Berlin, 20.
Mai 2003
Offener Brief
an den DGB Region Nordschwarzwald
Sehr geehrter
Martin Spreng,
danke für
Dein Schreiben ohne Datum, das am 28.04.03 in meinem
Bürgerbüro eingegangen ist.
Es hat mich
ein wenig verwundert, dass ich als einzige der
SPD-Bundestagsabgeordneten aus Baden-Württemberg ein
eindeutiges Signal zur Agenda 2010 erhalten habe. Es ist daher umso
bedauerlicher, dass Du Dich anlässlich der
Delegiertenkonferenz des SPD-Kreisverbandes Calw weder als
stellvertretender SPD-Kreisvorsitzender noch als
DGB-Regionssekretär kritisch zu Wort gemeldet hast.
Im Brockhaus
findet sich eine ausführlichere Definition der Wortes
Reform:
Reform
[französisch, zu lateinisch reformare > umgestalten<,
>neu gestalten<] die, -/-en, planmäßige
Umgestaltung, Verbesserung, Neuordnung des Bestehenden, besonders
(als Gegenbegriff zu Revolution) die gezielte, die Legalität
wahrende Umgestaltung politischer und gesellschaftlicher
Einrichtungen (u. a. Verfassungs-, Verwaltungs-, Rechts-,
Wirtschafts-, Währungs-, Finanz-, Steuer-, Schul- oder
Bildungsreform). Staatliche Reformpolitik hat in der Regel das
Ziel, ein bestehendes politisches System an veränderte
politische oder gesellschaftliche Gegebenheiten
anzupassen.
Deutschland
steht vor gewaltigen Herausforderungen. Eine seit dem Herbst 2001
anhaltende internationale Wachstumskrise schlägt voll auf die
Wirtschafts- und Arbeitsmarktsituation in Deutschland durch und
offenbart dabei schonungslos bestimmte strukturelle Schwächen
unserer sozialen Sicherungssysteme. Diese sind derartig eng an ein
hohes Beschäftigungsniveau und kostenmäßig an den
Faktor Arbeit gebunden, dass ihnen bereits der Alterungsprozess der
deutschen Gesellschaft genug zu schaffen macht.
Der Druck ist
durch die konjunkturelle Dauerschwäche so groß geworden,
dass jetzt unter denkbar schwierigen Rahmenbedingungen eine
Beschleunigung der strukturellen Reformen nicht länger
aufschiebbar ist. Die Substanz der sozialen Sicherungssysteme muss
dauerhaft stabilisiert werden.
Konservative
und neoliberale Interessengruppen wollen die Gunst der Stunde
nutzen. Sie blasen zum Angriff auf Gewerkschaften und Tarifrecht.
Sie erklären das in Deutschland gültige soziale
Sicherungssystem für grundsätzlich
gescheitert.
Die von
Bundeskanzler Gerhard Schröder vorgestellte Agenda 2010 steht
diesem in der Konsequenz systemverändernden Ansatz entgegen
und reagiert auf die wirtschaftlich schwierige Lage. Die Agenda
2010 markiert den Übergang zu einem mittelfristig angelegten
politischen Gesamtkonzept, das die drei Bereiche Konjunktur und
Haushalt, Arbeit und Wirtschaft sowie soziale Sicherung miteinander
verzahnt.
Die
Notwendigkeit der Agenda 2010 wird von einer Mehrheit in den Reihen
der Regierungskoalition und der SPD-Bundestagsfraktion
grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Die Diskussion
fängt da an, wo bisher geltende Ansprüche konkret
angetastet werden. Bei den vorgelegten Maßnahmen stehen
Alternativen und Ergänzungen zur Debatte.
Die Frage ist
nicht, ob ein derart umfassender Reformansatz, wie ihn die Agenda
2010 vorgibt, eine differenzierte Auseinandersetzung und
Feinabstimmung braucht. Das ist unbestreitbar. Wohl aber kommt es
darauf an, wie diese Diskussion geführt wird.
So lehnt zum
Beispiel die Parlamentarische Linke, der rund 120 der etwa 300
Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion angehören, die Agenda
2010 - im Gegensatz zu den Initiatorinnen und Initiatoren des
Mitgliederbegehrens - nicht ab. Sie hält die von Bundeskanzler
Gerhard Schröder vorgegebene Richtung für richtig und
wichtig. Sie will lediglich über eine argumentative
Auseinandersetzung im parlamentarischen Prozess für
Änderungen in einzelnen Punkten sorgen.
Ziel ist es,
beim Kündigungsschutz, bei der Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes, bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe und auch bei der Reform des Gesundheitswesens
möglichst viel vom Solidarprinzip zu erhalten.
Unabhängig davon, welche der vorgelegten Maßnahmen
endgültig umgesetzt werden, ist eine große Anstrengung
aller Gruppen der Gesellschaft notwendig. Alle müssen ihren
Beitrag leisten, damit der Umbau der Sozialsysteme gelingt. Wenn
unsere Sozialsysteme erhalten werden sollen, müssen sie
umgebaut werden. Vor dem Hintergrund knapper Kassen ist das keine
leichte Ausgabe. Sie kann nur gelöst werden, wenn wir in allen
Bereichen zur Erneuerung bereit sind. Dies schließt auch
Einschnitte und Leistungskürzungen ein, die schmerzhaft sind.
Alle müssen Verantwortung gegenüber den kommenden
Generationen zeigen. Alle müssen mehr Eigeninitiative
aufbringen, sonst ist es nicht zu schaffen.
Als Mitglied
der SPD-Bundestagsfraktion bin ich mir gemeinsam mit meiner
Fraktion dieser Herausforderung bewusst und stelle mich der
Verantwortung. Orientierungspunkte bei den jetzt notwendigen
Veränderungen sind die Leitlinien und Prinzipien
sozialdemokratischer Politik wie Chancengleichheit, Gerechtigkeit
und Solidarität.
Gerade uns
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fallen die vor uns
liegenden Reformmaßnahmen nicht leicht. Wir wissen aber auch,
dass diese nur von uns Sozialdemokraten mit dem richtigen
Augenmaß durchgeführt werden können. Die Opposition
will den Sozialstaat abbauen, wir wollen ihn reformieren. Wir
wollen den europäischen Sozialstaat als Gegenmodell einer nur
über Marktgesetze gesteuerten Gesellschaft
erhalten.
Mit
freundlichen Grüßen
Renate
Gradistanac MdB
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