Politische
Entscheidungsprozesse
Im Zentrum steht der Bundestag
Seit Wochen ist die „Agenda
2010“ in aller Munde. Und immer hat es den Anschein, als sei
es eine pure Angelegenheit von Regierung und Parteien. Eine
Diskussion, die von Kanzler, Ministern, Parteitagen,
Gewerkschaften, Verbänden, Umfragen und Kommentaren in Presse,
Rundfunk und Fernsehen bestimmt wird. Dabei ist das Reformvorhaben
ein klassisches Beispiel dafür, dass in der deutschen Politik
nichts am Bundestag vorbeiführt. Und zwar schon lange bevor
konkrete Gesetzentwürfe im Bundestag den ganz
gewöhnlichen Gang von Beratung und Beschlussfassung gehen.
Denn damit aus Ideen Realität wird, bedarf es mehr, als einen
Vorschlag in die öffentliche Diskussion zu werfen. Daran muss
intensiv gearbeitet werden, damit es trägt. Und am Ende steht
die Entscheidung im Parlament.
Am Anfang steht die Idee. Oder die Erkenntnis, dass es so nicht
mehr weitergeht, dass Gesetze an neue Herausforderungen oder
Vorschriften der neuen Wirklichkeit angepasst werden müssen.
Im Fall der Agenda 2010 weist bereits der Name darauf hin, dass
Idee und Erkenntnis schon seit einiger Zeit in der
Öffentlichkeit diskutiert werden. Agenda 2010 - diese
Bezeichnung ist ganz offenkundig angelehnt an die Vereinbarungen,
die die europäischen Staats- und Regierungschefs bei ihrem
Treffen im März 2000 in Lissabon trafen: Danach soll die
Europäische Union bis zum Jahr 2010 zum
wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten
Wirtschaftsraum der Welt werden. Angesichts der Globalisierung und
der raschen Fortentwicklung in der Wissenschaft müssten die
Mitgliedstaaten dafür ihre Wirtschaft grundlegend umgestalten.
Hausaufgaben also für alle Länder der Europäischen
Union. Hausaufgaben insbesondere auch mit Blick auf die Alterung in
Gesellschaften wie der Bundesrepublik, die die traditionellen
Sozialsysteme schon bald an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit
bringen wird.
Der Name steht also für mehr als ein einzelnes Gesetz zur
Lösung eines Detailproblems. Der Name weist auf ein
Reformvorhaben, das mit einem grundlegenden Umbau in vielen
Bereichen staatlichen Handelns und gesellschaftlicher Gewohnheiten
zu tun hat. Ein ganzes Paket von Reformabsichten, die länger
wirken und halten sollen als die Mehrheitsverhältnisse einer
Wahlperiode - die also auf eine möglichst breite Basis in
Bundestag und Bundesrat gestellt werden sollen. Wer eine Ahnung
davon hat, wie viele Gespräche nötig sind, um den Weg
für kleine Gesetzesnovellen zu ebnen, der kann ermessen, welch
ungeheure Kommunikationsleistungen erbracht werden müssen, um
Reformen auf breiter Front gleichzeitig anzustoßen. Deshalb
war für den Bundestag die Regierungserklärung des
Bundeskanzlers am 14. März keine Überraschung, hatte er
doch in den Tagen und Wochen zuvor bei verschiedensten Sitzungen
der Regierungsfraktionen und der Koalitionsgremien das Terrain
bereitet.
Gerhard Schröder wählte als Ort für die
Ankündigung der Agenda 2010 nicht von ungefähr den
Bundestag. Hier, im Forum der Nation, bekommt jede
Äußerung von vornherein eine größere
Verbindlichkeit. Hier, im zentralen Organ der Gesetzgebung,
müssen alsdann die Einzelheiten beraten und auf ihre
Stimmigkeit abgeklopft werden. Und hier ist letztlich der Ort der
Entscheidung, die freilich in vielen Fällen mit dem Bundesrat
auszuhandeln ist.
