Sitzungsleitung und Ordnungsbefugnis
Nach der Geschäftsordnung leitet der Präsident die
Verhandlungen und wahrt die Ordnung im Hause. In der Praxis
wechseln sich Präsident und Vizepräsidenten alle zwei
Stunden in der Leitung der Plenarsitzungen ab, leiten diese also
etwa gleich häufig. Der amtierende Präsident wird bei
seinen Leitungsaufgaben von zwei Schriftführern
unterstützt, die insbesondere die Rednerlisten führen
(§ 9 GOBT) und bei der Auszählung bei Wahlen und
Abstimmungen mitwirken. Zu Schriftführern werden für die
Wahlperiode eine Reihe von Abgeordneten nach dem
Stärkeverhältnis der Fraktionen gewählt. Sie
wechseln sich in den Sitzungen ebenfalls ab. Hinter dem
Präsidenten sitzen ein oder zwei Beamte der
Bundestagsverwaltung für den Fall, dass sich der amtierende
Präsident bei auftretenden Zweifelsfragen insbesondere
über die Auslegung der Geschäftsordnung beraten lassen
möchte.
Der Handlungsspielraum des Präsidenten wird nicht nur durch
die Geschäftsordnung des Bundestages bestimmt, sondern
darüber hinaus durch die Bedingungen des Arbeits- und
Fraktionenparlaments eingeschränkt. Die Bestimmung des
Arbeitsrhythmus, der Sitzungstermine, der Tagesordnung und der
Debattengestaltung liegt bei den im Ältestenrat des
Bundestages vertretenen Fraktionen. Im Ältestenrat sind neben
den Mitgliedern des Bundestagspräsidiums die Fraktionen mit
ihren Parlamentarischen Geschäftsführern und weiteren
Abgeordneten im Verhältnis ihrer Stärke vertreten
(§§ 6, 12 GOBT). Vereinbarungen über die
Arbeitsplanung kommen hier und in interfraktionellen Absprachen der
Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer nur zustande,
wenn ein Konsens zwischen den Fraktionen hergestellt werden kann.
Dies ist zumeist der Fall. Dabei wird im Ältestenrat
häufig nur mehr notifiziert, was die Ersten Parlamentarischen
Geschäftsführer in ihrer regelmäßigen
Besprechung schon vorab geklärt haben. In die schriftlich
vorgelegte Tagesordnung werden auch jene Vereinbarungen
aufgenommen, die in interfraktionellen Absprachen der
Parlamentarischen Geschäftsführer erst nach der
Ältestenratssitzung zustande gekommen sind. So werden z. B.
zusätzliche Punkte auf die Tagesordnung gesetzt, andere
heruntergenommen und ergänzende Regelungen zur Aussprache
getroffen. Zwar hat die Regierungsmehrheit die Möglichkeit,
die Tagesordnung durch Mehrheitsbeschluss zu bestimmen (§ 20
Abs. 2 GOBT). Jedoch gilt dies als schlechter parlamentarischer
Stil und wird nur selten praktiziert, kann allerdings als
"Druckmittel" in den Verhandlungen der Geschäftsführer
eingesetzt werden. Die eingespielte parlamentarische Praxis
entlastet das Plenum von ausufernden Geschäftsordnungsdebatten
- und damit auch den sitzungsleitenden Präsidenten - und
führt in der Regel zu einer angemessenen Berücksichtigung
der Interessen der Oppositionsfraktionen in Fragen der
Arbeitsplanung und Debattengestaltung.
Nicht nur die Gesamtdauer, sondern auch die Platzierung und
Struktur der Debatten wird üblicherweise interfraktionell
vereinbart. Nach der Geschäftsordnung bestimmt der amtierende
Präsident die Reihenfolge der Redner. "Dabei soll ihn die
Sorge für sachgemäße Erledigung und
zweckmäßige Gestaltung der Beratung, die Rücksicht
auf die verschiedenen Parteirichtungen, auf Rede und Gegenrede und
auf die Stärke der Fraktionen leiten; insbesondere soll nach
der Rede eines Mitgliedes oder Beauftragten der Bundesregierung
eine abweichende Meinung zu Wort kommen" (§ 28 Abs. 1 GOBT).
