Bundestagspräsident Wolfgang Thierse vor der Ostsee-Parlamentarierkonferenz in Greifswald
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse
hält sich heute bei der 10. Ostsee-Parlamentarierkonferenz in
Greifswald auf, die sich mit Fragen der Zivilgesellschaft
beschäftigt. An der Konferenz nehmen Parlamentarier der
Ostsee-Anliegerstaaten sowie Bundestagsabgeordnete und Mitglieder
der Landesparlamente Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern
Hamburg und Bremen teil. Bundestagspräsident Thierse befasst
sich in seiner Rede mit dem Thema "Die Werte einer
Zivilgesellschaft: Wesen und Wandel" und führt dabei
aus:
"Ich freue mich sehr darüber, dass wir so kurz nach meinem
Besuch beim Europarat wieder gemeinsam für eine gute Sache
streiten dürfen. Dass die Zivilgesellschaft, um die es heute
geht, eine gute Sache ist, daran scheint niemand zu zweifeln.
Allerdings habe ich den Eindruck, dass sich - zumindest bisher noch
- jeder etwas anderes darunter vorstellt.
Allein bei uns in Deutschland gibt es die unterschiedlichsten
Ansichten darüber, was eine Zivilgesellschaft - oder auch eine
Bürgergesellschaft - eigentlich ausmacht oder ausmachen
sollte. Und um wie viel größer sind die Diskrepanzen
zwischen vielen verschiedenen Ländern: zwischen den
Ländern rund um die Ostsee, zwischen den Ländern in ganz
Europa! Ich erhebe daher keineswegs den Anspruch, vollständige
oder gar konsensfähige Aussagen über den sperrigen,
schwierigen, schillernden Begriff "Zivilgesellschaft" zu
treffen.
Meine ersten persönlichen Erfahrungen mit "Zivilgesellschaft"
sind Erfahrungen des zivilen Ungehorsams. In der damaligen DDR
zeigte sich "Zivilgesellschaft", ohne dass dieser Begriff existiert
hätte, hätte existieren dürfen, im Zusammenhalt
vieler Bürgerinnen und Bürger gegenüber der
diktatorischen Staatsmacht. Wie auch in Polen oder in Tschechien
wuchs dieser Zusammenhalt nach und nach zu einer Protestbewegung,
die als "Bürgerbewegung" schließlich Geschichte
geschrieben hat. Wer erinnert sich nicht an die glücklichen
Momente des Jahres 1989, als die Bürgerbewegung ihr Ziel
erreicht hatte: Freiheit und Demokratie waren erstritten, ohne dass
Blut geflossen wäre.
Doch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Sieg der
Demokratie in Osteuropa zeigte sich, wie schwierig es ist, die
ungeheure Kraft der Bürgerbewegung auch in eine demokratische
Bürgergesellschaft hinüber zu retten. Engagement,
Streitbarkeit, Widerborstigkeit, Zivilcourage - solche Tugenden
schienen sich im mühsamen demokratischen Alltag schnell zu
verzehren. Nicht lange nach der ersehnten "Wende" hatte das Ansehen
der Demokratie bereits spürbar Schaden genommen. In vielen
osteuropäischen Ländern erstarkten die kommunistischen
Kräfte, in Ostdeutschland bekam der Rechtsextremismus
erschreckenden Zulauf.
Die historischen Voraussetzungen für diese Entwicklung sind in
den einzelnen Ländern so unterschiedlich, dass sich pauschale
Analysen eigentlich verbieten. Ich will dennoch über die
vielen Unterschiede hinweg gehen und eine - wie mir scheint -
gemeinsame Ursache dafür benennen: Das Aufbrechen so vieler
zementierter Grenzen hat die Globalisierung enorm beschleunigt.
Hier im Ostseeraum braucht man nicht zu erklären, was das
für die Länder des ehemaligen Ostblocks bedeutet hat: Sie
alle waren noch vollauf damit beschäftigt, den Übergang
in ein anderes Wirtschaftssystem zu meistern, da sahen sie sich
einem schnell wachsenden Druck des internationalen Wettbewerbs
ausgesetzt. Bis heute haben sie den Anschluss an die alten,
etablierten Marktwirtschaften noch nicht gefunden - mit allen
sozialen Problemen, die das mit sich bringt.
