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Debatte
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Wortlaut der Reden

Dr. Christine Lucyga, SPD Dr. Horst Ehmke (Bonn), SPD >>

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Beitrag kommt zum jetzigen Zeitpunkt schon nicht mehr so ganz ohne Redundanzen aus; das ist verständlich. Die Argumente sind ausgetauscht; einige davon haben sich verbraucht, einige sind dementierbar, andere sind austauschbar.

Das wurde mir heute früh sehr deutlich bewußt, als unser Kollege Norbert Blüm seinen Antrag begründete. Es geht also jetzt darum, uns zu entscheiden und das Zeichen zu setzen, das politisch am allerwichtigsten ist, das Zeichen, wie und -- vor allen Dingen -- daß es in ganz Deutschland vorangehen soll. Einen sichtbaren Schritt dazu sollten Regierung und Parlament tun, den Schritt nach Berlin.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Mein Bekennntis zu Berlin ist auch das meiner Kollegen aus Mecklenburg-Vorpommern. Ich möchte diese Entscheidung jetzt vor allen Dingen für die Menschen aus Bonn begründen, die sich in den letzten Tagen aus Sorge um ihre Zukunft an mich gewandt haben. Ich kann gut nachvollzie

hen, daß es hier jetzt Zukunftsängste gibt, zumal sie zu einem großen Teil auf dem Boden der in letzter Zeit geführten Kampagne erwachsen, in der auch Ängste mobilisiert wurden. Wenn die von der Entscheidung abhängigen Arbeitsplatzprobleme angesprochen werden oder umfangreiche Kostenaufrechnungen die billige Lösung nahelegen, in Bonn zu bleiben, dann möchte ich sagen: Die Ängste der Menschen sind ernst zu nehmen. Ich kenne sie aus dem Osten Deutschlands, wo im Moment Existenzängste im großen Maße umgehen. Wir sehen, daß die Argumente austauschbar sind. Vieles trifft sowohl für die eine als auch für die andere Stadt zu.

Ich möchte noch etwas sagen. Das, was uns jetzt als die billigste Lösung erscheint, nämlich in Bonn zu bleiben, wird uns wohl teuer zu stehen kommen,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

nämlich dann, wenn das Ausbleiben eines sichtbaren politischen Signals dafür, daß die Integration des Ostens auch wirklich gewollt ist, die Chancen für eine wirkliche Integration -- hier denke ich über den Osten Deutschlands hinaus auch an Osteuropa -- noch länger hinausschiebt und damit auf längere Sicht eine soziale Instabilität festschreibt, deren sichtbarste Konsequenz immer noch Wanderungsströme von Ost nach West sind.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Bei diesen Argumentationen, so muß ich hinzusetzen, fehlen ganz einfach Alternativvorschläge, die für die Region Bonn auf den Tisch gekommen sind und die für die künftige Entwicklung auch dann Chancen aufzeigen, wenn Berlin alle Funktionen einer Hauptstadt übernimmt. Die Auseinandersetzungen, die wir im Interesse Bonns erleben, orientieren sich ganz einfach am Status quo und leugnen die Eigendynamik von Entwicklungen, auf die im Osten Deutschlands in anderen Zusammehängen oft verwiesen wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Wir erleben jetzt in Bonn hautnah, daß ein Gegenstand, aus unmittelbarer Nähe betrachtet, sehr viel größer erscheint als aus distanzierter Sicht. So erscheinen nach dem Gesetz der Perspektive die enormen Probleme der ostdeutschen Länder und die Sorgen Berlins vergleichsweise klein, betrachtet man sie lediglich aus der Optik der idyllischen und liebenswerten Stadt am Rhein, die bis zum Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung die »provisorische Hauptstadt Deutschlands« und »Stellvertreterin Berlins« hieß und weit weg von Ostdeutschland liegt.

Die Einheit Deutschlands ist wiederhergestellt. Kaum jemand, der die deutsche Entwicklung aus angemessener Distanz -- hier meine ich vor allen Dingen das Ausland -- betrachtet, kann so recht verstehen, warum denn nun an die Stelle der Rückführung von Parlament und Regierung in die Hauptstadt so eine Art Kleinkrieg mit vertauschten Proportionen und Gewichten tritt.

Die jetzige Auseinandersetzung offenbart etwas von den Schwierigkeiten, gemeinsam nun aus zwei ungleichen Teilen ein gemeinsames Ganzes zu formen und Regionales aus der gesamtdeutschen Perspektive zu betrachten. Sie geht an der simplen Tatsache vorbei, daß sich mit dem Zeitpunkt der staatlichen Einigung ganz Deutschland verändert hat. Das heißt für uns alle, daß nichts so bleibt, wie es war. Es ist an der Zeit, nicht regional, sondern gesamtdeutsch zu denken. Berlin ist in diesem Sinne mehr als die bloße Kulisse der Wiedervereinigung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Wir alle sind uns doch darin einig, welch große geschichtliche Herausforderung die Vollendung der Einheit durch Herstellung einheitlicher Lebensbedingungen für ganz Deutschland ist. Wie könnte dieser Prozeß denn sinnvoller vorangebracht werden als von Berlin aus, der Stadt, die wohl am meisten unter der Teilung gelitten hat, welche die ganze Last der Geschichte auf beiden Schultern getragen hat? West-Berlin war für uns die ganze Zeit das Fenster nach draußen in der Mauer. Dort geschieht nun auch das Zusammenwachsen am unmittelbarsten.

Ich weiß, Bonn steht für den glücklicheren Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte. Berlin steht für unsere gemeinsame Geschichte ganz, mit den Licht- und Schattenseiten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

In der Zeit, in der es üblich war, vom Provisorium Bonn zu sprechen und Berlin als »Frontstadt« für nationales Pathos und Legendenbildung zu bemühen, hätte niemand daran geglaubt, daß dies vielleicht nur Requisiten unverbindlicher politischer Rhetorik seien. Es wäre fatal, wenn durch eine Hauptstadtlüge der mittlerweile geflügelte Satz »Was schert mich mein Geschwätz von gestern« zum Markenzeichen politischer Glaubwürdigkeit in diesem Lande würde.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer spricht denn da schon wieder von Lüge?)

Wir müssen wissen, die heutige Entscheidung ist eine geschichtliche Chance. Wir dürfen sie nicht versäumen. Ich bitte Sie um Ihre Stimme für Berlin.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abgeordnete Professor Dr. Horst Ehmke.

Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/berlin/debatte/bdr_044
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