Bundestagspräsident Thierse eröffnet Ausstellung "Politeia - Frauen, die Geschichte mach(t)en"
Es gilt das gesprochene Wort
Zur Eröffnung der Ausstellung "Frauen die Geschichte
mach(t)en - POLITEIA - Die deutsche Geschichte nach 1945 aus
Frauensicht" im Deutschen Dom hielt Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse heute folgende Rede:
"Männer und Frauen sind gleichberechtigt" - so steht es im
Grundgesetz, Artikel 3. Dass die Realität dem nicht immer
entspricht, muss ich in diesem Kreis niemandem sagen. Immerhin: es
hat sich über die Jahre hinweg eine Menge bewegt. Nicht von
selber, sondern weil Frauen dafür gekämpft haben: Bis zum
ersten Weltkrieg erstritten sich die Frauen das Wahlrecht und das
Recht auf Bildung. Nach dem zweiten Weltkrieg gelang es ihnen (vor
allem dank des beherzten Einsatzes von Elisabeth Selbert) die
Gleichberechtigung im Grundgesetz zu verankern. Nebenbei: unser
Grundgesetz hat 4 "Mütter" - aber 61 "Väter"! Im
Vergleich zum parlamentarischen Rat hat sich dieses Verhältnis
der Geschlechter doch verbessert. Der Frauenanteil im Deutschen
Bundestag beträgt knapp 33 %. Dann sicherten sich die Frauen
das Recht auf Erwerbstätigkeit und gleichrangiges Sorgerecht.
Weitere Fortschritte kamen hinzu: Frauen können bei der Heirat
jetzt ihren Namen behalten, es gibt ein Recht auf Elternzeit - in
allen Berufen, selbst als Soldatin.
Und doch zeigt sich im Alltag, dass Frauen und Männer nach wie
vor unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten haben. Es gibt
zwischen den Geschlechtern eben immer noch deutliche Unterschiede
in den Lebensweisen und -chancen. Und auf den oberen Sprossen der
Karriereleitern tummeln sich viel häufiger Männer. Das
ist in der Wirtschaft nicht anders als im Kulturbereich oder in der
Politik.
Um den heutigen Frauenanteil im Bundestag zu erreichen, mussten
einige Parteien eine Frauenquote einführen. Dies zeigt, wie
wenig selbstverständlich die Gleichstellung der Geschlechter
immer noch ist. Geändert hat sich die Rollenzuweisung an
Parlamentarierinnen. Bis weit in die Geschichte des Bundestages
hinein waren sie in der Regel für Frauen, Familie, Jugend und
Soziales zuständig. Aus dieser "sozialen Ecke" sind sie
herausgekommen und haben sich alle Politikbereiche erobert, von der
Finanz-, über die Rechts- bis hin zur Verteidigungspolitik.
Dass immer noch nur wenige Frauen Spitzenämter bekleiden,
bleibt ein Ärgernis. So gibt es nur eine einzige
Ministerpräsidentin in Deutschland. Nur einmal gab es bislang
eine Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Der Deutsche
Bundestag hat sich in 15 Wahlperioden viermal eine Frau zur
Präsidentin gewählt.
Diese Ausstellung zeigt: Frauen haben trotz solcher Hindernisse
immer Politik mitgestaltet und Geschichte gemacht. An den
Porträts wird deutlich, welchen erheblichen Anteil sie an der
wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung beider deutscher Staaten
hatten. In West wie Ost blieb - auch wenn es immer wieder
Rückschläge gab - auf Dauer kein Bereich von Staat und
Gesellschaft von den Gleichberechtigungsforderungen der Frauen
unberührt und unverändert. Ob die These stimmt, die DDR
sei in Europa die Gesellschaft mit dem größten
Emanzipationsvorsprung gewesen, bezweifele ich. Richtig ist
jedenfalls, dass Frauen in der DDR vergleichsweise selten über
persönliche, geschlechtsbedingte Benachteiligung geklagt
haben.
