Ansprache von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse über "Sprachenvielfalt als politische Verpflichtung" vor dem Deutschen Philologenverbandes (Berlin, Humboldt-Universität)
Es gilt das gesprochene Wort
"In seiner Erzählung "Das Treffen in Telgte" hat Günter
Grass, einer der unbestrittenen Meister unserer Sprache, ein
Treffen deutscher Dichter während des 30-jährigen Krieges
beschrieben. Die Poeten beraten, wie dem Verfall der deutschen
Sprache, ihrer Durchmischung mit ausländischen
Ausdrücken, der Gefahr ihrer Verdrängung durch das
Französische begegnet werden kann. Als der beste Illustrator
seiner Texte hat Günter Grass die Antwort auf dieses Problem
in eine einprägsame Zeichnung gefasst: Aus einem
Geröllfeld ragt eine Hand hervor, die eine Schreibfeder
hochhält- ein Inbegriff des guten Stils wie des
sorgfältigen Umgangs mit der Sprache.
Bei dem sprachlichen Schutt und Geröll, das uns derzeit gerade
in den Medien immer öfter begegnet, muss ich mitunter an diese
Zeichnung von Günter Grass denken. Die hochgehaltene Feder ist
ein gutes Sinnbild für die Aufgabe, verantwortungsvoll und
sensibel mit einem unserer wichtigsten Kulturgüter umzugehen.
Der pflegliche Gebrauch unserer Muttersprache wird durch das
Zusammenwachsen Europas keineswegs überflüssig - ganz im
Gegenteil. Wer die kulturelle Pluralität in Europa erhalten
will, sollte sich um die eigene Kultur kümmern. Und wer die
europäische Sprachenvielfalt erhalten will, muss zugleich
seine eigene Sprache in Ordnung halten oder bringen. Deshalb
zunächst einige Anmerkungen zum Zustand der deutschen Sprache
und anschließend Überlegungen zur Sprachenvielfalt in
einem Europa, das trotz Einheitswährung Euro und lingua franca
Englisch ein Europa der sprachlichen und kulturellen Vielfalt
bleiben soll.
Über die deutsche Sprache wird gegenwärtig in Politik und
Öffentlichkeit, in Talkshows und Feuilletons hingebungsvoll
gestritten - vor allem um die Anglizismen und Amerikanismen. Von
ihnen kann auch der Bundestagspräsident ein Lied singen. Ich
erhalte immer häufiger Einladungsschreiben, in denen es von
angelsächsischen Modewörtern wimmelt: "Mega-Event" mit
"Performance" bei hoher "Media-Präsenz",
"round-table-conference" mit anschließendem "Presse-Briefing"
usw. Mitunter möchte ich solche Schreiben einfach an den
bundestagseigenen Sprachendienst weiterleiten - mit der Bitte um
Rückübersetzung in unsere Muttersprache.
Aber es geht mir nicht nur um die Fremdwörter, sondern um den
gedankenlosen und nachlässigen Gebrauch unserer Sprache
insgesamt. Als Germanist (und Kulturwissenschaftler) empfinde ich
wachsendes Unbehagen daran, wie mit unserer Sprache umgegangen wird
- und nicht nur in den Medien. Dazu trägt auch die Politik
bei. "Plastikwörter" hat der Sprachwissenschaftler Uwe
Pörksen jene vielseitig kombinierbaren, scheinbar
bedeutungsschweren Ausdrücke genannt, hinter denen oft nur
sehr wenig steckt. "Strukturpolitik", "Entwicklung",
"Kommunikation", "Rückbau"
"Nullwachstum" sind solche im politischen Sprachgebrauch
verbreiteten Leerformeln.
