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Susanne Kailitz
Abgeordnete: Berufene oder Märtyrer?
Eine Jenaer Studie untersucht das
Selbstverständnis der Parlamentarier
Politik, so führte Max Weber 1919 in seinem legendär
gewordenen Vortrag "Politik als Beruf" aus, sei das "langsame
Bohren von harten Brettern". Wer sie sich zum Beruf gemachte habe,
müsse vor allem über Sachlichkeit,
Verantwortungsbewusstsein und Leidenschaft verfügen. Wie steht
es darum bei den deutschen Parlamentariern? Ist Politik für
sie Beruf oder Berufung? Diese und andere Fragen will eine Studie
der Friedrich-Schiller-Universität Jena beantworten.
Dafür wurden im vergangenen Jahr 954 Abgeordnete des
Bundestags, der Länderparlamente und des Europäischen
Parlaments befragt.
Erste Ergebnisse der großen Abgeordnetenbefragung
präsentierten Professor Heinrich Best und Stefan Edinger nun
vor der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen. Es sei das
Anliegen der Untersuchung, so Edinger, "ein realistisches Bild der
repräsentativen Demokratie und ihrer Akteure" zu zeichnen. Ein
ehrgeiziges Anliegen, liegen wohl bei kaum einer Berufsgruppe der
Welt Selbsteinschätzung und öffentliche Wahrnehmung so
weit auseinander wie bei Politikern. Während "normale"
Arbeitnehmer gern horrend hohe Gehälter und unzählige
Vergünstigungen heranziehen, um den Politikerberuf zu
beschreiben, sehen Abgeordnete sich und ihre Aufgaben selbst ganz
anders.
Lust und Frust des Mandats
Bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 60 Stunden in
sitzungsfreien Wochen und 67 Stunden in Sitzungswochen beklagen 64
Prozent der Bundestagsabgeordenten, dass sie zu wenig Zeit für
ihr Privatleben hätten, und 56 Prozent, dass zu wenig Zeit
sei, um über Probleme vertiefend nachzudenken. Nur 20 Prozent
der Befragten gaben hingegen an, sie hätten ein Problem mit
der Kluft zwischen den eigenen politischen Vorstellungen und dem,
was sie als Abgeordnete im politischen Alltag vertreten
müssten.
Demgegenüber gibt über die Hälfte der
Abgeordneten zu, durch das Mandat Prestigegewinne und eine
verbesserte Einkommenslage zu verzeichnen. Ohnehin scheinen die
Vorteile des Berufs bei weitem zu überwiegen: Über drei
Viertel der Abgeordneten würden ihren Kindern eine
Politikerkarriere empfehlen, und 93 Prozent beabsichtigen eine
erneute Kandidatur. Dennoch ist das vielbemühte Bild falsch,
der Bundestag setze sich zu großen Teilen aus Abgeordneten
zusammen, die den Politikerberuf quasi von der Pike auf gelernt
haben. Die meisten Abgeordneten haben bei ihrem Eintritt in den
Bundestag bereits eine berufliche Karriere hinter sich, die in der
Mehrzahl auch als vorteilhaft für die politische
Tätigkeit empfunden wird. "Die vorpolitische Karriere ist
gewissermaßen das Studium des Abgeordneten", bestätigt
Ole Schröder, Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion. Nach dem
Einstieg in die Politik sei es aber wichtig, sich voll und ganz
darauf zu konzentrieren, denn "dieses Seiteneinsteigertum kann auch
Einfallstor für Dillettantismus in der Politik sein".
Professionalisierung sei wichtig, um dies zu verhindern. Die
Mehrheit der Parlamentarier ist bei ihrem ersten Mandat zwischen 43
und 45 Jahre alt. Auch die Verweildauer im Bundestag ist eher kurz:
Bei ihrem Ausscheiden sind die Abgeordneten im Durchschnitt 53
Jahre alt, bleiben also nur zwei bis drei Legislaturperioden. Doch
kann man daraus tatsächlich wie der Direktor der Akademie
für Politische Bildung Tutzing, Heinrich Oberreuter, ableiten,
als Abgeordneter befinde man sich in einem "prekären
Beschäftigungsverhältnis", das befristet und unsicher
sei? Über die Frage, wie stark Abgeordnete ihre vorherige
Karriere weiter betreiben sollten, um für die Zeit nach dem
Mandat abgesichert zu sein, herrschen in den Fraktionen
unterschiedliche Ansichten. Jörg van Essen, Parlamentarischer
Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, ist "stolz
darauf, dass viele Abgeordnete unserer Fraktion ihre berufliche
Tätigkeit fortsetzen", während sein Kollege von den
Grünen, Volker Beck, solche Nebentätigkeiten eher
anrüchig findet: "Da hilft der Adler oft bei der Akquise im
eigentlichen Job." Es sei wichtig, ein Versorgungssystem zu
schaffen, "das die Unabhängigkeit des Mandats schützt"
und es den Abgeordneten erlaube, die schwierige Übergangsphase
"anständig" zu meistern. Dass Abgeordnete gegen Ende der
Legislatur Angst um ihren Job hätten, "das haben sie mit
vielen Bürgern dieses Landes gemein". Auch die Zahlen der
Jenaer Studie zeigen, dass es für Pessimismus keinen Grund
gibt: 82 Prozent der ehemaligen Parlamentarier hatten nach ihrem
Ausscheiden aus dem Bundestag keine Schwierigkeiten, wieder in
ihren alten Beruf zurückzukehren.
Abgeordente sind keine Märtyrer
Dennoch kann fast Mitleid bekommen, wer den Ausführungen
einiger Berufspolitiker lauscht. Jörg van Essen malt die
private Situation der Abgeordneten in den schwärzesten Farben:
"Wer unter den Bekannten, die mit mir in die Politik gegangen sind,
noch eine intakte Ehe hat, können Sie an einer Hand
abzählen. Der Einzug in das Parlament beendet in aller Regel
das bisherige Familienleben. Diese Probleme im Privaten sind ein
ganz außerordentlich wichtiger Aspekt, der häufig
unterschätzt wird." Auch einen anderen Punkt will der
FDP-Politiker gewürdigt wissen: Wie über 30 Prozent der
Abgeordneten fühlt er sich in der Öffentlichkeit zu wenig
akzeptiert. "Wir haben klar einen Prestigeverlust. Das sehen sie
schon bei Veranstaltungen, wenn jeder kleine Verwaltungsdirektor
namentlich begrüßt wird, Abgeordnete aber nicht." Weniger
problematisch ist dieser Bedeutungsverlust für Wilhelm
Schmidt. Der Parlamentarische Geschäftsführer der
SPD-Bundestagsfraktion räumt zwar ein, dass Abgeordnete sich
heute anderen Herausforderungen stellen müssten als vor
einigen Jahren. "Trotzdem sind Abgeordnete keine Märtyrer. Sie
können alle vier Jahre entscheiden, ob sie den Job
weitermachen wollen. Dass immer das Risiko besteht, nach einer
Legislatur wieder heraus katapultiert zu werden, weiß doch
wirklich jeder."
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