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Wir leben in einer spannenden Zeit
Sie sind Teil des Ganzen, ein
Zusammenschluss von Abgeordneten, die gleiche politische
Grundüberzeugungen haben und in der Regel der gleichen Partei
angehören. Vier Fraktionen sitzen gegenwärtig im
Deutschen Bundestag. Jede von ihnen hat eine Vorsitzende oder einen
Vorsitzenden, eine wählte eine Doppelspitze. Die Funktion ist
mit vielen Pflichten und vielen Rechten verbunden. Wer sie innehat,
muss integrieren können und darf das Rampenlicht nicht
scheuen.
Fraktionsvorsitzende haben es nicht einfach, aber ihre Arbeit ist
schön.
Die Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Angela Merkel, weiß, dass es nicht nur darauf ankommt, das Richtige zu tun. „Man muss auch den richtigen Zeitpunkt finden“, sagt sie.
In ihrem Büro geht es an diesem lichtlosen, grauen Tag ruhig zu. Das neue Jahr hat gerade erst begonnen und alles scheint noch ganz und gar gelassen. Zwar klingeln die Telefone in den Vorzimmern der Fraktionsvorsitzenden, werden Akten und Ordner hin- und hergetragen und eine Menge neue Termine in Kalender geschrieben, aber der runde Tisch im Arbeitszimmer von Angela Merkel ist mit Kaffeetassen und Gläsern eingedeckt und sie selbst sitzt bereits dort, bereit für ein Gespräch. Dass solche Ruhe nur eine Momentaufnahme sein kann, beweisen vielleicht die Papiere, die Angela Merkel vor sich liegen hat, um selbst die wenigen Minuten zwischen zwei Terminen zu nutzen.
Noch kurz zuvor hat man bei der Vorbereitung des Gesprächs ein ganz anderes Bild gesehen von der Frau, die einer Partei mit 600.000 Mitgliedern vorsteht und einer Bundestagsfraktion, der 248 Abgeordnete angehören. Auf diesem Foto, in einer großen Tageszeitung veröffentlicht, sitzt Angela Merkel in einer Fischerhütte auf der Insel Rügen. 15 Jahre ist das her und das Bild sieht aus wie das Gemälde eines alten holländischen Meisters mit dem Titel „Fünf Fischer und eine Frau“. Auch wenn vielleicht das Gegenteil bewiesen werden sollte, hat die Frau auf dem Foto noch viel gemeinsam mit der Politikerin, die heute in einem großen Büro im Jakob-Kaiser-Haus sitzt. 1990 begann ihr politischer Weg, alles war noch offen und niemand hätte sagen können, dass dieser Weg immer weiter bergauf führen wird.
„In der Fraktionsarbeit gefallen mir vor allem die Zeiten und Diskussionen, in denen etwas Neues entsteht.“
Das Land, in dem Angela Merkel gelebt hatte, war gerade verschwunden, vieles, zumindest mehr als heute, schien möglich, und aus diesen Unwägbarkeiten konnten sich Spannung und Neugier nähren. In dem Jahr, als dieses Foto entstand, wurde Angela Merkel, die promovierte Physikerin, deren Forschungsgebiet die Quantenchemie war, Mitglied der CDU Ost, die sich im Oktober des gleichen Jahres mit der CDU West zusammenschloss. Und im Dezember dann erkämpfte die 1954 in Hamburg als Tochter eines Theologen und einer Lehrerin Geborene im Wahlkreis Stralsund-Rügen-Grimmen ein Direktmandat für den Bundestag.
Fraktionsvorsitzende ist Angela Merkel erst seit 2002. In den elf Jahren davor war sie Bundesministerin für Frauen und Jugend, Landesvorsitzende der CDU in Mecklenburg-Vorpommern, Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Nach dem Regierungswechsel 1998 wurde sie Generalsekretärin der CDU, zwei Jahre später deren Vorsitzende.
Wer so in die Öffentlichkeit rückt und im öffentlichen Raum agiert, wird immer interpretiert und gedeutet, in allem hinterfragt und bei jeder Gelegenheit erklärt. Das geht der Parteivorsitzenden genauso wie der Fraktionsvorsitzenden. Aber das bringt sie nicht davon ab, die Dinge so zu tun, wie sie es für richtig hält.
„Ich will im Grundsatz gerecht sein und ein Klima erzeugen, in dem alle ernsthaft miteinander streiten, aber bitteschön auch mal miteinander lachen können.“
In der Fraktionsarbeit, sagt Angela Merkel, gefielen ihr vor allem die Zeiten und Diskussionen, in denen etwas Neues entsteht. „Das sind die besten Debatten, wie beispielsweise die um eine europäische Verfassung. Man hat noch Gestaltungsspielraum. Sie können sich das wie bei einem Vulkan vorstellen, wenn die Gesteinsmasse noch flüssig, weil heiß ist, wenn die Kraft des Arguments noch den Prozess der Verfestigung beeinflussen kann. Wenn kritische Fragen etwas voranbringen oder aufbrechen können. Und natürlich, wenn man am Ende das Gefühl hat, auch aus der Opposition heraus etwas verändert und bewegt zu haben.“
Nach solchen Sternstunden befragt, nennt die Politikerin die fast dreizehn Jahre zurückliegende Hauptstadtdebatte, die Debatten um ein Zuwanderungsgesetz und um Einsätze der Bundeswehr in Krisengebieten und die zum Thema Bioethik. Letztere vor allem auch deshalb, weil hier sonst geltende Fraktionszwänge aufgebrochen sind zugunsten einer noch größeren Verantwortung des Einzelnen.