In der Praxis folgt er in der Regel weitgehend den Vorschlägen
der Fraktionen bzw. deren Parlamentarischen
Geschäftsführern, die die Redner ihrer Fraktionen
benennen. Regierungs- und Bundesratsmitglieder können nach
Art. 43 Abs. 2 des Grundgesetzes ohnehin jederzeit das Wort
ergreifen. Allerdings wurde dieses Redeprivileg faktisch dadurch
abgeschwächt, dass seit den 1970er Jahren (7. WP: 1972-1976)
jeweils zu Beginn der Wahlperiode ein exakter Schlüssel
für die Aufteilung der Redezeit für Koalition (Regierung,
Koalitionsfraktionen) und Oppositionsfraktion(en) interfraktionell
vereinbart wird. Die Redezeit der Bundesratsmitglieder wird je nach
Parteizugehörigkeit zugeordnet. Erweitert wurden die
Möglichkeiten des Präsidenten, eine lebendigere Debatte
zu begünstigen, durch die 1990 eingeführte und 1995
erweiterte Regelung für Kurzinterventionen (§ 27 Abs. 2
GOBT). Der amtierende Präsident kann nun im Anschluss an einen
Debattenbeitrag das Wort für eine Zwischenbemerkung von
höchstens drei Minuten erteilen, auf die der Redner noch
einmal antworten darf. Auch während eines Redebeitrages kann
der Sitzungspräsident das Wort nicht nur zu Zwischenfragen,
sondern auch zu Zwischenbemerkungen erteilen, allerdings nur mit
Zustimmung des Redners, wobei die Zwischenfrage nicht auf die
Redezeit angerechnet wird.
Aufgabe des Sitzungspräsidenten ist es insbesondere, auf die
Einhaltung der Redezeiten zu achten und auch darauf, dass bei
Wortmeldungen zur Geschäftsordnung und Erklärungen zur
Aussprache und zur Abstimmung keine Sachdebatte geführt wird
und die Regeln bei Zwischenfragen und Kurzinterventionen
eingehalten werden. Er kann gegebenenfalls das Wort entziehen
(§ 35 Abs. 3 GOBT).
Zu den Aufgaben des amtierenden Präsidenten gehört
selbstverständlich auch, die Abstimmungen und Wahlen des
Plenums zu leiten. Das Plenum ist beschlussfähig, wenn mehr
als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages anwesend ist
(§ 45 Abs. 1 GOBT). Die Beschlussfähigkeit wird
unterstellt, solange sie nicht von einer Fraktion oder 5 Prozent
der Abgeordneten angezweifelt wird - was selten geschieht. In einem
solchen Fall muss, sofern nicht der Sitzungsvorstand die
Beschlussfähigkeit einmütig bejaht, gezählt und bei
Beschlussunfähigkeit die Sitzung aufgehoben und eine neue
Sitzung einberufen werden (§ 45 Abs. 2, 3 GOBT).
Die Abstimmungsprozeduren mit oft zahlreichen Änderungs- und
Entschließungsanträgen sind häufig überaus
kompliziert und erfordern äußerste Konzentration. Die
Feststellung des Abstimmungsergebnisses trifft der
Sitzungsvorstand. Widerspricht auch nur einer der beiden
Schriftführer nach Abstimmung und Gegenprobe, werden die
Stimmen - durch den sog. "Hammelsprung" - gezählt (§ 51
GOBT). Beim "Hammelsprung" verlassen die Mitglieder des Bundestages
auf Aufforderung des Präsidenten den Sitzungssaal und betreten
diesen wieder durch mit "Ja", "Nein" und "Enthaltung"
gekennzeichnete Türen. Sie werden dabei durch die an den
Türen postierten Schriftführer laut gezählt. Nach
Erledigung der Tagesordnung gibt der Sitzungspräsident nach
den Vereinbarungen im Ältestenrat oder nach Beschluss des
Bundestages den Termin der nächsten Sitzung bekannt und
schließt die Sitzung (§ 22 GOBT).
Um die Würde des Bundestages und die parlamentarische Ordnung
zu wahren, kann der amtierende Präsident in Plenarsitzungen
Ordnungsmaßnahmen ergreifen. Freilich ist die
Einschätzung dessen, was unter "Würde des Hauses" zu
verstehen ist, durchaus nicht einheitlich und ebensowenig ist es
die Handhabung des Instrumentariums der Ordnungsmaßnahmen.
