu
vermitteln, sind Schülerfirmen da. An immer mehr Schulen
entstehen seit ein paar Jahren kleine Unternehmen; auf Initiative
von Lehrern und/oder Schülern. Viele Schülerfirmen
beschränken sich auf innerschulische Dienste wie den Betrieb
eines Kiosks, den Verkauf von Milch oder die Betreuung von
Schulfesten. Manchmal wird aber auch eine regelrechte
Gründungsidee verwirklicht: Es gibt Schülerfirmen, die
Klassenfahrten organisieren, Schulhöfe verschönern oder
Unterrichtsmaterialien entwickeln. Andere produzieren Schreibtische
oder Sitzsäcke, bedrucken T-Shirts, erstellen Websites oder
überspielen die alten Langspielplatten auf CD.
Manchmal wird aus einer Schülerfirma
sogar ein Arbeitgeber: So manche Internetfirma, aber auch
Reisebüros wurden im Klassenraum entworfen.
Beim Firmenbetrieb während der Schulzeit
soll es zwar professionell zugehen, aber sich dennoch nicht alles
um Geld drehen. Formal gelten Schülerunternehmen als
pädagogische Projekte, die nicht beim Gewerbeaufsichtsamt und
Finanzamt gemeldet werden müssen. Sie dürfen reale Firmen
nicht in ihrer Existenz bedrohen, nicht mehr als 3.835 Euro
jährlich als Gewinn verbuchen und höchstens 30.000 Euro
umsetzen.
Letztlich geht es aber auch gar nicht um
Gewinn. Schülerfirmen, sagt Marion Hüchtermann, die das
Projekt "Junior" beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln
leitet, seien ein ideales Konstrukt, um Jugendlichen soziale
Kompetenzen und Wissen über wirtschaftliche Zusammenhänge
zu vermitteln. "Junior" fördert seit zehn Jahren und in 13
Bundesländern Schülerfirmen.
Mit Hilfe der auf ein Jahr begrenzten
institutionellen und finanziellen Unterstützung haben
inzwischen 20.000 Jugendliche 1.500 Firmen gegründet und
wieder abgewickelt. 80 Prozent von ihnen, sagt Hüchtermann,
gäben danach an, ein besseres Verständnis von Wirtschaft
und sich persönlich weiter entwickelt zu haben. "Das sind
großartige Werte", so Hüchtermann.
Schülerfirmen sind aber nicht nur etwas
für angehende Abiturienten. In Berlin zum Beispiel haben
Haupt- und Berufsschüler im Gründungsfieber die Nase
vorn: Fast jede zweite der 251 Haupt- und Berufsschulen hat eine
Schülerfirma; häufig integriert in den
Arbeitslehre-Unterricht. Gerade für Hauptschüler, wissen
Erziehungswissenschaftler, ist der Kontakt mit der Praxis wichtig.
Nicht nur, weil sie dort Dinge lernen, die sie für eine
erfolgreiche Bewerbung auf dem immer enger werdenden
Lehrstellenmarkt brauchen. Sondern auch, weil praktisches Lernen
Zuversicht bringt: "Die so genannte
‚Selbstwirksamkeitserwartung' erhöht sich", sagt Dieter
Lenzen, Erziehungswissenschaftler und Präsident der Freien
Universität Berlin. Durch den Kontakt mit der Praxis trauten
sich Schüler mehr zu. Und: "Selbstvertrauen ist die zentrale
Voraussetzung, um überhaupt zu lernen."
Das hat auch Andreas Ebertz erfahren. Zu
Beginn der zehnten Klasse musste sich der 17-jährige
Braunschweiger für eine der fünf Abteilungen der
Schulfirma regelrecht bewerben. Er verfasste einen Lebenslauf und
absolvierte ein Vorstellungsgespräch. Darin sollte er
plausibel machen, warum er in der Buchhaltung arbeiten wollte,
warum er sich für geeignet hielt und was er sich von dem Job
versprach. "Schlimm" sei das gewesen, sagt er - in seinem ganzen
Leben sei er noch nicht so nervös gewesen. Aber: Er wurde
eingestellt. Fortan war er einen Tag in der Woche im Büro der
Firma beschäftigt, die kleine Aufträge für
Unternehmen in der Umgebung übernahm. Heute sagt er, dass ihm
die Mitarbeit in der Schulfirma viel besser gefallen habe als der
Unterricht. Weil es keine Zensuren gab? Nein, erzählt der
17-Jährige. Sondern weil er das Gefühl hatte, ein
"Training für später", wie er es nennt, zu absolvieren:
Es sei doch "viel cooler", sagt er, etwas auszurechnen, womit man
am Ende auch etwas anfangen kann, als "immer nur irgendwelche
Aufgaben zu lösen, die sich irgendwer für einen
ausgedacht hat".
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