Bundestagspräsident Thierse würdigt deutsch-französisches Parlamentstreffen als "besondere Geste"
Es gilt das gesprochene Wort
Bei der gemeinsamen Sitzung der Assemblée Nationale und
des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des
Elysée-Vertrages im Hémicycle im Schloss Versailles
hielt Bundestagspräsident Wolfgang Thierse heute folgende
Rede:
"Wir, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier des Deutschen
Bundestages und der Assemblée Nationale wollten zum 40.
Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-französischen
Freundschaftsvertrages et-was ganz Besonderes tun, etwas, das
deutlich über den Alltag unserer Beziehungen, unserer
politischen Freundschaft hinausgeht.
Sie, Herr Präsident Debré, verehrte Kolleginnen und
Kollegen der As-semblée Nationale, haben schließlich
die Initiative ergriffen und den Deutschen Bundestag zu dieser
erstmaligen Zusammenkunft eingeladen. Wir, der ganze Deutsche
Bundestag, danken für diese besondere Geste. Sie wird den
außerordentlichen Beziehungen unserer Länder und
Völker gerecht. Denn diese Freundschaft selbst ist - so sehr
sie uns inzwischen als Alltägliches, ja
Selbstverständliches erscheint - in historischer Perspektive
etwas ganz und gar nicht Selbstverständliches, sondern
wirklich Außergewöhnliches: angesichts einer
jahrhundertelangen Geschichte von Vorurteilen, von Misstrauen, von
Hass, von kriegerischen Konflikten zwischen unseren beiden
Völkern und Staaten.
Hätte jemand damals, 1871, als Bismarck ausgerechnet in
Versailles das Deutsche Kaiserreich ausrief, oder 1919, als hier
der Versailler Friedensvertrag nach dem 1. Weltkrieg unterzeichnet
wurde, oder gar 1940 und 1945 prophezeit, Deutschland und
Frankreich würden einmal auf 40 Jahre fester Freundschaft und
gemeinsamer Arbeit zurückblicken können - dann hätte
man nur ungläubig den Kopf geschüttelt.
Vor diesem Hintergrund, vor dem Hintergrund von Kriegen und
wechselseitigen Demütigungen kann es eigentlich nichts
Besseres geben, als das heutige Treffen an diesem historischen Ort.
Heute blicken wir dankbar auf vier Jahrzehnte Frieden und
Freundschaft zurück, und wir blicken nach vorn auf die
Gestaltung der Europäischen Union, die gerade erst - ich nenne
es: die Wiedervereinigung Europas beschlossen und zu voll-ziehen
begonnen hat.
Seit der Gründung der Montanunion haben sich Deutschland und
Frankreich immer wieder als Motor des vereinten Europas erwiesen:
eines Europas, das sich nach der Katastrophe des 2. Weltkrieges auf
neue Weise seiner geschichtlichen, moralischen und geistigen
Gemeinsamkeit bewusst wurde, seiner Identität, die in seinen
christlichen Wurzeln ebenso gründet wie in den Traditionen der
Aufklärung und die wir Europäer zu einem
Gesellschaftsmodell geformt haben, das von durchaus globaler
Attraktivität ist. Weil dessen Grundwerte die Leitbegriffe der
Französischen Revolution sind, "Freiheit, Gleichheit,
Geschwisterlichkeit", auch deshalb ist es angemessen und richtig,
dass wir unser so sehr europäisches Jubiläum hier in
Paris begehen.
Charles de Gaulle und Konrad Adenauer hatten begriffen, dass
Verständigung und Freundschaft nicht gelingen können,
wenn sie sich auf die Kabinette und Regierungen beschränkten.
Deshalb wurden ne-ben vielen gemeinsamen Wirtschafts- und
Verkehrsprojekten vor allem Begegnungen der Menschen angeregt, die
zu einer fast unüber-sehbaren Zahl sorgfältig gepflegter
Städtepartnerschaften, zur wichti-gen Arbeit des
deutsch-französischen Jugendwerkes, zur Gründung
bilingualer Schulen mit in beiden Ländern anerkanntem Abitur
geführt haben.
Was wäre schließlich - aber nicht zuletzt - die
Freundschaft der Regie-rungen ohne enge Zusammenarbeit der
Parlamente. Die Präsidien des Deutschen Bun-destages und der
Assemblée Nationale treffen sich jährlich. Die
Zu-sammenarbeit der Parlamentarier ist institutionalisiert - bis
1998 in den Kolloquien Charlemagne und heute in den
Paris-Berlin-Kollo-quien. Parlamentsausschüsse treffen sich
häufig oder tagen sogar ge-meinsam wie zuletzt die
Europaausschüsse beider Häuser; wir tau-schen Mitarbeiter
aus. Auch wenn die Öffentlichkeit davon nicht in dem
Maße Kenntnis nimmt wie von den regelmäßigen
Regierungstref-fen, haben wir damit ohne Ansehen der
Parteizugehörigkeiten über die Jahre ein Klima des
Vertrauens und der Vertrautheit zwischen den Volksvertretungen
geschaffen, das sich als ein politisch trag- und ausbaufähiges
Fundament unserer Freundschaft erweist. So haben wir es in unserer
Gemeinsamen Erklärung noch einmal zum Ausdruck gebracht.
Wie im privaten Leben bedeutet Freundschaft nicht immer Idylle. Oft
haben wir Interessenunterschiede auszutragen, auch Streit, wie sich
das für Demokraten gehört. Das Besondere aber ist, dass
wir noch in jedem Fall eine Lösung, einen Ausgleich gefunden
haben. Darin, genau darin bewährt sich wahre
Freundschaft.
Heute würde ich mir wünschen, dass nicht nur viele
deutsche Schüle-rinnen und Schüler die französische
Sprache erlernen, sondern auch umgekehrt wieder viele junge
Französinnen und Franzosen deutsch lernen. Diese Mühe
lohnt sich. Kulturell ohnehin, aber auch politisch. Viel wäre
gewonnen, wenn wir mit Hilfe wechselseitiger Sprach-kenntnisse
europäische Politik diskutieren und gestalten würden -
ganz im Sinne europäischer citoyens.
Wir stehen heute in unseren beiden Ländern vor sehr
ähnlichen, ja identischen Problemen und Herausforderungen:
internationaler Terrorismus, geringes Wachstum, hohe
Arbeitslosigkeit, hohe Staatsdefizite und Schwierigkeiten unserer
sozialen Sicherungssysteme. Wenn es in unserer Nachbarschaft, dem
Nahen Osten, zu einem neuen, weiteren Krieg käme, würden
sich diese Probleme noch einmal verschärfen und das notwendige
und zugleich fragile Zusammenleben verschiedener Kulturen in
unseren Ländern würde zusätzlich erschwert und
belastet werden.
Unsere Chancen, diese Herausforderungen zu bestehen, wachsen
si-cher, wenn wir unsere Erfahrungen zusammenfügen und
gegenseitig nutzen - übrigens auch in Bezug auf die
Vereinigten Staaten von Amerika.
Lassen Sie uns deshalb diese außerordentliche Zusammenkunft
unse-rer beiden Parlamente als Zeichen und Ermunterung verstehen,
nicht nur für die Weiterentwicklung unserer Freundschaft,
sondern auch für den Beitrag Europas zu einer friedlichen Welt
des Interessenausgleichs und der Menschenrechte, für
Demokratie und gewaltfreie Konfliktlösungen. In diesem Sinne
danke ich Ihnen, Herr Präsident Debré, noch einmal
für die Einladung und begrüße Sie alle zu dieser
parlamentarischen Zusammenkunft der deutsch-französischen
Freundschaft."
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