Für viele Menschen in den Osteuropäischen Staaten verband
sich der Gewinn der politischen Freiheit mit dem Verlust sozialer
Sicherheit. Der tiefe, ungefederte Fall in Armut oder
Arbeitslosigkeit hat es vielen schwer gemacht, sich mit der neuen,
noch im Aufbau begriffenen Staatsform zu identifizieren. Sicher:
Die Enttäuschungen fielen um so größer aus, je
überzogener die Erwartungen an Demokratie und Marktwirtschaft
waren. Doch auch in den "etablierten" westeuropäischen
Demokratien sind die Ansprüche der Bürgerinnen und
Bürger an den Staat immer weiter gestiegen, während der
Staat längst die Grenzen seiner finanziellen
Leistungsfähigkeit erreicht hat. Ein strukturelles Problem
kommt hinzu: Die Langsamkeit, die im Wesen demokratischer Verfahren
liegt und die mit dem Tempo wirtschaftlicher Entscheidungen immer
weniger mithalten kann. Hier wie dort ist demokratische Politik in
den Verdacht geraten, dass sie das Notwendige nicht mehr zu leisten
vermag. Seit Jahren ist immer wieder von Enttäuschungen die
Rede, von "Politikverdrossenheit", gar von einer "Krise der
Demokratie".
Für mich wäre es eine unerträgliche Ironie der
Geschichte, wenn ausgerechnet jetzt, nach dem großartigen
Sieg der Demokratie in Europa, immer mehr Menschen ihr Vertrauen in
die Demokratie und ihre Bereitschaft zu politischer Mitgestaltung
verlören. Der Versuch, das Verhältnis zwischen
staatlichem Engagement und bürgerschaftlichem Engagement neu
auszutarieren, muss sich deshalb an dem Ziel messen lassen, die
Demokratie neu zu verankern und zu stärken.
Das Wort "Zivilgesellschaft" löst unterschiedliche
Assoziationen aus, die diesem Ziel nicht immer dienlich erscheinen.
So fordern die einen Zivilgesellschaft als Gegenspielerin einer
vermeintlich aufgeblähten Bürokratie, die sich
längst zu weit von den Bedürfnissen der Bürgerinnen
und Bürger entfernt habe. Andere verstehen Zivilgesellschaft
offenbar als einen bequemen Weg, sich der staatlichen Verantwortung
für soziale Belange zu entledigen. Beide Extreme beruhen auf
dem fatalen Missverständnis, das Verhältnis von
staatlichem Engagement und von bürgerlichem Engagement sei ein
"Nullsummenspiel" (Hans Jonas): Je mehr Zivilgesellschaft, desto
weniger Staat - und umgekehrt. Abgesehen davon, dass diese
Gleichung in der Realität nicht aufgeht: Jedes Aufrechnen
staatlichen und privaten Engagements weckt den irrigen Eindruck,
als seien Bürger und Staat Konkurrenten, die ihre Kräfte
aneinander messen und untereinander aufteilen. Das aber entspricht
zumindest nicht meinem Verständnis von Demokratie.
In einer Demokratie sind Staat und Bürger wechselseitig
aufeinander angewiesen. Aus bitterer Erfahrung wissen wir, dass es
gerade die undemokratischen Länder sind, in denen sich
Zivilgesellschaft nur atomisiert, nur partikular organisieren kann
oder organisieren darf. Demokratische Staaten aber haben ein
vitales Interesse daran, bürgerschaftliches Engagement zu
ermöglichen und zu ermuntern. Auf der anderen Seite darf der
"aktivierende Staat", wie er zur Zeit häufig gefordert wird,
aber auch kein Staat sein, der sich weitgehend oder vollkommen aus
seiner sozialen Verantwortung zurückzieht. Die soziale
Abfederung der freien Marktwirtschaft hat wesentlich zum Erfolg der
europäischen Demokratien beigetragen, zur Zustimmung und zum
Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger.
