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Susanne Balthasar
Filme aus der Sackgasse oder wie Kultur zum
Erfolg wird
Dokumentarkino ist Trend: Jetzt hat das Genre in
Berlin sogar ein eigenes Kino bekommen
Die Suche führt in die Sackgasse: Rungestraße 20, eine
abgelegene Straße am Rande von Berlin-Mitte, ein altes
Industriegebäude im zweiten Hinterhof. Laufpublikum verirrt
sich sicher nicht in diese halbtote Ecke. Ein merkwürdiger Ort
für ein merkwürdiges Kino. Im zweiten Stock liegt das
Dokument-Kino, das europaweit einzige Filmtheater für
Dokumentarfilme, wie der Betreiber Knut Beulich versichert. Vor der
Vorstellung klebt Beulich noch schnell die Filmstreifen zusammen.
Heute läuft in der Abendvorstellung "Sein und Haben", der
Erfolgsfilm über eine französische Zwergschule. Um 18:00
Uhr zeigt Beulich "Die Fünfte", einen Film über eine
Grundschule im Prenzlauer Berg, der noch nie irgendwo gelaufen ist:
"Ich bin gespannt, wer sich das antut."
So geht das meistens. Das Dokument-Kino zeigt Filme wie "Die
Fünfte" oder "Wo der Himmel die Erde berührt", eine
Dokumentation aus Kirgisien über der Konflikt zwischen
traditionell nomadischer Lebensweise und der industriellen
Ausbeutung von Bodenschätzen, also derart kleine Filme, dass
sie kein ökonomisch denkender Mensch auf die große
Leinwand bringen würde. Aber Knut Beulich denkt auch nicht
ökonomisch: "Auch wenn sich nur einer hierher gekämpft
hat, dann zeige ich den Film." Auch das kommt vor. Ein Gast
für den Einmannbetrieb. Knut Beulich hat sein Lichtspielhaus
im Alleingang geschaffen, hat die Wände gestrichen, den
Fußboden verlegt und eine Bar zusammen gezimmert. Er hat einen
Secondhand-Projektor aufgetrieben und bei E-Bay Sitzreihen
ersteigert - Kinos, die Pleite machen, gibt es schließlich
genug. 30 haben allein in Berlin in den letzten vier Jahren
geschlossen. Na und? mag sich Beulich gesagt und sein "Experiment"
auf den Überresten gescheiterter Filmträume errichtet
haben. Und manchmal funktioniert das Experiment sogar.
Es gibt Tage, an denen alle 100 Plätze ausverkauft sind,
und das sind meistens die Tage, an denen das Programm besonders
bizarr ist. Einer der Erfolgsfilme hieß "Die rote Kapelle" und
handelte von eine Berliner Widerstandsbewegung im Dritten Reich;
der andere dokumentierte die SM-Szene, "hart an der Pornografie",
wie Beulich sagt. Dass diese Film so viel Publikum gefunden haben,
hängt mit ihrer Abseitigkeit zusammen: Den einen sahen sich
die zahlreichen Nachfahren der Roten-Kapelle-Mitglieder an, den
anderen die halbe Berliner SM-Szene. Langsam hat Beulich begriffen,
wie der Erfolg funktioniert: "Je kleiner das Zielpublikum ist,
desto mehr kommen." Die Nische als Chance?
Der Dokumentarfilm jedenfalls hat seine Nische verlassen. In
letzter Zeit überschlagen sich die Erfolgsmeldungen: "Deep
Blue" sahen 750.000 Deutsche, bei der "Die Geschichte des weinenden
Kamels" waren es 250.000, und "Höllentour", Pepe Danquarts
Tour de France-Film, erreichte 70.000 Zuschauer. Auch "Buena Vista
Social Club" oder "Black Box BRD" sind echte Kassenschlager
gewesen. Die Wirklichkeit erobert die Kinos, und das, obwohl die
Zuschauerzahlen insgesamt rückläufig sind, und selbst
Hollywoods Megaproduktionen immer öfter um das Einspielen der
Produktionskosten kämpfen müssen. Gemessen an den
Spielfilmen, sind die Dokumentarfilme Low-Budget-Produktionen, mit
einer im Erfolgsfall höheren Gewinnspanne. Doch trotzdem
schaffen nur zehn von 1.000 Filmen den Sprung auf die große
Leinwand, schätzt Knut Beulich. Allein in die Kopie muss ein
Kino rund 20.000 Euro investieren, weshalb hauptsächlich
populäre Themen in den Kinos landen. "Da geht einem viel durch
die Lappen", glaubt Beulich, "zum Beispiel Filme, die auch ihr
Publikum finden könnte, aber eben nicht die 30.000". Es gibt
unzählige solcher Filme. Weil die Technik immer leichter zu
bedienen ist, drehen immer mehr Filmverrückte einfach drauf
los. Fertig ist der Film. Knut Beulich, der auch Dokumentarfilme
produziert, hat selber so angefangen und in Eigenregie einen Inder
porträtiert. Solche Filme sucht er auch für sein Kino auf
Festivals oder im Fernsehen. Manchmal taucht auch jemand mit einer
selbst gedrehten Cassette bei ihm auf. Beulichs Programmkriterien:
"Wenn etwas total verrückt ist, dann möchte ich das
ausprobieren."