Bei Pörksen findet sich übrigens auch das Wort
"Leittechnologie". Das hat bei mir den Verdacht geweckt, dass die
vieldiskutierte "deutsche Leitkultur" ebenfalls ein solches
"Plastikwort" sein könnte - nach dem Schema: jeder kennt es,
viele gebrauchen es, sowohl zustimmend wie heftig
ablehnend, und was es eigentlich bedeutet, weiß niemand
genau. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig Sensibilität
gegenüber dem öffentlichen Sprachgebrauch ist und welch
bedeutende aufklärerischeWirkung politische Sprachkritik haben
kann. Schließlich ist bei den Diskussionen um das Wort
"Leitkultur" deutlich geworden, dass das vermeintlich "deutsche" an
der Leitkultur in Wirklichkeit allgemein europäisch-westliche
Werte sind - und dass - so meine Überzeugung - die guten
Phasen deutscher Kultur immer jene waren, in denen wir Deutsche uns
öffneten für die besten Einflüsse anderer Kulturen:
in der Renaissance, in der Aufklärung, vor allem auch in der
Orientierung an den Grundwerten der westlichen Demokratien nach
1945. Die Hochzeiten deutscher Kultur waren immer ihre Hochzeiten
mit anderen Kulturen - und übrigens auch mit anderen
Sprachen.
Aus diesem Grund schießt die aktuelle Kritik am Zustand der
deutschen Sprache oft über das Ziel hinaus. Das gilt gerade
für die Fremdwortfrage, in der eine große
Wochenendzeitung kürzlich die Haltung des
Bundestagspräsidenten leider nur unvollständig
wiedergegeben hat. Ich habe keineswegs pauschal zu
gesellschaftlichem Widerstand gegen Fremdwörter aufgerufen,
sondern vielmehr zu Augenmaß und Gelassenheit. Die Pflege
unserer Muttersprache ist etwas sehr Sinnvolles, sie sollte
eigentlich selbstverständlich sein. Pauschale
Fremdwortablehnung und deutschtümelnder Purismus wären
dagegen im Zeitalter der Europäisierung und Globalisierung
wenig sinnvoll. Der inflationäre und gedankenlose Gebrauch von
Fremdwörtern kann zu Verständnisschwierigkeiten, auch zum
Verlust von Ausdrucksmöglichkeiten unserer Muttersprache
führen. Sinnvoll und sensibel verwendet, können
Anglizismen und Amerikanismen jedoch unsere Sprache ergänzen,
unser Denken erweitern, unsere Kultur insgesamt bereichern.
Das belegt ein Blick auf die Geschichte unserer Sprache. Was heute
die Anglizismen sind, waren im 17. und 18. Jahrhundert die
lateinischen und dann die französischen Spracheinflüsse.
Und sie haben unserer Sprachentwicklung ja keineswegs geschadet. So
wie heute gab es natürlich auch früher manch
lächerliche Modephrase und unnötige
Bildungsattitüde. Lessing hat sie in "Minna von Barnhelm" sehr
amüsant parodiert. Aber über die lateinischen
Entlehnungen ist eben auch viel klassisches Bildungsgut in unsere
Kultur gelangt. Die französischen Lehnwörter und
Lehnbildungen sind auch ein Ausdruck für den Einfluss der
französischen Kultur nicht nur allgemein, sondern insbesondere
des Denkens der französischen Aufklärung. Ein
folgenreicher, für unsere kulturelle wie politische Geschichte
positiver Vorgang. Warum sollte das bei den heutigen Anglizismen
gänzlich anders sein? Schließlich kann uns Deutschen,
die alles gleich bis in philosophische Tiefen durchdenken, alles
oder vielleicht doch zu vieles "vergrundsätzlichen", eine
Dosis angelsächsischen Pragmatismus bestimmt nicht
schaden.
Deshalb halte ich nichts von einem Gesetz zum Schutz der deutschen
Sprache. Sprache kann man nicht verordnen. Der öffentliche und
erst recht der private Sprachgebrauch lassen sich nicht
vorschreiben. Jeder Versuch in diese Richtung ruft unweigerlich
Verweigerung hervor. Meine Skepsis hat hier nicht nur
linguistische, sondern vor allem auch biographische Gründe.
Als früherer DDR-Bürger habe ich langjährige
Erfahrungen mit verordneter Sprache, gerade mit dem Parteijargon
der SED - und mit dem Scheitern aller Versuche, ihn im allgemeinen
Sprachgebrauch durchzusetzen - obwohl: ganz ohne Wirkungen auf die
Sprache von Ostdeutschen ist dieser Jargon nicht geblieben.
