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Das Parlament
Nr. 41-42 / 04.10.2004


 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Jeannette Goddar

Es ist cool, für die Wirklichkeit zu rechnen

Immer mehr Schulen gründen Firmen und bieten Schülern so einen Einstieg in die Praxis
Es ist ja nicht so, dass Victoria Etzold nicht gern zur Schule gehen würde. Nach der Realschule wechselte sie freiwillig auf das Fachgymnasium Wittenberg, um ihr Abitur zu machen. Von Beginn der elften Klasse an stand an der sachsen-anhaltinischen Schule "Fachpraxis" im Lehrplan, die Schüler und Schülerinnen möglichst lebensnah auf das Berufsleben vorbereiten sollte. Victoria Etzold konnte den Stunden nie viel abgewinnen. Letztlich, sagt sie, hätte sie dort vor allem am Computer rumgesessen: "Mit Praxis hatte das nicht viel zu tun."

Bis ihre Fachpraxis-Lehrerin Uta Liemich einen zündenden Gedanken hatte: Sie regte ihre Schüler an, eine Firma zu gründen. Victoria Etzold und einige andere waren sofort Feuer und Flamme. Binnen weniger Wochen wurde ein Konzept geschrieben; kurze Zeit später ging die Schülerfirma "flex-evo" an den Start. Mit 450 Euro Startkapital gründeten die Jugendlichen eine Eventagentur. In der Lutherstadt Wittenberg, aber auch in der Landeshauptstadt Magdeburg boten sie ihre Dienste an. Tatsächlich kam über die Monate der eine oder andere schöne Auftrag rein: Die Organisation der Weihnachtsfeier für die eigene Schule; aber auch die Ausrichtung eines Volleyballturniers und eines mittelalterlichen Abends von anderen Auftraggebern.

Die 17-Jährige avancierte zur Geschäftsführerin des achtköpfigen Unternehmens. Am Anfang arbeitete sie in der Verwaltung mit - außer der Abteilung "Verwaltung" gab es "Organisation", "Finanzen" und Marketing" - doch schon bald musste in dem jungen Unternehmen umstrukturiert werden. Mehrere Jugendliche fühlten sich auf ihrer Position überfordert, wollten wechseln oder warfen gleich das Handtuch. Auch die Geschäftsführerin kam in ihrer neuen Rolle als Moderatorin und Verantwortliche nicht zurecht. Als Ersatz fiel die Wahl auf Victoria.

Die fand sich besser, aber auch nur nach und nach in den Posten ein: Nie hätte sie gedacht, welch große Rolle gruppendynamische Prozesse und Teamgeist im "echten Leben" spielten, sagt sie: "Jeder hatte eine feste Position. Jeder war auf den anderen angewiesen. Und jeder musste pünktlich und zuverlässig seine Arbeit erledigen, damit nicht die ganze Gruppe durchhängt. Bis wir das raus hatten, hat es mindestens ein halbes Jahr gedauert."

Um genau diese so genannten "soft skills" und natürlich betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse zu vermitteln, sind Schülerfirmen da. An immer mehr Schulen entstehen seit ein paar Jahren kleine Unternehmen; auf Initiative von Lehrern und/oder Schülern. Viele Schülerfirmen beschränken sich auf innerschulische Dienste wie den Betrieb eines Kiosks, den Verkauf von Milch oder die Betreuung von Schulfesten. Manchmal wird aber auch eine regelrechte Gründungsidee verwirklicht: Es gibt Schülerfirmen, die Klassenfahrten organisieren, Schulhöfe verschönern oder Unterrichtsmaterialien entwickeln. Andere produzieren Schreibtische oder Sitzsäcke, bedrucken T-Shirts, erstellen Websites oder überspielen die alten Langspielplatten auf CD.

Manchmal wird aus einer Schülerfirma sogar ein Arbeitgeber: So manche Internetfirma, aber auch Reisebüros wurden im Klassenraum entworfen.

Beim Firmenbetrieb während der Schulzeit soll es zwar professionell zugehen, aber sich dennoch nicht alles um Geld drehen. Formal gelten Schülerunternehmen als pädagogische Projekte, die nicht beim Gewerbeaufsichtsamt und Finanzamt gemeldet werden müssen. Sie dürfen reale Firmen nicht in ihrer Existenz bedrohen, nicht mehr als 3.835 Euro jährlich als Gewinn verbuchen und höchstens 30.000 Euro umsetzen.

Letztlich geht es aber auch gar nicht um Gewinn. Schülerfirmen, sagt Marion Hüchtermann, die das Projekt "Junior" beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln leitet, seien ein ideales Konstrukt, um Jugendlichen soziale Kompetenzen und Wissen über wirtschaftliche Zusammenhänge zu vermitteln. "Junior" fördert seit zehn Jahren und in 13 Bundesländern Schülerfirmen.

Mit Hilfe der auf ein Jahr begrenzten institutionellen und finanziellen Unterstützung haben inzwischen 20.000 Jugendliche 1.500 Firmen gegründet und wieder abgewickelt. 80 Prozent von ihnen, sagt Hüchtermann, gäben danach an, ein besseres Verständnis von Wirtschaft und sich persönlich weiter entwickelt zu haben. "Das sind großartige Werte", so Hüchtermann.

Schülerfirmen sind aber nicht nur etwas für angehende Abiturienten. In Berlin zum Beispiel haben Haupt- und Berufsschüler im Gründungsfieber die Nase vorn: Fast jede zweite der 251 Haupt- und Berufsschulen hat eine Schülerfirma; häufig integriert in den Arbeitslehre-Unterricht. Gerade für Hauptschüler, wissen Erziehungswissenschaftler, ist der Kontakt mit der Praxis wichtig. Nicht nur, weil sie dort Dinge lernen, die sie für eine erfolgreiche Bewerbung auf dem immer enger werdenden Lehrstellenmarkt brauchen. Sondern auch, weil praktisches Lernen Zuversicht bringt: "Die so genannte ‚Selbstwirksamkeitserwartung' erhöht sich", sagt Dieter Lenzen, Erziehungswissenschaftler und Präsident der Freien Universität Berlin. Durch den Kontakt mit der Praxis trauten sich Schüler mehr zu. Und: "Selbstvertrauen ist die zentrale Voraussetzung, um überhaupt zu lernen."

Das hat auch Andreas Ebertz erfahren. Zu Beginn der zehnten Klasse musste sich der 17-jährige Braunschweiger für eine der fünf Abteilungen der Schulfirma regelrecht bewerben. Er verfasste einen Lebenslauf und absolvierte ein Vorstellungsgespräch. Darin sollte er plausibel machen, warum er in der Buchhaltung arbeiten wollte, warum er sich für geeignet hielt und was er sich von dem Job versprach. "Schlimm" sei das gewesen, sagt er - in seinem ganzen Leben sei er noch nicht so nervös gewesen. Aber: Er wurde eingestellt. Fortan war er einen Tag in der Woche im Büro der Firma beschäftigt, die kleine Aufträge für Unternehmen in der Umgebung übernahm. Heute sagt er, dass ihm die Mitarbeit in der Schulfirma viel besser gefallen habe als der Unterricht. Weil es keine Zensuren gab? Nein, erzählt der 17-Jährige. Sondern weil er das Gefühl hatte, ein "Training für später", wie er es nennt, zu absolvieren: Es sei doch "viel cooler", sagt er, etwas auszurechnen, womit man am Ende auch etwas anfangen kann, als "immer nur irgendwelche Aufgaben zu lösen, die sich irgendwer für einen ausgedacht hat".

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