Ansprache von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Veranstaltung im Deutschen Bundestag zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus
Es gilt das gesprochene Wort
"Wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und unsere
Gäste, gedenken heute aller Opfer der
nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft und des institutionalisierten Rassenwahns - der
Opfer des Holocaust. Wir erinnern an Millionen ermordeter Menschen
aus ganz Europa: an Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle,
Behinderte, politisch Andersdenkende. Wir erinnern an Verfolgung,
Terror und grenzenloses Leid - zugefügt von deutschen
Tätern.
Morgen, am 27. Januar 2001, jährt sich zum 56. Mal der Tag der
Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch
Soldaten der Roten Armee. Auf Anregung von Roman Herzog begehen wir
diesen Tag zum sechsten Mal als nationalen Gedenktag - und zwar
ohne die im Parlament übliche Routine, aber durchaus mit einem
aufklärerischen Anspruch: Wir verständigen uns über
die Lehren aus dem Holocaust - öffentlich wahrnehmbar und in
der gebotenen Klarheit. Wir suchen nach neuen, nach angemessenen,
nach ermutigenden Formen des Erinnerns, des verantwortlichen
Erinnerns an das schlimmste, an das traurigste Kapitel deutscher
und europäischer Geschichte.
Auschwitz, der deutsche Tatort unweit von Krakau, ist seit
fünf Jahrzehnten zentrale Metapher für Völkermord,
für nationalstaatlichen Terror - für begangene und
geduldete Menschheitsverbrechen schlechthin. Auschwitz ist Beleg
und Warnsignal für die Selbstzerstörungspotentiale der
modernen Zivilisation, die - sind sie erst einmal entfesselt -
verbrannte Körper und verbrannte Erde hinterlassen.
Wir sind uns bewußt: Auschwitz ist und bleibt die
furchtbarste Antithese zur Demokratie. An dieser menschengemachten
Tragödie kommen Vernunft und Politik auch im 21. Jahrhundert
nicht vorbei. Auschwitz nimmt alle Demokraten in die Pflicht - auf
immer.
Sie, verehrter Herr Bundespräsident, haben im letzten Jahr in
Ihrer denkwürdigen Rede vor der Knesset auf diesen
Zusammenhang von Geschichte und Verantwortung hingewiesen. Ich
zitiere zwei Ihrer Sätze zur Schuldfrage: "Die
persönliche Schuld mag der Täter mit ins Grab nehmen. Die
Folgen einer Schuld, die die Grundlagen menschlicher Sittlichkeit
erschüttert hat, tragen die nach ihm kommenden
Generationen."
Welche politischen und kulturellen Aufgaben ergeben sich daraus?
Zunächst einmal müssen wir das historische Bewusstsein
für das grausame Geschehen wachhalten, "schärfen", und
uns um die Weitergabe des historischen Wissens an die Jugend
kümmern. Schließlich stehen wir in einem
Generationenwechsel, in der Zeit des Übergangs von der
Erinnerung an Erlebtes zur Verständigung über
Mitgeteiltes. Unsere Kultur des Erinnerns befindet sich in einem
Wandel - wir haben uns in den Debatten zum Denkmal für die
ermordeten Juden Europas mehrfach über diesen Prozess
verständigt.
In diesem Prozess ist es besonders wichtig, dass sich die
Nachkommen der Opfer und die Nachkommen der Täter gemeinsam
mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Ich meine: Wir sollten
noch sehr viel mehr als bisher Begegnungsprojekte fördern:
zwischen jungen Deutschen und Israelis, zwischen jungen Deutschen
und Sinti und Roma, zwischen deutschen Schülern und ihren
Altersgenossen aus Osteuropa, insbesondere aus Polen. Fremdheit zu
überwinden, heißt immer auch, Vorurteile
abzubauen.
Eine drängende Pflicht für uns alle ist es, dass wir
junge Menschen immer wieder neu für die aktuellen
Gefährdungen der Demokratie sensibilisieren, ihnen ein
Bewußtsein für die eigene politische Verantwortung,
für die eigenen politischen Gestaltungsmöglichkeiten in
der Demokratie vermitteln. Das setzt allerdings voraus, dass wir
neu darüber nachdenken, wie wir sie erreichen, wie wir mit
ihnen ins Gespräch kommen. Der politische Appell allein
verhallt, wird er nicht auch diskutiert.