Der Funktionärsjargon wurde in der DDR zum einen durch den
Volkswitz, durch vielerlei Spott und Ironie entlarvt und
untergraben: Zitate wie "Das Sein verstimmt das Bewußtsein"
oder die "sozialistische Wartegemeinschaft" mögen hier als
Beispiele genügen. Zum anderen entwickelte man im
DDR-Alltagsleben zwangsläufig ein besonderes Sensorium, um an
der Sprache des jeweiligen Gegenüber zu erkennen, mit wem man
es zu tun hatte. "Sprich, damit ich dich sehe" - so habe ich diese
Haltung vor Jahren einmal beschrieben.
Wer zum Beispiel "hier" sagte, statt "bei uns in der DDR"
signalisierte schon eine gewisse Reserve. Und wer im Vorwort zu
einem Sachbuch über Getreidemilben den Hinweis auf die
"Errungenschaften der sozialistischen Landwirtschaft im Lichte der
Beschlüsse des n-ten Parteitages der SED" unterließ, der
musste sich auf Zensur-Prädikate wie "objektivistischer" oder
"bürgerlicher" Wissenschaftler gefasst machen.
Diese Sprachverordnungen sind Geschichte geworden. Mich hat auch
bis heute das Glücksgefühl nicht verlassen, in Freiheit
leben, und das heißt vor allem: frei sprechen, offen reden zu
können. Demokratie bedeutet nicht zuletzt Freiheit der
Sprache, das selbstverständliche Recht, die Worte so zu
gebrauchen, wie ich es will und nicht, wie sie mir andere in den
Mund legen möchten.
Aber die als DDR-Bürger erworbene Sensibilität für
die gesprochene und geschriebene Sprache möchte ich nicht
missen. Und ich hoffe sehr, dass sie nicht mit dem wohlverdienten
Ende der DDR untergegangen ist, sondern uns Deutschen weiterhin und
gemeinsam am Herzen liegt. Der Umgang mit unserer Sprache ist keine
Nebensache, keine Spielwiese für Hobby-Linguisten und
Sonntagskritiker. Wie wir mit unserer Muttersprache umgehen, zeigt
immer auch ein Stück weit, wie wichtig uns unsere Kultur ist,
wie sehr wir bereit sind, uns für sie einzusetzen.
Warum wird in der aktuellen Debatte um die deutsche Sprache
eigentlich immer nach anderen gerufen, nach Akademien, nach
Gesetzen, nach Sprachwächtern? Was wir brauchen, ist doch
vielmehr das eigene, das gute Beispiel, das nachahmenswerte Vorbild
im Umgang mit unserer Sprache. Ich setze auf den unaufdringlichen,
aber wirksamen Einfluss guter Praxis des öffentlichen
Sprechens und Schreibens.
Hier kann schon in Familie und Schule vieles in gute und richtige
Bahnen gelenkt werden. Im Deutschunterricht, aber nicht nur hier,
sollte man die Schönheit und den Ausdrucksreichtum der
deutschen Sprache kennen lernen. Es fehlt uns wahrlich nicht an
beispielhaften literarischen Texten von Goethe, Schiller und Heine
bis zu Thomas Mann, Brecht und Grass. Gute und geschickte Lehrer
können viele Türen öffnen und Interesse wecken an
dem Reichtum der deutschen Sprache und Literatur.
Auch Journalisten können Vorbilder sein. Den Zeitungen kommt
eine besondere Verantwortung für den Umgang mit unserer
Sprache zu. In den Zeitungen sollte man die Chance haben, Texte in
verständlichem und plastischem Deutsch zu lesen. Ebenso gilt
für die öffentlich-rechtlichen und erst recht für
die privaten Fernsehanstalten, dass Intendanten und Chefredakteure
ihren Moderatoren intensiver auf die gelegentlich sprachlich
schmutzigen Finger schauen sollten. Aber auch unsere Amtsstuben,
unsere öffentlichen Behörden und vor allem unsere
Parlamente sind Betätigungsfelder für das gute
sprachliche Vorbild.