Der Sozialstaat, so reformbedürftig er sein mag, ist eine der
großen europäischen Kulturleistungen. Unsere Demokratie
ist nicht nur eine freiheitliche, sondern auch eine solidarische.
Ich kann mir keine Stärkung der Zivilgesellschaft ohne soziale
Verantwortung des Staates vorstellen, sorgt doch gerade das soziale
Netz dafür, dass alle vergleichbare Chancen auf Teilhabe
haben. Zu den Gesetzen des freien Marktes gehört es jedenfalls
nicht, dass auch die Schwachen eine Chance bekommen. Damit nicht an
die Stelle der hart erkämpften Balance zwischen Markt, Staat
und Gesellschaft eine eindimensionale Marktgesellschaft tritt,
halte ich es für eine der wichtigsten Aufgaben der Politik,
die soziale Dimension der Demokratie zu verteidigen.
Doch eines ist klar: So wenig Demokratie funktionieren kann, wenn
die Bürger sich selbst überlassen sind, so wenig kann sie
funktionieren, wenn ihnen der Staat eine "Rundumversorgung" bietet,
die jede Eigeninitiative erstickt. In der Tat ist eine
Konsumhaltung gegenüber staatlichen Leistungen in unseren
Wohlstandsgesellschaften inzwischen weit verbreitet. Die
Bereitschaft des Einzelnen, sich für das Gemeinwohl zu
engagieren, scheint im gleichen Maße zurückgegangen zu
sein. Der Umbruch der wirtschaftlichen, politischen und
gesellschaftlichen Strukturen hat einen Prozess der
gesellschaftlichen Differenzierung in Gang gesetzt, einen Prozess
der Individualisierung und der Erosion des sozialen Zusammenhalts.
Wenn man den einschlägigen Studien glauben darf, beziehen sich
die Werte junger Menschen schon heute überwiegend auf die
Entfaltung individueller Eigenschaften und die Entwicklung
individueller Lebensziele. Dagegen treten Werte, die sich auf das
Miteinander mit anderen beziehen, deutlich in den
Hintergrund.
Arbeit ist in unserer Gesellschaft eine unverzichtbare Bedingung -
nicht nur für materielle Sicherheit, sondern auch für ein
geglücktes Leben. Ja, in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit ist
der Arbeitsplatz an sich zu einem Wert geworden. Doch der Mensch
ist mehr als ein homo oeconomicus. Wenn der ökonomische Erfolg
zur wichtigsten Richtschnur in einer Gesellschaft wird, kann das
nicht ohne Auswirkungen auf den gemeinsamen Wertekanon einer
Gesellschaft bleiben. In einem Klima von Konkurrenz und Wettbewerb
sinkt der Wert von Solidarität. Schon heute glauben immer
weniger Menschen, dass es durch gemeinsame Anstrengungen am Ende
allen besser gehen könne. Doch der Londoner
Soziologie-Professor Richard Sennett hat zu Recht gewarnt: "Eine
Gesellschaft, die den Menschen keinen Grund gibt, sich umeinander
zu kümmern, kann ihre Legitimation nicht lange aufrecht
erhalten."
Die normativen Bindungen werden schwächer, aber sie werden
gebraucht um des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Friedens
willen. Eine Gesellschaft ist mehr als das Nebeneinander von
Individuen. Wo die Bereitschaft zur Selbstbindung des Individuums
fehlt, ist es kein großer Schritt von einem positiven
Freiheitsbegriff, der die Entfaltungsmöglichkeiten des
Einzelnen betont, bis hin zu einer Beliebigkeit, ja
Rücksichtslosigkeit, die die soziale Einbindung des Einzelnen
an den Rand drängt.
