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Matthias Lohre
Überwachung systemfeindlicher
Kinderzimmer
DDR-Führung setzte junge Menschen und ihre
Lehrer als Stasi-Mitarbeiter ein
Die Stasi schlich sich in der "Milchbar" in das Leben von Utz
Rachowski. Das war 1971. Er war gerade 16 Jahre alt. Genauso alt
wie der Junge, der so still neben ihm und fünf anderen
Teenagern auf der Café-Bank im sächsischen Reichenbach
gesessen und ihn verraten hatte: an die Lehrer der gemeinsam
besuchten Schule und an die Staatssicherheit. Der junge
Inoffizielle Mitarbeiter (IM) hatte seinen Lehrern von der
tschechoslowakischen Flagge im Zimmer seines Altersgenossen
erzählt - wenige Jahre nach dem Prager Frühling empfand
die DDR-Führung so etwas als Bedrohung. Genauso wie das Zitat
von Immanuel Kant, das auf einem Zettel an der Wand prangte:
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst
verschuldeten Unmündigkeit." Dies und das Engagement in einer
lokalen Kirchengruppe reichten den Stasi-Leuten für ihr
vernichtendes Urteil: "Staatsfeindliche Gruppenbildung" und
"staatsfeindliche Hetze". Von nun an war für das halbe Kind
Utz Rachowski, das von einem anderen halben Kind ausspioniert
worden war, nichts mehr wie zuvor.
Ein Ministeriums-Mann holte Rachowski vom Schulhof weg zum
Verhör ins Direktorzimmer. Der junge Mann, der Marx und Engels
im Original las und seine Lehrer dadurch in Verlegenheit brachte,
war dem Stasi-Offizier zu unangepasst. Die Folge: Ausschluss aus
der Erweiterten Oberschule. Der Traum von Abitur und Studium war
damit geplatzt. Stattdessen musste Utz Rachowski eine
Elektrikerlehre absolvieren. Erst Jahre später, da war er
schon Mitte 20, durfte er mit Glück das Abitur nachholen und
studieren. Doch schon bald wurde er verhaftet und 1980
schließlich ausgebürgert. Keiner seiner fünf Freunde
aus der Kirchengruppe, die mit ihm in der "Milchbar" gesessen
hatten, durfte später auf eine Hoch- oder Fachschule.
Schicksale wie diese wurden mitgeformt von halbwüchsigen
Schülern, die nur selten verstanden, was sie taten. Und von
Lehrern, die ihr Wissen an die Stasi weiterleiteten. In Sachsen
bietet sich nun die vermutlich letzte Chance, solche
Ungerechtigkeiten ans Licht zu bringen. Das Kultusministerium des
Freistaats hat Mitte Oktober beschlossen, alle Lehrer erneut auf
eine mögliche Stasi-Mitarbeit zu durchleuchten. Ende 2006
läuft diese Überprüfungsmöglichkeit aus. Anlass
für die Wiederholungsanträge ist die Freigabe der so
genannten Rosenholz-Dateien, 381 CD-ROMs mit Informationen
über das Agentennetz des Auslandsgeheimdienstes der DDR. Die
Akten unterliegen seit Juli 2003 nicht mehr der Geheimhaltung.
Mehrere Landtage haben sich daher entschlossen, die Mitarbeiter des
öffentlichen Dienstes noch einmal zu untersuchen. Die
Hoffnung: bislang unerkannte IMs in der alten Bundesrepublik, aber
auch in der DDR zu enttarnen. Schließlich führte der
Auslandsgeheimdienst der Stasi den "Kampf gegen den Feind" nicht
nur außerhalb, sondern auch innerhalb der streng bewachten
Grenzen. Informanten der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) der
Staatssicherheit könnten bis heute im Staatsdienst arbeiten,
vermutet daher das sächsische Kultusministerium. Fast alle
Mitarbeiter werden überprüft. Nur, wer zu Beginn 1990
unter 18 Jahren war oder zum Jahresende aus dem Schuldienst
ausscheidet, ist nicht betroffen. So kommen auch Westdeutsche, die
heute in Sachsen arbeiten, unter die Lupe der
Birthler-Behörde. "Damit wollen wir verhindern, dass eine
Zweiklassengesellschaft in den Lehrerzimmern entsteht",
begründet Ministeriumssprecher Dieter Herz die
Entscheidung.