Bemühen wir uns also um das Zurückdrängen von
seifenblasenartiger Medien- und Werbesprache, von
menschenunfreundlichem Beamtendeutsch, von unverständlichem
Juristenjargon, von formelhaft-inhaltslosem Politikerjargon. Hier
können Intendanten, Behördenchefs, Senatoren, Minister
und Debattenredner mit gutem Beispiel vorangehen. Bemühen wir
uns selbst um verständliches, um stilistisch gutes, um
gedanklich klares Deutsch. Nutzen wir den Ausdrucksreichtum und die
Schönheit unserer Muttersprache, anstatt uns selbst um diese
großartigen sprachlichen Möglichkeiten zu bringen.
Sprache bedeutet Heimat. Unsere Muttersprache ist die Grundlage der
Vielfalt und des Reichtums unserer Kultur. Wir sollten sie uns
nicht nehmen lassen - und sie erst recht nicht europäischen
Vereinheitlichungstendenzen opfern.
Damit bin ich beim zweiten Aspekt: der Sprachenvielfalt in Europa.
Gemeinsam mit dem "Europarat" hat die "Europäische Union" das
Jahr 2001 zum "Europäischen Jahr der Sprachen" ausgerufen. Das
ist ein gutes Signal. Schließlich hat der fortschreitende
europäische Einigungsprozess Befürchtungen geweckt, mit
der Sprachenvielfalt sei auch die kulturelle Pluralität in
Europa in Gefahr.
Richtig ist: In einem Europa, das in absehbarer Zeit 27
Mitgliedsstaaten haben dürfte, wird der Trend zu gemeinsamen
Verkehrssprachen - und das bedeutet in erster Linie Englisch, in
zweiter Französisch - noch stärker werden als bisher. Das
könnte zu Lasten der deutschen Sprache gehen - wenn wir nicht
aufpassen. Das europäische Sprachenjahr steht unter dem Motto
"Sprachen öffnen Türen" - eine ebenso richtige wie
richtungweisende Feststellung. Gerade deshalb dürfen wir nicht
zulassen, dass der deutschen Sprache in Europa die Tür vor der
Nase zugeschlagen wird.
Hier sind auf verschiedenen Ebenen bedenkliche Tendenzen zu
registrieren. Ich meine nicht nur den unübersehbaren
Rückgang der Verwendung des Deutschen als Wissenschaftssprache
gerade in den Geisteswissenschaften - ein Feld, in dem unsere
Sprache im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch Weltgeltung
hatte. Dieser Bedeutungsverlust hängt mit dem Umstand
zusammen, dass in naturwissenschaftlichen Publikationen das
Englische als internationale Wissenschaftssprache dominiert - einer
ganzen Reihe deutscher Nobelpreisträger und -trägerinnen
zum Trotz. Die Geistes- und Kulturwissenschaften, in denen das
Deutsche als die Sprache der "Dichter und Denker" von Goethe, Kant
und Hegel bis zu Thomas Mann, Nietzsche, Heidegger und Habermas
nach wie vor über kulturelles Gewicht und Prestige
verfügt, haben derzeit insgesamt nicht die Konjunktur, die
ihnen zu wünschen wäre - sehr zum Nachteil der
Verbreitung des Deutschen als Wissenschaftssprache.
Aber auch im politischen Bereich gibt es irritierende Signale. Ich
erinnere an die jüngste Entscheidung der schwedischen
Ratspräsidentschaft, Deutsch als Arbeitssprache bei Beratungen
unterhalb der EU-Ministerebene nicht mehr anzubieten. Bereits unter
der vorhergehenden finnischen Ratspräsidentschaft gab es einen
ähnlichen Versuch, die Arbeitssprachen der EU auf Englisch und
Französisch zu reduzieren. Damals hat sich die Bundesregierung
mit ihrem Protest durchgesetzt, wurde das Deutsche
schließlich doch als Arbeitssprache angeboten. Die
Bundesrepublik Deutschland wird auch in diesem Fall darauf
drängen, dass die deutsche Sprache auf allen EU-Ebenen weiter
verwendet wird - und dass Deutschkenntnisse als Ausbildungs- und
Qualifikationsmerkmal für Mitarbeiter von EU-Behörden
stärkere Berücksichtigung finden.