Im Mittelpunkt der Debatte um die Zivilgesellschaft steht deshalb
die Frage: "Was hält die Gesellschaft zusammen?" Dabei geht es
weder darum, eine Gesellschaft über die Werte einer irgendwie
gearteten "Leitkultur" abzuschotten, noch geht es darum,
überkommene traditionelle Werte künstlich aufrecht zu
halten und einer zunehmend differenzierten Gesellschaft als Korsett
überzustülpen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger
als die grundlegenden Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens,
die Regeln einer im schlichten Wortsinn "zivilisierten"
Gesellschaft.
Ich halte es für unerträglich, dass in unserer
Gesellschaft häufig nicht einmal mehr ein so elementares Gebot
wie das Gewalttabu respektiert wird. Das sage ich mit Blick auf das
zunehmende Maß an Aggression und Gewalt überhaupt, vor
allem bei jungen Menschen.
Ein überaus gefährliches Phänomen ist die
Ausbreitung rechtsextremer Gewalt - nicht nur in Deutschland,
sondern auch in anderen europäischen Ländern. Was treibt
junge Menschen dazu, Fremde und Obdachlose zu hetzen, zu
prügeln, zu ermorden? Was bewegt sie zu einem Verhalten, das
auf so erschreckende Weise "unzivilisiert" ist? Selbst in der
Tierwelt funktioniert ein Mechanismus der Hemmung, aber bei einem
Teil der jungen Leute funktioniert er offenbar nicht mehr. Wenn
sich so grundlegende Werte wie Toleranz und Respekt vor dem Anderen
offenbar nicht mehr von selbst in die nächsten Generationen
vermitteln, dann ist das ein bitterer Anlass zu fragen, was wir
falsch gemacht haben.
Hat die Demokratie als Erziehungsinstanz, als Richtschnur für
das Handeln im Alltag, nicht die notwendige Kraft entfaltet? An
verbindlichen und verbindenden Werten mangelt es unseren
Gesellschaften ja keineswegs: Unsere Demokratie ist auch ein
ethischer Konsens. Sie fußt auf den Grundwerten und
Grundrechten, die nach den menschenverachtenden Verbrechen der
Nationalsozialisten neu verankert wurden und die heute in allen
westlich geprägten, europäischen Staaten die
Gesellschaften tragen. Heute müssen wir den jungen Menschen
wieder erklären, wie die demokratischen Institutionen
Menschenwürde und Freiheit sichern und warum ohne Toleranz und
gewaltfreie Konfliktlösung, ohne Solidarität und
Verantwortungsbereitschaft demokratisches Zusammenleben nicht
gelingen kann.
Doch wie sollen junge Menschen das lernen, wenn in der Gesellschaft
moralische Gleichgültigkeit um sich greift? Wir haben uns
daran gewöhnt, über die Medien alltäglich
skandalöse Vorgänge zu konsumieren, ohne dass wir uns
davon betroffen fühlten. Wo sollen junge Menschen Beispiele
und Vorbilder finden, wenn allzu viele "Erwachsene" sich nicht mehr
verantwortlich fühlen für das, was in der Gesellschaft
passiert?
Auch mit Blick auf die kommenden Generationen, die die Demokratie
einmal tragen und gestalten müssen, ist es wichtig,
bürgerschaftliches Engagement zu fördern und die
Zivilgesellschaft zu stärken. Ich bin froh und dankbar, dass
es allein in Deutschland immerhin 22 Millionen Menschen gibt, die
sich ehrenamtlich engagieren. Und Untersuchungen haben ergeben,
dass auch heute viele junge Menschen bereit sind, sich
gemeinwohlorientiert zu engagieren. Nur wollen die meisten von
ihnen das nicht mehr in den althergebrachten Organisationen tun.
Denn Kirchen, Gewerkschaften, Vereine und Verbände fordern
eine lange, oft lebenslange Bindung, die junge Menschen nicht mehr
einzugehen bereit sind. Und sie fordern ein kontinuierliches
Engagement, das viele nicht mehr eingehen können, wenn
Arbeitgeber zunehmend Mobilität und Flexibilität fordern.
Deshalb nützt es wenig, den Wertewandel oder gar einen
Werteverfall zu beklagen. Notwendig ist es, auf die
veränderten Lebensbedingungen und Lebenseinstellungen junger
Menschen einzugehen und ihnen auch neue Formen des Engagements zu
eröffnen.