Zu verstärkten Bemühungen in der politischen
Aufklärungs- und Bildungsarbeit vor Ort gibt es keine
Alternative: Denn dort, vor Ort, im privaten Umfeld, werden heute
jene Geisteshaltungen, jene Formen kultureller Blindheit
reanimiert, die einst den Holocaust überhaupt erst
möglich gemacht haben. Sie prägen inzwischen wieder das
Alltagsbewußtsein vieler Menschen in unserem Land.
Intoleranz, Fremdenhaß, Antisemitismus, Rassismus,
Rechtsextremismus schlagen sich - wie die vor wenigen Tagen
veröffentlichten Zahlen für das Jahr 2000 auf traurige
Weise belegen - in immer mehr und in immer brutaleren Gewalttaten
nieder. Die Gesamtzahl der rechtsextremistischen,
fremdenfeindlichen und antisemitischen Delikte liegt nach
Schätzung der Sicherheitsbehörden im Jahr 2000 bei knapp
14.000. 1999 waren es noch 10.037. Zwar ist seit letztem Sommer
viel bürgerschaftlicher Widerstand gegen diese unheilvolle
Entwicklung erkennbar geworden, erkennbarer als zuvor, doch die
Gewaltbereitschaft der Neonazis und Skinheads wurde bisher ebenso
wenig gebrochen wie ihr demokratiefeindliches ideologisches
Korsett.
Die Debatte zum Holocaust-Gedenken ist keineswegs abgeschlossen.
Der Bundestag hatte, als er 1999 den Bau des Mahnmals für die
über sechs Millionen ermordeten Juden Europas beschloss,
zugleich bekräftigt, dass auch der anderen Opfergruppen - der
Sinti und Roma, der Homosexuellen, der Euthanasie-Opfer, der
Zwangssterilisierten und all der anderen - "angemessen" zu gedenken
sei.
Ich möchte allen noch lebenden Opfern der Nazibarbarei, ihren
Angehörigen und ihren Verbänden sagen, dass wir uns in
unserem verantwortlichen Nachdenken über würdige
Gedenkorte und Gedenkformen sowie deren Gestaltung keinesfalls von
arithmetischen Überlegungen leiten lassen, die etwa das
Ausmaß und die Angemessenheit dieses Gedenkens an der Zahl
der bislang ermittelten Opfer bemißt. Wir hierarchisieren
nicht das erlittene Unrecht, wir relativieren nicht den Terror der
Naziherrschaft. Es gibt keine Mordopfer 1. und 2. Klasse.
Wir haben bei der Stiftung "Denkmal für die ermordeten Juden
Europas einen Beirat gebildet, in dem die meisten der genannten
Opfergruppen durch ihre Verbände vertreten sind. Dort findet
eine intensive Debatte darüber statt, in welchen Formen dieses
Gedenken künftig angemessen zum Ausdruck gebracht werden soll.
Dort scheint sich auch ein gewisser Konsens darüber
herauszukristallisieren, dass die Form des "Mahnmals" insbesondere
für die sogenannten Völkermordopfer gewählt werden
soll. Ich begrüße es deshalb sehr, dass der Senat der
Stadt Berlin den Architekten Dani Karavan mit dem Entwurf für
ein Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma beauftragt
hat.
Sinti und Roma galten nach der beschämenden Logik der
nationalsozialistischen Unrecht-Sprechung als rassisch
minderwertige Zigeuner. Mit dem Vorsatz, diese europäische
Minderheit vollständig zu vernichten, wurden sie systematisch
und familienweise erfaßt und deportiert. Hunderttausende von
ihnen sind zwangssterilisiert oder in Konzentrationslagern ermordet
worden - in Auschwitz-Birkenau ebenso wie in Treblinka, Majdanek,
Sachsenhausen, Ravensbrück, Buchenwald, Bergen-Belsen, Dachau,
Mauthausen und an weiteren Orten.
Günter Grass hat in einer sehr bewegenden Rede im letzten
Oktober an diesen Vernichtungsfeldzug gegen die Sinti und Roma
erinnert. Und er hat darauf hingewiesen, dass Sinti und Roma bis
heute europaweit benachteiligt sind und diskriminiert werden.
Ein Zeichen der Ehre und der Hoffnung ist es, dass heute Musiker
aus verschiedenen europäischen Kulturen zu uns gekommen sind,
um gemeinsam für uns und unsere Gäste zu spielen: der
Sinti-Geiger Jozseph Lendvay, das Quartett aus Mitgliedern der
"Philharmonie der Nationen" unter Leitung von Justus Frantz."