Sicherlich ist Deutsch keine leicht zu erlernende Sprache. Mark
Twain meinte einmal, Englisch könne man in dreißig
Stunden, Französisch in dreißig Tagen, Deutsch jedoch
frühestens in dreißig Jahren lernen. Aber in einem immer
enger zusammenwachsenden Europa ist es weder bürgernah noch
einleuchtend, ausgerechnet auf jene Sprache zu verzichten, die die
größte Zahl an Muttersprachlern und die
zweitgrößte Gesamtsprecherzahl - also Mutter- und
Fremdsprachler - in der Europäischen Gemeinschaft
aufweist.
Für eine Stärkung der deutschen Sprache in Europa
eröffnet die Aufnahme neuer osteuropäischer Staaten eine
vielversprechende Perspektive. In Polen, Tschechien und Slowenien,
aber auch den baltischen Staaten sprechen viele künftige
EU-Bürgerinnen und Bürger deutsch. Schon im
gegenwärtigen Wirtschaftsverkehr ist dort häufig auch
Deutsch und nicht nur Englisch die lingua franca. Nicht
zufällig ist die Nachfrage nach deutschen Sprachkursen und
-kenntnissen in den osteuropäischen Ländern sehr
groß. Die Angebote der Goethe-Institute finden hier besondere
Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang eine Anmerkung: Die lange
Phase der Mittelkürzungen für die wichtige Arbeit der
Goethe-Institute (europa- und weltweit) sollte auch aus diesem
Grunde möglichst bald in ihr Gegenteil umgekehrt werden!
Die Stellung der deutschen Sprache im weiteren Fortschreiten der
europäischen Einigung zu stärken, darf
selbstverständlich kein nationaler Selbstzweck sein. Unser
Ziel ist - mit Thomas Mann gesprochen - nicht etwa ein deutsches
Europa, sondern vielmehr ein europäisches Deutschland in einem
kulturell vielfältigen Europa. Wer die sprachliche und
kulturelle Vielfalt in Europa will, muss deshalb bereit sein, neben
der Pflege der eigenen Sprache auch die Kenntnisse anderer
europäischer Sprachen und Kulturen zu vertiefen und zu
erweitern. Wir Deutschen - auch die im fortgeschrittenen Alter -
werden uns künftig mehr um Fremdsprachenkenntnisse
bemühen müssen.
Das kann schon beim jährlichen Mallorca-, Algarve- oder
Toskana-Urlaub anfangen. Natürlich kommt man in den meisten
Touristenzentren auch mit Deutsch weiter. Aber es ist ein Zeichen
des Respekts vor der Kultur und des Interesses an den Menschen
dieser Länder, wenn wir Deutsche uns wenigstens um
Grundkenntnisse der Landessprache bemühen - zumal, wenn man im
nächsten Jahr ohnehin wiederkommen will.
Der Notwendigkeit erweiterter Fremdsprachenkenntnisse und den
daraus folgenden pädagogischen Konsequenzen werden sich jedoch
vor allem unsere Schulen und Hochschulen, aber auch die berufliche
und politische Bildung künftig stärker als bisher
öffnen müssen. Sicherlich klingt es sehr idealistisch,
wenn im "Europäischen Jahr der Sprachen" als Ziel formuliert
wird, künftige EU-Bürgerinnen und -Bürger sollten
mindestens drei Sprachen beherrschen: ihre Muttersprache und zwei
Fremdsprachen. Mancher Lehrer wäre heute schon froh, wenn die
Mehrzahl der Schüler wenigstens ihre Muttersprache
vernünftig schreiben könnten und sich in Englisch
einigermaßen verständlich zu machen wüssten. Aber
in einem größer werdenden Europa wird es in der Tat ohne
Fremdsprachenkenntnisse für den einzelnen immer schwerer
werden - gerade in beruflicher Hinsicht.