Ein bisschen verrückt sind aus kommerzieller Kinosicht wohl
auch die Gäste, die sich in die Rungestraße verirren. Die
vier, die sich am frühen Abend "Die Fünfte" anschauen
wollen, wissen nichts über den Film: Hauptsache Dokfilm. Das
ist doch spannend, nicht zu wissen, was da auf einen zukomme,
erzählt einer, und im Fernsehen seien solche Filme ja kaum
noch zu sehen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen versteckt
solche Filme meistens im Spätprogramm - zu wenig Quote. Und
dennoch boomt der Dokumentarfilm auch im Fernsehen. Das fand
zumindest eine Untersuchung der Landesanstalt für Medien
Nord-rhein-Westfalen heraus: Fast 1.500 Dokumentationen liefen
allein im Oktober des vergangenen Jahres - das sind gut 1.000
Stunden Programm. Während der klassische Dokumentarfilm in der
Nacht versinkt, drängeln sich auf den besseren
Sendeplätzen die artverwandten Formate: Doku-Soaps und
Doku-Dramen, in denen die Wirklichkeit nach den Gesetzen der
Fiktion dramaturgisiert wird. Tanzkurse und Müttertausch,
Diätversuche und Fahrschüler - solange die Protagonisten
Normalmenschen sind, schauen die Leute zu. Das
öffentlich-rechtliche Fernsehen setzt auf die nach den Regeln
der Unterhaltungsformate gestylten Doks, aber auch die Privaten
machen mit der Wirklichkeit Quote: Big-Brother-Container,
Superstar-Suche, Dschungel-Camps und demnächst auch mit
OP-Shows.
Von dieser Entwicklung wiederum profitiert das Kino. Keiner hat
die neue Kreuzung von Dokumentation und Fiktion so erfolgreich
umgesetzt wie Michael Moore. Sein "Fahrenheit 9/11" hat nicht nur
als erste Dokumentation die "Goldene Palme" in Cannes gewonnen,
sondern als erster Dokumentarfilm 100-Millionen-Zuschauer erreicht.
Mit der objektiv-distanzierten Beobachtung des klassischen Formats
ist es im Falle Moore indes vorbei: Ungeniert setzt er sich selbst
ins Bild und dreht den Film nach seiner Meinung. "Propaganda"
schreien die Einen, "gute Unterhaltung" kontern die Anderen. Auf
jeden Fall ein Riesengeschäft: Insgesamt haben Dokumentationen
in den USA 2003 einen Gewinn von 49,2 Millionen Dollar gemacht.
1998 waren es nur 7,6 Millionen. Seit Michael Moore gezeigt hat,
wie man den Dokfilm auf Kassenknüller dreht, ziehen andere
Regisseure nach: Morgan Spurlocks "Super Size Me" ist so ein
Hybrid, der zwar nicht die Moore-Rekorde erreicht, aber trotzdem
sein Geld einspielt.
Mit dem großen Geld hat Knut Beulich trotz des Booms indes
nichts zu schaffen. Mit seinen klassischen Filmen und drei Euro
Eintrittspreis kann der Mann nicht reich werden. Deshalb nennt er
sein Kino auch keine Geschäftsidee, sondern eine "Kulturidee".
Eine Nische für Liebhaber, an denen der Trend vorbeigeht.
Beulich selbst ist auch so einer. Ein guter Film, das hat für
ihn weniger mit Kurzweil zu tun, sondern "gut gemacht heißt
für mich, dass ich einen Menschen kennen lerne und mehr
über ihn erfahre. Das funktioniert auch in 100 Jahren noch".
Das erste Kinojahr ist mit dieser Minimal-Philosophie nicht
schlecht gelaufen, "erstaunlich gut", sagt Knut Beulich. Trotzdem
wird er auch im zweiten Jahr seine ganze Freizeit in das Projekt
investieren und seinen Lebensunterhalt mit eigenen Filmen verdienen
müssen. Ob das auf Dauer gut gehen kann? "Ich mag total gern
den Alexis Sorbas", sagt Knut Beulich, "der sich in einem halben
Jahr Arbeit eine Seilbahn gebaut hat, um die Baumstämme zum
Meer zu bringen. Beim ersten Baumstamm funktioniert es noch, beim
zweiten fängt`s an zu wackeln, und beim dritten kracht es dann
ganz malerisch zusammen. Und er freut sich und führt einen
Tanz auf, weil das so malerisch zusammengekracht ist."
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