Der Deutsche Bundestag hat eine Enquete-Kommission zur "Zukunft des
Bürgerschaftlichen Engagements" eingerichtet. Ihr Ziel ist es,
die "zivile Infrastruktur" in Deutschland zu analysieren und auf
solche Entwicklungsmöglichkeiten hin zu untersuchen. Doch
nicht nur der Staat ist gefordert, sich stärker für
zivilgesellschaftliches Engagement zu öffnen. Auch die
Unternehmen können viel dazu beitragen, etwa indem sie
Mitarbeiter für gemeinnützige Aufgaben freistellen. In
dieser Hinsicht könnten wir viel von anderen Ländern
lernen, von den Vereinigten Staaten, von Großbritannien oder
den Niederlanden.
Die Stärkung der Zivilgesellschaft ist eine Seite der
Medaille. Die andere Seite ist die Stärkung der Partizipation.
Wenn die Bürger mehr Verantwortung in der Gesellschaft
übernehmen, müssen sie auch intensiver als bisher
mitbestimmen können. Die zivile Bürgergesellschaft
verlangt deshalb vom demokratischen Staat mehr Transparenz und mehr
Teilhabe. Am Ende steht die Vision eines "neuen
Gesellschaftsvertrages", eines neuen Verhältnisses von Staat
und Bürgergesellschaft. In dieser Vision, so beschreibt sie
die Enquete-Kommission, werden die demokratischen und sozialen
Strukturen, die der Staat bereitstellt, durch aktiv handelnde, an
den gemeinschaftlichen Aufgaben teilnehmende Bürgerinnen und
Bürger mit Leben erfüllt, verändert und auf
zukünftige gesellschaftliche Bedürfnisse
zugeschnitten.
Die Idee eines "Gesellschaftsvertrags" ist kein neuer Gedanke, im
Gegenteil. Sie geht zurück auf die Utopie einer
Zivilgesellschaft, wie sie die großen Philosophen der
Aufklärung - Locke, Montesqieu und Kant - entworfen haben.
Schon dieser Entwurf des Zusammenlebens freier Bürger umfasste
gemeinsame Werte wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität, wie
Toleranz und die Anerkennung von Vielfalt.
Die Vision der Zivilgesellschaft ist also ein zutiefst
europäischer Gedanke - wie auch das Fundament der Werte, die
sie tragen, ein gemeinsames, europäisches ist. Es gründet
auf der griechischen Philosophie und Wissenschaft, auf dem
römischen Recht, dem jüdisch-christlichen Denken und der
Aufklärung - einer großen Tradition der Offenheit und
Aufnahmebereitschaft. Damit Europa eine im besten Sinn
"zivilisierte" Gesellschaft bleibt, haben wir die gemeinsame
Aufgabe, dieses Wertefundament zu schützen und zu
stärken: Freiheit und Menschenwürde, Gewaltverzicht und
Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität, heute aber auch der
Schutz der Umwelt und der Erhalt natürlicher Ressourcen -
gerade hier im Ostseeraum ein Thema von drängender
Aktualität.
Mit der Grundrechtecharta, die am 7. Dezember 2000 in Nizza
feierlich verkündet wurde, haben wir ein grundlegendes
Dokument der europäischen Wertegemeinschaft. Sie ist ein
wichtiger Schritt, die Europäische Union als Werte- und
Solidargemeinschaft zu festigen. Weitere Schritte müssen
folgen: eine europäische Sozialcharta und schließlich
auch eine europäische Verfassung. Eine Verfassung wäre
auch der richtige Ort, die Beteiligungsrechte der Bürgerinnen
und Bürger zu verankern und damit die Bedeutung
bürgerschaftlichen Engagements für Demokratie und
Solidarität in Europa zu unterstreichen.