In den Hochschulen, z.T. auch schon im Oberstufenbereich haben sich
EU-Bildungs- und Austauschprogramme wie "Sokrates" gut
bewährt. Sie setzen allerdings relativ spät an. In
jüngeren Jahren fällt das Erlernen fremder Sprachen
bekanntlich viel leichter. Es wäre gut, den schulischen
Fremdsprachenunterricht früher zu beginnen - was in den
Grundschulen z.T. bereits geschieht - und ihn übrigens auch
von jenem Drang zur deutschen Gründlichkeit zu befreien, der
unsere Abiturientinnen und Abiturienten derzeit bis zu acht Jahre
Englisch lernen lässt - und darüber Zeit für andere
Sprachen verliert.
In diesem Punkt hat sich der fremdsprachliche Unterricht in
Deutschland weit vom Humboldtschen Bildungskonzept entfernt.
Wilhelm von Humboldt hat keineswegs für das langjährige
Erlernen einer Sprache plädiert. Er war vielmehr der Ansicht,
dass es sinnvoller sei, für kürzere Zeit, ein Jahr oder
zwei, eine Fremdsprache, dann für einen ähnlichen
Zeitraum eine zweite und idealiter noch weitere zu erlernen. Mit
entsprechenden Modellen des Fremdsprachenerwerbs - z.B. nach der
Formel 3 plus 3 plus 3 Jahre - könnten viele Grundlagen
vermittelt werden, die später - in Studium, Beruf oder
Freizeit - aufgegriffen und vertieft werden können.
Bei der Auswahl dieser Sprachen sollte auch nicht nur auf Englisch,
Französisch und Spanisch gesetzt werden. An Englisch als
erster oder zweiter Sprache führt zwar in der globalisierten
Welt kein Weg vorbei. Aber warum nicht stärker als bisher
Sprachnachbarschaften in Europa nutzen? Am Oberrhein liegt das
Französische in jeder Hinsicht nahe. Am Niederrhein macht
jedoch das Holländische mehr Sinn, an der Oder das Polnische.
Und wenn es gut funktionierende Städtepartnerschaften gibt -
warum nicht Kursangebote in Dänisch, Tschechisch oder
Russisch? Selbst vermeintlich exotische Sprachen wie Japanisch oder
Chinesisch können im Zeitalter der "global player" sinnvolle
Angebote darstellen. Nicht zuletzt kann das bilinguale
Sprachpotential der bei uns lebenden Ausländer - aus dem
ehemaligen Jugoslawien, aus Griechenland und der Türkei, aus
Italien, Spanien und Portugal - noch viel stärker genutzt
werden zur Förderung von Fremdsprachenkenntnissen - und zur
Förderung von Europabewusstsein.
Schließlich sind Sprachen viel mehr als nur Werkzeuge zur
Verständigung. Sie stellen die Basis jeder interkulturellen
Kompetenz dar, erweitern unser Wissen vom anderen und relativieren
zugleich die eigene Weltsicht. Wilhelm von Humboldt hat gezeigt,
dass unser Denken, unsere Weltsicht immer sprachvermittelt ist und
jede einzelne Sprache eine eigene, unverwechselbare Sicht der Welt
eröffnet. Durch die Auseinandersetzung mit fremden Sprachen
werden Perspektiven und Betrachtungsmöglichkeiten bewusst, die
uns ansonsten verschlossen blieben. Jede Fremdsprache lässt
ein Stück weit eine neue Sicht der Dinge, gerade auch des
Alltagslebens eines Volkes erkennen, vermag Fremdheiten und
Feindbilder abzubauen und Verständnis und Toleranz zu
fördern. Goethe hat diese fremdsprachliche
Toleranzförderung so ausgedrückt: "Der Deutsche soll alle
Sprachen lernen, damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem, er aber
in der Fremde überall zu Hause sei."
