Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Schlusskundgebung des Christopher Street Day
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse spricht bei der
Abschlusskundgebung des diesjährigen Christopher Street Day am
23. Juni an der Berliner Siegessäule. Der Christopher Street
Day steht unter dem Motto "Berlin stellt sich que(e)r gegen
Rechts". Bundestagspräsident Thierse führt in seiner Rede
u.a. aus:
"Seit gut einem Jahr diskutieren wir in Deutschland intensiv
über rechtsextreme Gewalt. Es war durchaus eine sehr
fruchtbare Debatte, in der immer wieder gefragt wurde, warum vor
allem junge Menschen vor allem im Osten Deutschlands so
gewalttätig auf andere Menschen einprügeln, ja sie sogar
zu Tode treten. Intensiv haben wir darüber nachgedacht, wie
wir gegen diese brutale, unmenschliche Gewalt und diesen blanken
Rassismus vorgehen können. Es war eine schonungslose Debatte,
die endlich aufgedeckt hat, was jahrelang verschwiegen und
beschönigt wurde.
Aber, und diese Frage ist ungeheuer ernüchternd: Hat sie
wirklich etwas bewegt? Die Zahl rechtsextremer Gewalttaten ist
nicht zurückgegangen, nein sie ist gestiegen! Der
Verfassungsschutzbericht zählt für das vergangene Jahr
knapp 16. 000 rechtsextrem motivierter Straftaten - das ist eine
Steigerung gegenüber dem Vorjahr um fast 60 Prozent. Diese
Entwicklung zeigt, dass die Gefahr des Rechtsextremismus nicht
gebannt ist. Wir werden uns auch in den nächsten Jahren sehr
intensiv damit auseinandersetzen müssen, wie wir Rassismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt bekämpfen. Einen Schlusspunkt
können und dürfen wir nicht setzen.
Diese Erfahrung habe ich auch in den zahlreichen Gesprächen
mit Menschen gemacht, die sich in Initiativen gegen
Rechtsextremismus engagieren, die sich wie Sie heute hier in Berlin
querstellen gegen Rechts. Viele dieser jungen Leute sind oft selbst
Opfer rechtsextremer Gewalt. Weil sie eine andere politische
Einstellung haben oder weil sie anders aussehen, werden sie von
Skins und Neonazis angepöbelt, gejagt und oft auch
verprügelt. Wenn es auch in Berlin oder in anderen
großen Städten zum Selbstverständlichen
gehört, dass homosexuelle Paare händchenhaltend über
die Straße gehen, ist das in vielen ländlichen Regionen
immer noch gefährlich. Vor allem dort wo es die sogenannten
national befreiten Zonen gibt, werden Homosexuelle angepöbelt
und verjagt. Für viele Menschen ist es inzwischen Alltag,
Angst vor Neonazis haben zu müssen. In vielen Gesprächen
habe ich ihre Ohnmacht und ihre Wut gespürt, denn häufig
werden sie auch von Politikern, von ihren Nachbarn, ihren
Mitbürgern im Stich gelassen. Sie werden im schlimmsten Fall
sogar als Nestbeschmutzer diffamiert, die der eigenen Stadt nur
Schaden zufügen. Und nicht selten ist offenes oder heimliches
Einverständnis mit denen, die da so gewalttätig und
brutal vorgehen. Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit kommen
aus der Mitte der Gesellschaft, das ist eine Erkenntnis, vor der
wir nicht mehr die Augen verschließen dürfen. Und das
ist die zentrale Gefahr für unsere Demokratie, die von der
Verschiedenheit, der Pluralität der Gesellschaft lebt.
Rechtsextreme Gewalttäter sind von der Ungleichwertigkeit der
Menschen überzeugt, das ist das Kernstück rechter
Ideologie, nur daraus erklärt sich die Gewalt gegen Farbige,
Linke, Obdachlose oder auch Homosexuelle. Neonazis definieren die,
die anders sind als sie selbst, als unwertes Leben, als nicht
gleichberechtigtes Leben. Und wohin diese menschenverachtende
Einstellung führen kann, das haben wir in Deutschland schon
mal erlebt. Die furchtbare Erfahrung der Ausgrenzung und
Vernichtung von Menschen im Nationalsozialismus, darunter eben auch
zahlreiche Homosexuelle, ist es, die uns heute zwingt, alles zu
tun, damit dies nie wieder geschieht. Jeder Form von Ausgrenzung
müssen wir uns mit aller Kraft entgegenstellen. Wir
dürfen nicht zulassen, dass Neonazis definieren, wer zu uns
gehört und wer nicht. Deshalb ist der Kampf gegen
Rechtsextremismus so wichtig.
Wenn wir das heutige Motto ernst nehmen, dann müssen wir auch
an die Menschen denken, die in Konzentrationslagern ermordet
wurden, dann gedenken wir auch der Menschen, die den Rosa Winkel
tragen mussten, der Schwulen und Lesben, die von den Nazis
deportiert und gequält wurden. Über ein Mahnmal auch
für diese Gruppe der Verfolgten sollten wir deshalb
nachdenken.
Es ist meines Erachtens vor allem eine Frage der Toleranz und
Akzeptanz, wie wir uns zur Homosexualität stellen. Es ist an
der Zeit, die Vorurteile zu überwinden, Abwehr und
Ausgrenzungsmechanismen gegen Männer, die mit Männern
zusammenleben, gegen Frauen, die Frauen lieben. Dass hier immer
noch Unsicherheiten und Ängste herrschen, das ist das
Anstößige! Es ist die persönliche und ganz private
Entscheidung jedes Einzelnen von uns, welche Lebensform er
wählt und wie er damit umgeht. Ob er sie öffentlich macht
oder nicht. So wenig es einen Bekenntniszwang gibt, so wenig darf
es einen Verheimlichungszwang geben. Hier im preußischen
Berlin hat Friedrich der Große einen sehr schönen Satz
geprägt: "Jeder soll nach seiner Facon glücklich werden!"
Und das kann ich, auch als bekennender Katholik, nur voll und ganz
unterschreiben! Nicht schon die gewählte Lebensform, die
sexuelle Orientierung ist eine Frage der Moralität, sondern
wie jemand damit umgeht. Ob Loyalität und Treue, Respekt und
Solidarität, Gerechtigkeit und Liebe eine Partnerschaft
bestimmen oder Illoyalität, Verrat, Erniedrigung - das ist die
moralische Frage und zwar an alle, an alle! Und genauso gelten die
gleichen zivilen und grundrechtlichen Standards für
alle.
Wir sind in Berlin. Dass diese Stadt nun einen Regierenden
Bürgermeister hat, der sich zu seiner Homosexualität
bekennt, der sich dagegen wehrt, dass seine sexuelle Orientierung
gegen ihn instrumentalisiert wird, das ist gut so! Wo, wenn nicht
in dieser liberalen Stadt Berlin könnte diese Tatsache eine
Selbstverständlichkeit sein und bleiben. Übrigens: Ich
bin seit 28 Jahren mit derselben Frau verheiratet, und ich finde
das auch gut so!
Was uns alle, so hoffe ich, miteinander verbindet über
unterschiedliche Lebensformen und Lebenseinstellungen hinweg, das
ist unser Einsatz, unser Engagement für eine Gesellschaft, in
der wir Menschen ohne Angst verschieden sein können, in der
wir unsere Verschiedenheiten frei und fröhlich, solidarisch
und in Liebe leben können."
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