Lebendige Zivilgesellschaften, die sich für die grundlegenden
Ziele und Werte der europäischen Demokratie einsetzen,
können auch dazu beitragen, eine europäische
Öffentlichkeit zu schaffen. Schon heute sind es gerade die
Akteure der Zivilgesellschaft - allen voran die
Nicht-Regierungs-Organisationen -, die sich über den
nationalstaatlichen Rahmen hinweg engagieren. Es gibt aber auch
viele andere Beispiele für eine erfolgreiche Vernetzung
bürgerschaftlichen Engagements. Erwähnt sei hier nur der
"Europäische Freiwilligendienst für Jugendliche".
Lassen Sie mich zum Schluss dennoch vor überzogenen
Erwartungen warnen. So wichtig die Zivilgesellschaft für die
Demokratie überall in Europa ist: Sie wird nicht alle Probleme
lösen können. Insbesondere wird eine Stärkung der
Zivilgesellschaft nicht dazu beitragen, die demokratischen
Verfahren zu beschleunigen, im Gegenteil. Je lebendiger die
Prozesse der demokratischen Partizipation sind, je mehr
gesellschaftliche Kräfte daran teilhaben, desto mühsamer
wird der demokratische Prozess, über Austausch und Ausgleich
zum Konsens zu finden. Und es wird auch in Zukunft dabei bleiben:
Es liegt im Wesen des Kompromisses, dass alle Beteiligten
aufeinander zugehen und Abstriche von eigenen Positionen in Kauf
nehmen. Auch in Zukunft wird Demokratie also ein erhebliches
Maß an Frustrationstoleranz, Leidensfähigkeit und
Enttäuschungsbereitschaft erfordern.
Doch eine Stärkung der Zivilgesellschaft kann viel dazu
beitragen, den Sinn und Wert dieser mühseligen Verfahren
bewusst zu machen und die Akzeptanz der Demokratie zu
vergrößern - gerade auch in den jungen Demokratien
Osteuropas. Ich wünsche mir jedenfalls sehr, dass es gelingt,
an die Kräfte der einstigen "Bürgerbewegung"
anzuknüpfen und neue Begeisterung und neues Engagement
für die Demokratie zu wecken.
Gerade in den jungen Demokratien, die erst vor rund zehn Jahren die
Chance bekommen haben, souveräne Nationalstaaten zu bilden,
mag es nicht leicht fallen, sogleich wieder Kompetenzen an
supranationale Gebilde wie die Europäische Union abzugeben.
Nebenbei gesagt: auch die "alten Nationalstaaten" haben bekanntlich
noch ihre Probleme damit. Um so wichtiger ist es, dass die
Parlamente, die ja das Herzstück der Demokratie sind, nicht
übergangen werden. Ihr Einfluss in der Europäischen Union
muss gestärkt werden, und sie müssen auch bei anderen
Formen grenzüberschreitender Zusammenarbeit einbezogen werden
- wie das hier im Ostseeraum über die Parlamentarierkonferenz
geschieht.
Im übrigen sind die Parlamente wichtige Foren, um den
öffentlichen politischen Diskurs auch über Grenzen hinweg
zu intensivieren. Die europäische Demokratie, die
europäische Zivilgesellschaft ist nicht denkbar ohne
europäische Öffentlichkeit. Deshalb wünsche ich mir
sehr, dass bald über Fragen des Gemeinwohls in Europa genauso
leidenschaftlich diskutiert wird, wie das bisher nur in den
nationalstaatlichen Öffentlichkeiten der Fall ist.
Es ist ein vielversprechender Schritt in diese Richtung, dass heute
Parlamentarier aus allen Ostsee-Anrainerstaaten über die Werte
und Ziele der grenzüberschreitenden "Civil Society"
diskutieren. Wenn so etwas regelmäßig und an vielen
anderen Orten geschieht, dann bin ich zuversichtlich, dass uns
Europäern bald deutlicher wird, was mit einer Stärkung
der "Zivilgesellschaft" gemeint sein kann und was sie über
Grenzen hinweg so wichtig erscheinen lässt: die Stärkung
des europäischen Wertefundaments und die Stärkung der
Demokratie in Europa.
Das ist die gute Sache, für die auch ich in Zukunft gerne
streiten will".
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