Wege in die
Öffentlichkeit
Deshalb ist die erste Reaktion der Opposition (besonders wenn
ihre Parteifreunde im Bundesrat die Mehrheit stellen) mindestens so
wichtig wie die Darlegung des eigenen Ziels, durch weitreichende
Strukturreformen Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts „bei
Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen“ zu wollen.
So der Bundeskanzler. Und das Echo von CDU/CSU-Fraktionschefin
Angela Merkel: „Der große Wurf für die
Bundesrepublik Deutschland war das mit Sicherheit nicht“.
Allerdings bot sie zugleich eine „nationale
Kraftanstrengung“ an: „Bei allem, was aus unserer Sicht
in die richtige Richtung weist, ... sagen wir, dass wir
mitmachen.“
Vor dem Machen steht jedoch die Vorbereitung. Um die
öffentliche Begleitung muss sich dabei keine Regierung sorgen.
Viele Ideen und Entwürfe finden immer wieder den Weg in die
Öffentlichkeit - oft schon, bevor die Beratungen in den
zuständigen Gremien begonnen haben. Arbeitsentwürfe aus
Ministerien und Parteizentralen stehen damit nicht nur in den
Sitzungen von Parteipräsidien und Parteivorständen zur
Diskussion, sondern parallel dazu auch schon in Presse, Rundfunk
und Fernsehen - mitunter natürlich auch, weil sich der eine
oder andere Beteiligte davon Vorteile für die eigene
Argumentation erhofft. Auf diese Weise wirkt die öffentliche
Reaktion an der Einschätzung der gesetzlichen Wirkungen mit:
Wie kommt eine Initiative an? Wie groß wird der Widerstand bei
den Betroffenen sein? Welche Folgen für das Wahlverhalten
könnten damit verbunden sein? So nimmt die öffentliche
Diskussion Einfluss auf die Meinungsbildung in den Partei- und
Parlamentsgremien.
Besonders wichtig: die Einschaltung derjenigen, die von den
Regelungen betroffen sind, und derjenigen, die sich auf diesen
Feldern besonders gut auskennen. Das geschieht gewöhnlich
spätestens im Rahmen der parlamentarischen Beratungen durch
Anhörungen der Experten in den Fachausschüssen des
Bundestages. Bei wichtigen Vorhaben melden sich die Betroffenen
aber auch schon im Vorfeld selbst zu Wort, um auf die zu
beschließenden Bestimmungen so früh wie möglich
Einfluss zu nehmen: von persönlichen Warnungen über das
Lancieren entsprechender Hinweise an die Medien bis zur
Organisation öffentlicher Proteste. Wenn massenhaft Briefe und
E-Mails bei Regierung und Parlament eingehen, wenn zu
Demonstrationen aufgerufen wird, wenn auch die Parteibasis
irritiert ist, Mitgliederbegehren und Sonderparteitage verlangt,
wenn die Medien analysieren, welche Folgen die geplanten Reformen
haben, dann bleibt das auch bei den politischen
Entscheidungsträgern nicht ohne Wirkung.
Auch bei der Agenda 2010. So sorgte die Parteibasis dafür,
unterstützt von den flankierenden Protesten aus den
Gewerkschaften, dass eine umfangreiche Willensbildung in Gang kam
und die beiden Regierungsparteien Sonderparteitage einberiefen. In
diesem Zusammenhang hinterlassen auch Meinungsumfragen tiefe
Spuren. Hinzu kommt jedoch ebenfalls die Erkenntnis, dass immer
wieder kurzfristig unpopuläre Schritte gegangen werden
müssen, um mittel- und langfristig das Heft des Handelns in
der Hand zu behalten.
Das Ergebnis der Meinungsfindung muss organisiert und in
konkrete Gesetzestexte übersetzt werden. Gleich in der ersten
Kabinettssitzung wenige Tage nach der Regierungserklärung
bekamen alle Minister, deren Fachgebiet von den Agenda-Vorhaben
berührt werden, Arbeitsaufträge, sämtliche
betroffenen Gesetze zu identifizieren und erste Entwürfe zur
Umsetzung auszuarbeiten. Parallel befassten sich seit Mitte
März die Koalitionsfraktionen auf jeder Sitzung mit den
Aspekten der Agenda. Und von der Seite wirkt auch die Opposition
mit, die schon in mehreren „Aktuellen Stunden“ einzelne
Themen der Agenda aufrief, dringenden Handlungsbedarf feststellte
und mit der Regierung um den besten Weg rang.