Angela Merkel ist schon oft gefragt worden, ob es einer Naturwissenschaftlerin leichter fällt, politische Arbeit zu strukturieren und vielleicht zu versachlichen, wenn Emotionen hohe Wellen schlagen. Da ist sie sehr vorsichtig und zugleich wagemutig, denn sie münzt die Frage um in die Überlegung, wie unterschiedlich Männer und Frauen agieren, wenn sie Führungsfunktionen haben. Es gebe ja, sagt sie, eine interessante Theorie dazu: Frauen versuchten, das ganze System zu überblicken und sich dafür vielleicht auch mehr Zeit zu nehmen, während Männer oft schnell anfingen zu agieren. „Beobachten Sie mal, wie Jungen und Mädchen in einem Physiklabor arbeiten“, sagt sie und lacht. „Die Jungen legen meist einfach los, während sich die Mädchen erst einmal mit der Versuchsanordnung vertraut machen, nachlesen und gelernte Gesetzmäßigkeiten rekapitulieren. Natürlich“, sagt sie, „agiere ich an manchen Stellen anders als vielleicht ein Jurist. Aber es ist schwer auseinander zu halten, ob das eine Frage des Charakters oder eine des erworbenen Wissens ist. Sicher lege ich großen Wert auf Präzision. Eine Definition ist eine Definition und zwei plus zwei ist vier und nicht 3,8 oder 4,1.“
Wichtig sei ihr in der Fraktionsarbeit, zu Beginn der Woche ein Gefühl für die nächsten Arbeitstage zu bekommen, ein Gespür dafür, welche Schwierigkeiten vielleicht vor einem liegen und worauf sich Kräfte konzentrieren müssen. Das hat weniger mit Quantenchemie und mehr mit politischer Erfahrung, Qualität und Führungsstil zu tun. „Ich will im Grundsatz gerecht sein und ein Klima erzeugen, in dem alle ernsthaft miteinander streiten, aber bitteschön auch mal miteinander lachen können. Wer viel arbeitet, muss an dieser Arbeit auch Spaß haben. Ich habe es mit 247 frei gewählten, selbstbewussten und selbständigen Menschen zu tun. Das kann man nicht mit einem Chef-Angestellten-Verhältnis vergleichen. Und das ist auch das Spannende an dieser Arbeit.“
„Zwei Stunden spazieren gehen, mal niemanden treffen und einfach die Natur genießen.“
Das Schwierige sei, sagt die Fraktionsvorsitzende, dass in Sitzungswochen die Zeit oft aus den Fugen gerate. Manchmal sei die Zeit knapp und man wisse doch, dass es in der Politik nicht nur darauf ankommt, das Richtige zu tun, sondern auch den richtigen Zeitpunkt für das, was man tut, zu bestimmen.
In solchen Zeiten hilft der 50-Jährigen manchmal ein Ausflug aufs Land. Der ist logischerweise nur sehr selten möglich, aber wenn, dann zieht es Angela Merkel dahin, wo sie aufgewachsen ist: in die Uckermark. „Zwei Stunden spazieren gehen, mal niemanden treffen und einfach die Natur genießen.“ Das ist ein ganz bescheidener Wunsch und klingt nach einer großen Sehnsucht. Zumal Angela Merkel an dieser Stelle beginnt, über Landschaft zu reden, über Seen und Buchenwälder und die Gegend, die einmal Grundmoräne war, und in der heute nicht allzu viel los ist. Aber eine Schönheit ist da, die sich aus viel Natur und viel Ruhe speist und für Angela Merkel sicher auch aus dem Gegensatz zum Alltag.
Und weil man über Sehnsüchte redet und weiß, dass kaum ein Politiker oder eine Politikerin von sich sagt, sie hätten schon als Kind werden wollen, was sie heute sind, fragt man nach der ersten Sehnsucht in ganz frühen Jahren, da Angela Merkel noch Angela Kasner war und in der uckermärkischen Kreisstadt Templin zur Schule ging. „Eiskunstläuferin“, sagt sie und lacht laut. „Das Traumpaar Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler hatte es mir ziemlich angetan. Eiskunstläuferin hätte ich sicherlich am allerwenigsten werden können, aber daran orientieren sich Kinderwünsche nicht. Es war auch nur kurze Zeit ein Traum, danach wollte ich viele Jahre lang Lehrerin werden.“
Beides ist sie nicht geworden. Aber sie hat eine spannende Alternative gewählt.
Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier
Erschienen am 14. Februar 2005