Doch eine Personengruppe wird von solchen Untersuchungen nicht
erfasst: Wer als Minderjähriger seine Mitschüler, Freunde
oder Vereinskollegen ausspionierte, bleibt unbehelligt. Die
Birthler-Behörde darf Informationen über junge Menschen
wie den, der mit 16 Jahren Utz Rachowski anschwärzte, nicht
veröffentlichen. Der Bespitzelte kann heute nachvollziehen,
was den stillen Jungen auf der Bank neben ihm antrieb: "Er kam aus
einem bettelarmen Elternhaus und wollte endlich einmal irgendwo
dazugehören. Außerdem war er kein guter Schüler.
Durch die Bespitzelungen wollte er sich vermutlich für ein
Hochschulstudium qualifizieren", sagt Rachowski.
Damit stand der minderjährige Spion nicht allein. Das
Ministerium für Staatssicherheit durchkämmte bereits
siebte Schulklassen nach zukünftigen Informanten. Wer
Interesse zeigte und der Stasi tauglich schien, dem winkte nach der
Schule eine Offizierslaufbahn in der Nationalen Volksarmee. Auch
hauptamtliche Ministeriums-Mitarbeiter in spe wurden so geworben.
Ihre möglichen Helfer sprach die Stasi direkt in der Schule
an. Jedem jugendlichen IM stand ein Führungsoffizier zur
Seite, der regelmäßig Berichte und Termine koordinierte.
Ein eigenes Forschungsfeld der "Operativen Psychologie" befasste
sich an der Hochschule des MfS in Potsdam mit der Rekrutierung von
Jugendlichen. Oft ist heute nur noch schwer nachzuweisen, wer
für die Stasi spionierte. Denn die Schüler verpflichteten
sich nur mündlich zur Mitarbeit. Erst, wer volljährig
war, unterschrieb einen IM-Verpflichtungsvertrag.
Die argwöhnische DDR-Führung missbrauchte diese jungen
Menschen, um eine Generation unter Kontrolle zu halten, die sich
ihr entfremdete. Zwar wuchs die Jugend im Sozialismus auf, doch die
Entspannungspolitik mit der Bundesrepublik seit Anfang der
70er-Jahre barg aus SED-Sicht die Gefahr verstärkter
"Infiltrierung" durch Westkontakte. Auch hatten Menschen wie Utz
Rachowski gerade erst mit ansehen müssen, wie sowjetische
Panzer die Hoffnungen auf einen "Sozialismus mit menschlichem
Antlitz" im Prager Frühling 1968 zerstörten. Der Staat
misstraute seiner Jugend. Die Zahl der IMs nahm ständig zu.
Ihr Auftrag: Überwachung, Beeinflussung und Zersetzung
"feindlicher Subkulturen". 173.000 Inoffizielle Mitarbeiter
registrierte die Stasi 1988 in ihren Karteien. Sechs Prozent von
ihnen waren unter 18 Jahren. Zu diesen 10.000 Jugendlichen kamen
noch einmal 7.000 Inoffizielle Mitarbeiter zwischen 18 und 24
Jahren.
Fast 15 Jahre nachdem mutige DDR-Bürger mit dem Ruf "Ich
will meine Akte sehen!" in Berlin, Erfurt und anderen Städten
Stasi-Gebäude erstürmten, sind noch immer erst 58 Prozent
der erhaltenen MfS-Akten erschlossen. Auch die Geschichte von Utz
Rachowskis Bespitzelung ist noch nicht vollständig
rekonstruiert. Nach drei Anträgen auf Akteneinsicht glaubt der
50-Jährige, dass weitere Spitzel-Informationen auf ihre
Entdeckung warten. Etwa in den 16.000 Papiersäcken mit rund
600 Millionen Papierschnipseln, die in der Berliner Zentrale der
Birthler-Behörde lagern. Hektische Stasi-Mitarbeiter in allen
Bezirksstellen hatten Tausende Akten im Wendewinter 1989/90
geschreddert und zerrissen, als sich das Ende des "Schilds und
Schwerts der Partei" ankündigte. Die Geschichte der
jugendlichen IMs ist daher noch lange nicht erschlossen.
Über den stillen Jungen, der am Anfang seiner
zerstörten Jugend stand, weiß Utz Rachowski bis heute nur
wenig. Keiner von beiden hat mit dem anderen Kontakt aufgenommen.
Doch Groll hegt der heutige Schriftsteller nicht gegen den ersten
der vielen Spitzel, die auf ihn angesetzt waren: "Er wusste doch
kaum, was er anderen antat. Die wahren Schuldigen sind die
Männer im Ministerium, die halbe Kinder zu ihren Instrumenten
machten."
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