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Chance für Europa oder Untergang des Abendlandes?
Ist die Türkei reif für
Europa? Kurz vor dem Votum des Europäischen Rates über
die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen wird darüber in
Deutschland heftig gestritten.
„Neue Chancen für Europa oder drohender Untergang des
Abendlandes?“ lautet die – zugespitzte – Frage.
Blickpunkt Bundestag führte darüber ein
Streitgespräch mit den europapolitischen Sprechern der beiden
großen Bundestagsfraktionen, Günter Gloser, SPD, und
Peter Hintze, CDU/CSU.
Blickpunkt Bundestag: Bleiben wir bei der Zuspitzung, Herr Gloser. War die Abwehr der Türken 1683 vor Wien umsonst? Droht nun, mehr als 320 Jahre später, die Islamisierung Europas?
Günter Gloser: Nein, der Untergang des Abendlandes steht natürlich nicht bevor. Noch mag die Türkei nicht reif für Europa sein, aber mit den wahrscheinlichen Beitrittsverhandlungen, die sich ja über einen sehr langen Zeitraum von rund zehn Jahren erstrecken werden, haben wir eine sehr vernünftige Perspektive für einen Beitritt.
Blickpunkt: Herr Hintze, die CDU wollte mit einer Unterschriftenaktion gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei mobilisieren. Warum diese Skepsis, warum die Sorgen und Ängste?
Peter Hintze: Wir fürchten, dass mit einem Beitritt der Türkei die EU überfordert und damit das Projekt einer politischen Union in Europa zerstört wird. Unsere Sorge ist, dass sich der Bundeskanzler über diese Bedenken hinwegsetzt und dass noch nicht einmal das Parlament entscheiden darf, ob Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollen oder nicht. Das ist ein schwerwiegender Vorgang.
Gloser: Es ist schon seltsam, dass die CDU/CSU gerade am Beispiel Türkei die Nichtbeteiligung des Parlaments beklagt. In der Vergangenheit hatten wir schon viele ähnliche Fälle, ohne dass dies die CDU/CSU bemängelte. Überdies hat doch gerade Helmut Kohl immer wieder die Beitrittsperspektive für die Türkei bekräftigt.
Blickpunkt: Was ist denn die Hauptsorge? Könnte die Identität Deutschlands bei einem Beitritt des großen und islamischen Landes Türkei in Gefahr geraten?
Hintze: Ja, unsere Sorge ist, dass die EU ihren Charakter verändert als ein europäischer Staatenbund mit einem gemeinsamen Wir-Gefühl, mit gemeinsamen Werten und politischen Grundüberzeugungen. Die zweite Sorge ist, dass mit der Türkei mehr Probleme nach Europa importiert werden, als sie zu lösen hilft.
Blickpunkt: Was ist denn die europäische Identität heute? Immerhin erstreckt sich die EU schon jetzt vom Nordkap bis Zypern, wirkt in ihren Grenzen ausgefranst.
Hintze: Richtig, was macht Europa aus? Einmal ist es die Geografie, da sind wir uns einig, dass drei Prozent der türkischen Landmasse zu Europa gehören, 97 Prozent nicht. Das andere ist die Kultur, die griechische Philosophie, das römische Recht, die Erkenntnisse der Aufklärung und das christliche Verständnis vom Menschen. Das sind die Quellen der europäischen Identität. Und da würden wir, wenn die Türkei hinzukommt, eine starke Veränderung erleben.
Gloser: Warum entdecken Sie Ihre Bedenken erst jetzt, wo es konkret wird? Hat die CDU/CSU nicht früher Geschichtsbücher über die Frage gelesen, was die europäische Kultur, was die Geografie ist? Sind plötzlich neue Lehrbücher aufgetaucht? Das klingt alles nicht besonders überzeugend.
Hintze: Wir sind in der Geschichte recht fit, was man von der SPD nach dem peinlichen Reinfall mit dem 3.Oktober nicht gerade behaupten kann. Die CDU/CSU wollte immer die Europa- und Westorientierung der Türkei stärken. Das heißt: enge, auch privilegierte Zusammenarbeit ja, EU-Vollmitgliedschaft wegen Überforderung nein.
Blickpunkt: Wäre Deutschland mit der Integration von möglicherweise Millionen türkischer Zuwanderer überfordert?
Gloser: Das ist sicherlich ein Punkt, den man nicht beiseite schieben kann. Dennoch sollte man ihn nicht dramatisieren. Denn die Türkei ist natürlich aufgefordert, innerhalb ihres Landes für eine Angleichung der Lebensverhältnisse zu sorgen, die sowohl Migration in die EU wie die Binnenwanderung innerhalb der Türkei von Ost nach West einschränkt. Zusätzlich müssen auch wir die Integration bereits in Deutschland lebender Türken intensivieren.