Kritik an der Amtsführung des Präsidenten ist
während der Sitzung zwar untersagt, kann aber im
Ältestenrat und im Präsidium zur Sprache gebracht werden,
was auch des öfteren geschieht. Sowohl aufgrund von
Diskussionen im Ältestenrat wie auch der laufenden
Beschäftigung mit Fragen der Sitzungsleitung und mit
Ordnungsmaßnahmen im Präsidium werden
Maßstäbe entwickelt und gemeinsame Grundsätze
(Appelle) formuliert. Anlässlich umstrittener aktueller
Vorfälle wird dann im Ältestenrat gelegentlich die
Erwartung zum Ausdruck gebracht, das Präsidium möge sich
noch einmal mit einer Angelegenheit befassen. Gelegentlich sieht
sich der Präsident auch veranlasst, Mitglieder des Hauses
gegen ehrenrührige Angriffe "von außen" in einer
öffentlichen Erklärung in Schutz zu nehmen.
Über Ordnungsmaßnahmen entscheidet der die Sitzung
leitende Präsident alleine, wobei er sich gegebenenfalls an im
Präsidium vereinbarten Richtlinien orientieren wird. Um die
Ordnung zu wahren, kann der amtierende Präsident eine
Äußerung als "unparlamentarisch" rügen und einen
Redner, der vom Verhandlungsgegenstand abweicht, zur Sache
verweisen, was häufiger geschieht. Er kann einem Abgeordneten
wegen ordnungswidrigen Verhaltens einen Ordnungsruf erteilen. Die
meisten Ordnungsrufe werden bei Äußerungen in Reden oder
Zwischenrufen erteilt, die als grob beleidigend angesehen werden.
Wurde ein Redner dreimal zur Sache oder zur Ordnung gerufen, muss
ihm der Sitzungspräsident "das Wort entziehen und darf es ihm
in derselben Aussprache zum selben Verhandlungsgegenstand nicht
wieder erteilen" (§ 37 GOBT), was auch hin und wieder
geschieht. Schließlich kann der Sitzungspräsident einen
Abgeordneten "wegen gröblicher Verletzung der Ordnung" bis zu
30 Sitzungstage ausschließen (§ 38 GOBT) oder auch eine
Sitzung bei störender Unruhe unterbrechen oder aufheben
(§ 40 GOBT). Zu diesen äußersten Maßnahmen
greifen Sitzungspräsidenten allerdings höchst selten.
Gegen einen Ordnungsruf oder den Ausschluss von Sitzungen kann der
betroffene Abgeordnete Einspruch einlegen, über den das Plenum
ohne Aussprache entscheidet (§ 39 GOBT).
Unbestrittene Pflicht des Präsidenten ist es, darauf zu achten
und sich dafür einzusetzen, dass die Rechte des Hauses, vor
allem gegenüber Bundesregierung und Bundesrat, gewahrt werden
(z. B. Berichtstermine, Präsenz von Regierungsmitgliedern).
Insbesondere durch die Forderungen der Oppositionsparteien wird er
permanent an diese Aufgabe erinnert, bei der ihm der Direktor und
die Parlamentsdienste zur Seite stehen. Unabhängigkeit und
persönliches Standvermögen spielen bei der Erfüllung
dieser Verpflichtung eine gewichtige Rolle. Nahezu alle
Amtspflichten des Präsidenten umfasst die Aufgabe, die Arbeit
des Bundestages zu fördern (§ 7 Abs. 1 GOBT).
Der Präsident führt auch den Vorsitz im Ältestenrat
und im Präsidium - wobei er sich nur gelegentlich vertreten
lässt - sowie in der Bundesversammlung und im Gemeinsamen
Ausschuss nach Art. 53a GG, ggf. auch in Kommissionen des
Ältestenrates. Von seiner Fähigkeit, die Diskussion im
Ältestenrat und im Präsidium zielorientiert zu
führen und sachkundig zu strukturieren, unparteiisch und
ausgleichend zu wirken und im rechten Augenblick
Kompromissvorschläge zu unterbreiten, hängt sein Ansehen
und sein interner Einfluss als Präsident ab. Als geschickter
Sitzungsleiter hat er trotz aller Absprachen der Parlamentarischen
Geschäftsführer durchaus einen gewissen Einfluss als
"ehrlicher Makler". Dies ist natürlich vor allem dann der
Fall, wenn keine Einigung zwischen den Fraktionen zustande gekommen
ist oder - etwa bei Geschäftsordnungs- und
Repräsentationsfragen - eine offene Gesprächssituation
entsteht, was hin und wieder geschieht.