Der Grund ist bekannt: Die sehr hohe Erwerbstätigkeit der
Frauen. Die damit verbundenen Erfahrungen haben das Denken und das
Selbstbewusstsein dieser Frauengeneration geprägt. Das sorgt
mit dafür, dass die heute immer noch mangelhafte Vereinbarung
von Familie und Beruf in Deutschland auf der politischen
Tagesordnung bleibt. Allerdings: So sehr sich in der DDR die
Handlungsspielräume für Frauen ausgeweitet hatten - so
weit, dass sie nennenswert Anteil an Führungspositionen gehabt
hätten oder im Alltag eine nennenswerte Entlastung von der
Familienarbeit ging es dann doch nicht. Da darf man keine Legenden
bilden. Entschieden haben im real-existierenden Sozialismus allein
Männer.
50 Frauen aus Ost und West werden in dieser Ausstellung
vorgestellt, die deutsche Politik, deutsche Geschichte
mitgeprägt und miterlitten haben. Es ist - natürlich -
eine Auswahl. Prominente Namen sind darunter, aber beispielsweise
auch Eugenia Serger. Geboren in der Ukraine wurde sie als junge
Frau zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Oder die
Sintezza Theresia Seible. Für beide Frauen waren die
Demütigung, die Verletzung ihrer Würde, die sie in der
NS-Zeit erlebten, mit Kriegsende keineswegs beendet. Es ist das
Verdienst dieser Ausstellung, uns solche Schicksale vor Augen zu
führen.
Andere stehen exemplarisch für die Leistungen von Frauen in
Staat und Gesellschaft. Leistungen, die in einer männlich
dominierten Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg unterbewertet
oder sogar ignoriert wurden. Der Blick auf die deutsche Geschichte
wird durch diese Beispiele vervollständigt, geschärft,
gerade gerückt. Dabei kann es verständlicherweise nicht
um Vollständigkeit gehen, damit würde die Ausstellung
überfordert. Worum es geht, ist der Hinweis darauf, dass nicht
nur in der "Frauenfrage", sondern insgesamt in Politik, Wirtschaft,
Kultur ganz wesentliche Leistungen Frauen zu verdanken sind.
Sprache ist verräterisch. Oft ist in Zusammenhang mit der
Forderung nach Gleichstellung die Rede von Frauen als
"entscheidenden Zukunftsressourcen", von ihrem "ökonomischen
Potenzial" oder von weiblicher "Begabungsreserve". Richtig ist,
dass eine Gesellschaft, die von geistigen Leistungen lebt, nicht
auf die Intelligenz von über der Hälfte der Menschen
verzichten kann. Ärgerlich ist, dass die heutige
Frauengenerationen sicher die am besten gebildete und ausgebildete
ist, wir diesen Umstand aber nicht etwa nutzen, sondern Frauen
immer noch keine gleichen Chancen haben. Die Gleichheit darf sich
aber nicht beschränken auf die Funktionen, die Menschen im
Wirtschaftsleben haben. Die Tendenzen uns - Frauen wie Männer
- auf unsere Rollen als Produzenten und Konsumenten zu reduzieren,
macht mir Sorge. Von wirklicher Gleichstellung kann erst die Rede
sein, wenn wir auf allen Gebieten gleiche Teilhabe erreichen:
Wirtschaft, Politik Wissenschaft, Kultur, aber auch Familie und
Erziehung.
Insofern ist auch der Ausstellungstitel "Politeia" klug und
provokant gewählt. Platons gleichnamiger Text schließt
Frauen ja explizit aus der Politik aus. Bei ihm ist Politik
Männersache. Indem diese Ausstellung den Begriff Politeia
weiblich besetzt, erfährt unser Denken - hoffentlich - die
längst notwendige Erweiterung: Unsere Gesellschaft bleibt so
lange hinter ihren Möglichkeiten zurück, so lange Frauen
nicht gleiches Gehör und gleichen Einfluss auf die
öffentlichen Angelegenheiten haben. Deshalb bleibt die Frage
der faktischen Gleichstellung von Frau und Mann ein sensibler
Gradmesser für den Zustand unserer Demokratie. Ich
wünsche der Ausstellung viele Besucherinnen, vor allem aber
viele Besucher.
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