Hintze: So einfach ist die Sache nicht. Natürlich geht von der Türkei ein enormer Migrationsdruck aus. Heute leben dort 70 Millionen, im Jahr 2030 vermutlich über 100 Millionen Menschen. Angesichts des starken wirtschaftlichen Gefälles zur EU werden wir es mit Riesenproblemen zu tun haben, die auch mit der dauerhaften Einschränkung der Freizügigkeit für türkische Arbeitnehmer, die ohnehin verfassungswidrig wäre, kaum in den Griff zu bekommen sind. Deutschland würde bei einem Beitritt der Türkei das Zuwanderungsland Nummer eins in Europa werden. Das könnten wir kaum verkraften, denn schon jetzt haben wir ja massive Probleme, etwa die Herausbildung von Parallelgesellschaften.
Blickpunkt: Übernehmen wir uns ökonomisch mit einem EU-Beitritt der Türkei?
Hintze: Ganz klar. Die Kosten sind enorm. Nach den heutigen Bedingungen würde die Türkei etwa 21 Milliarden Euro im Jahr bekommen. Das wäre fast ein Viertel des ganzen EU-Etats. Man müsste also neue Regeln finden. Hinzu kommt, dass die türkische Wirtschaftsordnung noch immer problematisch ist. Vor wenigen Jahren gab es in der Türkei noch Inflationsraten von bis zu 1.000 Prozent im Jahr.
Gloser: Kollege Hintze liebt schwarze Farben. Natürlich sehe auch ich den Kostenaspekt. Aber alle Länder in der EU sind doch aufgefordert, in der Struktur- und Landwirtschaftspolitik umzusteuern. So wie jetzt können wir auch ohne das Thema Türkei nicht weitermachen. Deshalb darf man die heutigen Bedingungen nicht einfach fortschreiben. Das haben soeben die neuen osteuropäischen EU-Mitglieder erfahren.
Blickpunkt: Würde Europa mit der Einbindung eines islamischen Staates sicherer oder drohen neue Konflikte, weil die EU mit der Türkei ja auch neue Außengrenzen hätte?
Hintze: Die Türkei war immer ein verlässlicher Partner für Europa, für Deutschland, für die Nato. Das ist bei dieser Frage sehr zu würdigen. Aber: Wenn sich die EU mit einem Türkeibeitritt bis an die Krisenherde dieser Welt ausdehnt, an den Iran der Mullahs, an Syrien der Hisbollah, an den Irak mit dem Dschihad gegen den Westen, dann wird es eher kritisch. Denn wir könnten Krisen und Konflikte in die EU importieren, die uns überfordern.
Gloser: Aber wir sind doch auch so mit diesen Krisen konfrontiert! Die sind ja nicht weg, nur weil wir keine gemeinsamen Grenzen haben. Außerdem wäre es nach meiner Meinung ein Sicherheitsgewinn, gerade mit einem islamischen Staat an der Seite etwaige Konflikte in dieser Region zu bewältigen. Zudem sollten wir nicht unterschätzen, welchen Einfluss der innertürkische Reformprozess auf andere Länder in der Region hätte.
Blickpunkt: Was ist mit den Menschenrechten in der Türkei?
Gloser: Hier sind wir uns sicher einig, dass sie eine entscheidende Hürde für einen Beitritt sind. Auch wenn in den letzten Jahren ein enormer Reformprozess eingeleitet und teilweise umgesetzt wurde – es gibt immer noch Dinge, die man so nicht akzeptieren kann. Denn es geht gerade bei den Menschenrechten um Nachhaltigkeit. Es darf nicht sein, dass zwar Reformgesetze verabschiedet werden, die Realität aber eine ganz andere ist.
Hintze: Der tiefe Graben zwischen Gesetzestext und Lebenswirklichkeit ist genau das Problem. Deshalb müssen wir einen genauen Blick auf die Menschenrechte in der Türkei werfen. Und wir müssen uns fragen, welches Frauenbild wir in die EU importieren, wenn wir die Türkei aufnehmen.
Blickpunkt: Wird die EU bei einem Türkeibeitritt zum gefesselten Riesen?
Gloser: Das muss nicht sein. Wenn die Europäische Verfassung unterschrieben ist, wird die EU auch mit ihren vielen Mitgliedern durchaus handlungsfähig sein. Das wird ein schwieriger, aber kein unmöglicher Prozess sein.
Hintze: Für mich ist die Handlungsfähigkeit das zentrale Problem. Die Statik Europas wäre beeinträchtigt, wenn das bald größte Land mit den größten wirtschaftlichen und politischen Problemen den stärksten Block in der EU stellen würde. Dann käme Europa aus dem Lot.
Blickpunkt: Wann wird die Türkei EU-Vollmitglied sein?
Hintze: Nach unserem Wunsch wird die Türkei ein privilegierter Partner der EU sein.
Gloser: Im nächsten Jahrzehnt.
Das Gespräch führte
Sönke Petersen.
Fotos: Photothek
Erschienen am 15. Dezember 2004
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