Gleichzeitig lief die Diskussion in den Parteien. Vor allem bei
SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die Stufenleiter jedoch
blieb stets klar: Welchen Rückhalt für die Reformideen
bieten die Spitzengremien? Wie nimmt die Basis in
Regionalkonferenzen und Sonderparteitagen Stellung? Und dann das
eigentlich Entscheidende: Können auch im Bundestag die
Bestandteile der Agenda 2010 eine Mehrheit finden? Die Ebenen der
Meinungsbildung blieben dabei stets verschränkt. Fraktionen
sind der Schnittpunkt zwischen Parteien und Bundestag, zwischen
öffentlicher Reaktion in den Wahlkreisen der Abgeordneten und
Umsetzung in ein für alle geltendes Regelwerk, und als solche
sind Fraktionsmitglieder auch an der innerparteilichen
Willensbildung beteiligt. Bei beiden Koalitionsfraktionen
entstanden Entwürfe und Papiere, die auf die Parteidiskussion
zurückwirkten. Die Kommunikation lief ebenfalls stets auch
mitten durch den Bundestag. So lud die Parlamentarische Linke (PL)
der SPD-Bundestagsfraktion zu internen Besprechungen und nach
außen wirkenden Pressegesprächen, um mit ihren
Vorschlägen die Agenda „in Detailfragen zu erweitern und
zu verbessern“, wie PL-Sprecher Michael Müller, zugleich
stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, erläuterte.
„Es ist klar, dass das Papier der PL in sehr vielen
Unterbezirken und Bezirken Zustimmung gefunden hat“,
resümiert er. Aber es sei „kein Antipapier“
geworden.
Intensive Beratungen
Müller blickt auch schon voraus. Seit Wochen liefen
intensive Beratungen in der Fraktion, in den Arbeitsgruppen, in den
Ministerien mit vorbereitenden Initiativen und Arbeitspapieren als
Zwischenergebnis. Aber das, was dann an Gesetzentwürfen in den
Bundestag eingebracht werde, unterliege nicht dem oft von Medien
erzeugten Interesse einer „1-zu-1-Umsetzung“.
Müller: „Es gibt kein Parlament, das alles stets 1:1
umsetzt.“ Das gehe schon handwerklich nicht. Und vor allem:
„Das Parlament ist souverän.“ Natürlich wisse
die Fraktion zugleich, an welchen Punkten Veränderungen
schwierig würden, weil man dann „außerhalb des
Rahmens“ springe. Denn dieser Rahmen sei ja inzwischen durch
Grundsatzentscheidungen auf verschiedenen Ebenen akzeptiert.
Und wie wirken die Debatten innerhalb der Regierungsfraktionen
und Regierungsparteien auf Abgeordnete der Oppositionsfraktionen?
Was machen sie derweil? Sammeln, warten, positionieren - und an
eigene Initiativen und Vorstöße denken. Dem
CDU/CSU-Haushaltsexperten Steffen Kampeter beispielsweise erscheint
die Agenda 2010 schlicht „überhöht“. Die
Situationsanalyse decke sich mit dem, was seit Jahren die
internationalen Wirtschaftsinstitute über Deutschland
schrieben. „Alle Vorschläge sind weder neu noch
besonders originell - das ist alles schon seit langem Gegenstand
der Gespräche im Haushaltsausschuss.“ Warum sich die
Fachausschüsse vor dem offiziellen Einbringen der
Gesetzentwürfe noch nicht mit der Materie im Einzelnen
befassen, verdeutlicht er anschaulich: „Wir beschäftigen
uns nicht mit Virtuellem.“ Das ist auch das Hauptproblem
für den FDP-Gesundheitspolitiker Detlef Parr. Die Liberalen
hätten an die Gesamtverantwortung des Bundestages gedacht und
signalisiert, deswegen die Reformvorhaben mittragen zu wollen.
