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Größter Wunsch: Mehr Zeit
Fraktionen – sie sind Teil des Ganzen, ein Zusammenschluss von Abgeordneten, die gleiche politische Grundüberzeugungen haben und in der Regel der gleichen Partei angehören. Vier Fraktionen sitzen gegenwärtig im Bundestag. Jede von ihnen hat eine Vorsitzende oder einen Vorsitzenden, eine wählte eine Doppelspitze. Die Funktion ist mit vielen Pflichten und vielen Rechten verbunden. Wer sie inne hat, muss integrieren können und darf das Rampenlicht nicht scheuen. Fraktionsvorsitzende haben es nicht leicht, aber eine schöne Arbeit.
„Politik muss organisiert
werden“, sagt der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Franz
Müntefering, und sagt auch: „Man muss mit ganzem Herzen
dabei sein.“
„Wir haben manchmal zu wenig Zeit, die Dinge zu diskutieren,
müssen zu oft schnell Entscheidungen treffen. Vor allem dann,
wenn große Vorhaben umgesetzt werden.“
Charlie Chaplin versucht, einen alten Schuh zu essen. Graziös wickelt er den Schnürsenkel auf eine Gabel und schaut aus schwarz umrandeten Augen auf die Welt. Die Welt ist in diesem Fall das Büro des SPD-Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering, und sie macht einen geschäftigen, aber freundlichen Eindruck. Sie hat Platz für den liebenswerten Tramp aus Stummfilmzeiten und einen anderen Träumer, den Ulmer Schneidergesellen Beblinger, der mit selbst gebauten Flügeln auf einer hohen Klippe steht. Franz Müntefering liebt diese Bilder.
Er hängt sein Jackett über den Stuhl und zündet sich ein Zigarillo an. Er ist, so viel hat man schon erfahren, einer, der gern erzählt, gern lächelt und selbst bei größter Hitze kühlen Kopf bewahrt. Letzteres hat er auf der Dachterrasse der Kommandantur, dem Gebäude mit der schönen Adresse „Unter den Linden 1“, bewiesen. Es mögen bei dem Fototermin vierzig Grad gewesen sein, eine Temperatur, bei der die Gedanken anfangen, Purzelbäume zu schlagen. Franz Müntefering wirkte unbeeindruckt. Kann sein, dass man dies als Fraktionsvorsitzender lernt, hitzige Debatten gibt es in einer Gruppe von 249 Menschen, die Bundespolitik machen, sicher ausreichend. Mehrheiten und Konsens entstehen nicht im Schlaf.
Zum Fraktionsvorsitzenden wird man gewählt, aber wenn man dann ja zur Wahl sagt, lassen einen die Fraktionskollegen auch nicht im Stich. Es gibt einen Geschäftsführenden Fraktionsvorstand, also stellvertretende Vorsitzende, Parlamentarische Geschäftsführer, den Fraktionsvorstand, Arbeitskreise, Arbeitsgruppen, Ausschussvorsitzende, interfraktionelle und interne Gesprächsrunden der Fraktion. Überall wird gut und planmäßig gearbeitet, so dass am Ende die ganze Fraktion beste Entscheidungsgrundlagen hat.
Trotzdem bleibt es dabei: Der Fraktionsvorsitzende muss die Fäden in den Händen halten und steht dem großen Ganzen vor. Er leitet die Fraktionssitzungen und ist bei vielen Sitzungen und Gesprächsrunden verpflichtend oder gewünscht dabei. Sein Wochenplan sieht manchmal aus, als könnte er den Befehl „Defragmentieren“, also Zusammenfügen, vertragen, und das größte Defizit, mit dem Franz Müntefering lebt, ist Zeit. Schließlich ist er auch Parteivorsitzender, schließlich hat er Familie, schließlich sind nicht alle Wünsche und Ideen, die er hat, mit einer Funktion verbunden oder durch eine Funktion erfüllbar. Schließlich brauchen Freundschaften Zeit, und Visionen sowieso. „Wir haben manchmal zu wenig Zeit, die Dinge zu diskutieren, müssen zu oft schnell Entscheidungen treffen. Das ist in der Politik so. Vor allem dann, wenn große Vorhaben umgesetzt werden. Man steht meistens unter Druck und muss sich Nischen suchen, wo es nicht so schlabberig ist.“ Da kommt der Sauerländer durch, schlabberig meint hektisch, und Franz Müntefering erzählt, dass in seiner Familie oft platt gesprochen wurde. „Wenn meine Eltern ins Hochdeutsche fielen, wusste ich, dass ich jetzt gemeint bin.“
Dem Politiker sind Zeiten und Gelegenheiten wichtig, wo man in Ruhe und grundsätzlich diskutieren kann. Beispielsweise auf der Fraktionsklausur im September, wo es unter anderem um das Verhältnis von Bundespolitik und Kommunalpolitik gehen soll. „Wenn man sich für so etwas keine Zeit nimmt, frisst einen der Alltag auf.