Erst die Kenntnis der Sprachen anderer Völker eröffnet
einen umfassenden Zugang zu ihrer Kultur, lässt neben den
Unterschieden auch das Gemeinsame bewusst werden. Diese
Perspektivenerweiterung ist für den weiteren Prozess der
Einigung Europas, auch für die Entwicklung und Vertiefung
eines Europabewusstseins von großer Bedeutung.
Schließlich weckt der Gedanke eines immer enger
zusammenrückenden, auch kulturell immer mehr sich
angleichenden Europas bei nicht wenigen EU-Bürgerinnen und
Bürgern Vorbehalte und auch Ängste. Der Sorge vor dem
Verlust der eigenen kulturellen Identität entspricht die
Befürchtung, von anonymen Bürokratien in Brüssel
oder Straßburg ohne Rücksicht auf nationalstaatliche
oder regionale Interessen, aber auch kulturelle
Eigentümlichkeiten regiert zu werden.
Gegen diese Ängste und Befürchtungen hilft nur
Aufklärung, Information. Der Prozess der europäischen
Einigung zielt keineswegs auf Vereinheitlichung, gar Planierung der
einzelnen Kulturen und Sprachen - ganz im Gegenteil. Ziel ist
vielmehr ein in sich differenziertes, kulturell wie sprachlich
vielfältiges Europa. Die Sprachenvielfalt Europas ist insofern
der linguistische Prüfstein des Subsidiaritätsprinzips
einer Europäischen Gemeinschaft, die nicht nur die
Nationalsprachen, sondern auch Regionalsprachen wie Bretonisch oder
Sorbisch und ebenso Minderheitensprachen wie Romans erhalten und
schützen will. Die schöne Pluralität der Sprachen
Europas spiegelt die kulturelle Vielfalt unseres Kontinents - eine
Differenziertheit, die eben nicht primär ein
Verständigungshindernis im ökonomischen Prozess, sondern
vor allem immensen kulturellen Reichtum bedeutet. Ihn zu erhalten,
liegt im Interesse aller Europäer. Deshalb ist sprachliche
Vielfalt weit mehr als ein sympathisches Anhängsel der
wirtschaft Die Erhaltung der Sprachenvielfalt, übrigens auch
der alten europäischen Kultursprachen Latein und Griechisch,
bildet vielmehr eine Grundvoraussetzung für ein friedlich
zusammenwachsendes, demokratisches Europa, in dem die einzelnen
Kulturen und Sprachen sich wechselseitig bereichen.
Das "Europäische Jahr der Sprachen" macht deutlich, dass die
Sicherung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt in Europa eine
uns alle betreffende Aufgabe ist. Der Deutsche Bundestag und die
Bundesregierung sehen hier eine zentrale europapolitische
Verpflichtung. Die Förderung von Europabewusstsein durch
erweiterte Kenntnisse anderer Sprachen und Kulturen kann jedoch nur
so weit erfolgreich sein, wie wir unsere Muttersprache beherrschen
und wie sorgfältig und verantwortungsbewusst wir sie
gebrauchen. Beides gehört zusammen, in beiden Bereichen ist
auch über das "Europäische Jahr der Sprachen" hinaus
vieles zu tun.
Dazu können alle beitragen, denen die deutsche Sprache und die
europäische Sprachenvielfalt am Herzen liegt - Germanisten und
fremdsprachliche Philologen, Natur- wie Kulturwissenschaftler, die
ihre Forschungsergebnisse auch weiterhin in Deutsch publizieren,
Journalisten und Lehrer, die sich um richtiges und
verständliches Deutsch bemühen und übrigens
selbstverständlich auch Politiker.
Am besten fangen wir alle bei uns selbst, beim eigenen Schreiben
und Sprechen an. Die hochgehaltene Feder in der Zeichnung von
Günter Grass ist ein eindringlicher Appell, die Chance zu
nutzen, im größer werdenden Europa Eigenes und Fremdes
zu verbinden, verantwortungsvoll und sensibel mit unserer
Muttersprache, weltoffen wie tolerant mit den Sprachen anderer
Länder und Kulturen umzugehen."
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