Inzwischen sei er aber zurückhaltend geworden, weil er nicht
wisse, wie die Endfassung nun aussehen werde. Für ihn sei zum
Beispiel besonders interessant, wie sich das, was aus dem Haus von
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nun als Entwurf eines
Gesundheitsmodernisierungsgesetzes auf den Tisch komme, zu dem
verhalte, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung
ursprünglich angekündigt hatte. Parr: „Unser
Eindruck ist, dass Schröder im Hinblick auf
marktwirtschaftliche Elemente im Gesundheitswesen einige Schritte
weiter zu gehen bereit ist als die Gesundheitsministerin. Das wird
jetzt spannend.“
Formulierungshilfen
Spannend für viele: für die Abgeordneten aller
Fraktionen, wenn sie die konkreten Gesetzentwürfe erstmals in
der Hand haben, und zwar unabhängig davon, ob diese von Fall
zu Fall von der Regierung selbst oder von einzelnen
Bundestagsfraktionen (auf der Grundlage von zum Beispiel
„Formulierungshilfen“ aus den Bundesministerien) in den
Bundestag eingebracht und dann in erster Lesung in
öffentlicher Sitzung in den Grundzügen beraten werden.
Spannend für den Bundesrat, der einem Großteil der
Gesetze voraussichtlich zustimmen muss, damit sie in Kraft treten
können, und den Rest immerhin mit einem Einspruch aufhalten
und dann testen kann, ob die Regierung in den einzelnen Details
jeweils auch die „Kanzlermehrheit“ zusammenbekommt.
Spannend sehr bald auch für Experten, Beteiligte, Betroffene
und deren Interessengruppen, die zu jedem einzelnen Gesetz um
Stellungnahmen (zumeist in Form von öffentlichen
Anhörungen) gebeten werden. Und spannend nicht zuletzt
für die Öffentlichkeit, die über viele Monate hinweg
die Arbeit des Parlaments erleben und die Fortschritte der
Beratungen, Überlegungen und Kompromisssuche verfolgen
können wird.
Da geht es dann möglicherweise nicht nur um kleine
Korrekturen oder winzige Ergänzungen. Bis hinein in die
Regierungsfraktionen existiert ein Bedürfnis, den
öffentlichen Eindruck zu verändern. „Es geht vielen
von uns nicht um ein ,Schröder minus’, sondern um ein
,Schröder plus’“, sagt Reinhard Loske,
stellvertretender Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die
Grünen. Die Agenda erwecke den Eindruck einer
„notwendigen, aber noch nicht hinreichenden Operation“.
Für ihn mache die Kraftanstrengung Sinn, wenn sie in
„eine größere Geschichte eingebettet“ werde.
Eine Angelegenheit, die nicht nur von Krankengeld und zwölf
Monaten Arbeitslosengeld handeln dürfe: „Da muss noch
mehr kommen.“ Etwa Antworten auf die Fragen, wie die
Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden, wie Deutschland als
Forschungsstandort wieder nach vorn kommen, wie Innovation und
Nachhaltigkeit in ein ganzheitliches Konzept münden kann.
Die zunächst vorherrschende Frage nach der Geschlossenheit
der Regierungsfraktionen wird auch in diesem Prozess sicherlich
ergänzt werden durch die Frage nach den Einstellungen und
Absichten der Opposition, die über die Mehrheit im Bundesrat
entscheidend mitsprechen wird. Der Landesgruppenchef der CSU im
Bundestag, Michael Glos, sagte, die Opposition sei „keine
Ersatzregierung“, aber auch „kein Blockierer“.
Seine bildkräftige Formel: „Wir werden kein Loch in die
Bordwand eines Schiffes bohren, auf dem wir selbst mit
draufsitzen.“ Insofern gebe es ein „gemeinsames
Interesse“. Und deshalb werde man spätestens im
Vermittlungsverfahren zu einem „konstruktiven
Miteinander“ kommen.
Gregor Mayntz