Dann ist man ständig nur dabei, zu überlegen, was als Nächstes gemacht werden muss, was wer wozu sagen wird, wie was am schnellsten erledigt werden kann, warum dies oder das noch nicht in trockenen Tüchern ist.“
Die gute Seite seiner Funktion als Fraktionsvorsitzender sei es, an einem wichtigen Hebel zu sitzen und Einfluss auf die Umsetzung der Politik zu haben. Man könne also das Tempo mitbestimmen. Um gut zu sein, sagt Franz Müntefering, müsse man Führungsgrundsätze haben: Transparenz in der Arbeit, möglichst frühzeitig über alles debattieren, dialog- und vor allem kompromissfähig sein. „Ich bin kooperativ, ich kann zuhören, ich habe die Fähigkeit, Entscheidungen herbeizuführen und – sie auch durchzusetzen.“
Wie in jeder Fraktion gibt es auch bei der SPD schwierige, ganz schwierige und ausgesprochen schwierige Zeiten und Entscheidungen. Ausgesprochen schwierig waren sie, als man in der vergangenen Legislaturperiode über die Entsendung von deutschen Soldaten auf den Balkan diskutierte. „Damals galt ich als Zuchtmeister“, sagt Franz Müntefering und lässt den Satz im Raum stehen. In den Medien wurde der Mann bislang häufig auf ein Wort reduziert. Da war er mal „Messias“, mal „Traditionssozi“, mal „Parteisoldat“ und eben auch mal „Zuchtmeister“. Wer öffentlich agiert, muss mit der Simplifizierung leben und tausend Mal die gleichen Fragen beantworten.
Im Internet und auch im wahren Leben gibt es einen Müntefering-Fanklub, eine ernst zu nehmende Diskussionsplattform, auf deren Homepage steht: „Franz Müntefering hat durch seine unverwechselbare Redegewandtheit und seinen nicht zu kopierenden Witz eine ganze Reihe von Sympathisanten.“ Die Sammlung von Müntefering-Zitaten auf der Website liest sich denn auch so, dass man sich wünscht, den 64-Jährigen öfter in einem Polit-Talk im Fernsehen zu hören. Er selbst allerdings findet die Grenzen des Fernsehens in dieser Hinsicht eng gesteckt. „Meist wird erwartet, dass ich etwas über die Partei verkünde, in großen Runden kann man kaum einen Gedanken zu Ende führen und man fällt immer wieder in eine Rolle“, sagt er und schickt hinterher: „Dabei bin ich doch gern ich selbst.“
Seine Biografie erweckt den Eindruck, als sei ihm das trotz aller Widrigkeiten gelungen. „Von meinem 14. bis zum 18. Lebensjahr habe ich Fußball gespielt. Zwischen 18 und 25 habe ich alles gelesen, was mir unter die Finger kam. Mit 25 bin ich in die SPD eingetreten. Als ich 25 war, wurde meine Tochter geboren und ich dachte: Jetzt hast du die Verantwortung für die ganze Welt. Es gibt Menschen, die nennen solche wie mich Vereinsmuffel und andere, die sagen, der mischt sich ein und das ist gut.“
Mit 35 wurde der gelernte Industriekaufmann zum ersten Mal Bundestagsabgeordneter. „Ich hatte die Taschen voller Ideen, das ist heute noch so bei allen, die neu dazukommen. Daraus schöpfen wir, das hindert uns daran, im eigenen Saft zu schmoren.“ Herbert Wehner, dem Müntefering damals seine Ideen und gleich noch ein bisschen die Welt erklärte, riet dem Neuen: „Pass auf, dass du nicht austrocknest.“
Franz Müntefering hat aufgepasst. Als Kommunalpolitiker, Bundestagsabgeordneter, Parlamentarischer Geschäftsführer, Landes- und Bundesminister, Generalsekretär der SPD, Fraktions- und Parteivorsitzender. Wenn man nicht mehr neugierig sei, müsse man aufhören, sagt er. Wenn man keine Wünsche mehr habe und das Leben und die Politik als Wiederholung der immer gleichen Dinge betrachte. Das scheint ein schweres Stück Arbeit – das Neue zu entdecken und Wiederholungen mit Pragmatismus zu betrachten, auch oder gerade in der Funktion als Fraktionsvorsitzender.
Sitzungswochen laufen nach einem fast gleichen Raster, alte Diskussionen werden immer wieder neu aufgerollt, es gibt massenhaft Wiedervorlagen, jeder Schritt nach vorn braucht in der Regel auch einen Kompromiss, was einer will, müssen 248 andere, mindestens aber die meisten von ihnen, mittragen, verschiedene Gremien diskutieren über denselben Sachverhalt. Wenn man es so sieht, könnte das Leben schwer werden. Man kann aber auch ... Alle vier Jahre kommen neue Mitstreiter, große Projekte werden Stück für Stück realisiert, Menschen ändern sich, Bedingungen ändern sich, jede erledigte Sache setzt ein neues Anliegen auf die Tagesordnung, jeder Sieg ist auch ein Fest.
Für den Politiker bleiben noch eine ganze Reihe Wünsche offen: dass die Agenda 2010 gelingen möge, dass aus Europa etwas sehr Praktisches und Wunderbares wird und mehr Menschen zur nächsten Europawahl gehen.
Franz Müntefering geht durch sein Büro und zeigt auf die Bilder. Hinter dem Schreibtisch eines, das den Titel „Suche nach der neuen Mitte“ trägt. Der Besitzer lacht. Gegenüber ein farbenfrohes mit einem Steinbock, seinem Sternzeichen, in der Mitte. Links an der Wand ein ebenso farbenfrohes aus dem Leben in der Bonner Wahlkampfzentrale Kampa. „Da hatte ich noch eine andere Frisur.“ Und am Ende des Rundgangs der schuhessende Tramp: ein Mann, der wusste, wie wichtig das Lachen ist.
Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier