Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Konferenz der Sprecher und Präsidenten der Parlamente in der Europäischen Union in Athen am 23. Mai 2003
Bereits bei unserem letzten Jahrestreffen haben wir die zentrale
Rolle unserer Parlamente im Reformprozess der Europäischen
Union unterstrichen. Ich halte die Einrichtung des
Europäischen Konvents mit seinem großen Anteil an
Parlamentariern an sich schon für einen Erfolg der nationalen
Parlamente: Noch nie konnten wir unmittelbar an der Gestaltung des
europäischen Primärrechts mitwirken.
Aus Sicht des Bundestags hat sich das Konventsprinzip bewährt
und sollte auch bei zukünftigen Vertragsänderungen
Anwendung finden. Unser Vertreter im Konvent und sein
Stellvertreter unterrichten den Bundestag regelmäßig
über alle Entwicklungen. Sie bekommen über
Beschlüsse des Plenums oder des EU-Ausschusses die Positionen
des ganzen Hauses ?mit auf den Weg?, auch wenn sie daran
notwendigerweise nicht gebunden sein können. Es gibt also eine
ständige Rückkopplung, und unser Parlament kann Einfluss
auf das Konventsgeschehen ausüben.
Dennoch dürfen die nationalen Parlamente bei einer so
grundlegenden Entscheidung über die Zukunft Europas nicht in
die Lage kommen, das Ergebnis des Konvents dann am Ende nur noch
?abnicken? zu können. Nach der Verfassung sind in allen
Mitgliedstaaten die Parlamente bzw. das Volk für die
Ratifikation beschlossener Vertragsänderungen zuständig.
Deshalb müssen sie frühzeitig einbezogen werden. Für
die öffentliche Diskussion, die Wahrnehmung, das Interesse,
die Einmischung der Bürgerinnen und Bürger selbst sind
nationale Debatten sehr wichtig. Denn die Verfassungsnormen werden
nur gelebt werden, wenn sie aus einer möglichst umfassenden
Debatte in der Gesellschaft erwachsen.
Ich knüpfe deshalb an die Forderung an, die ich im letzten
Jahr gemeinsam mit meinem italienischen Kollegen Marcello Pera in
Madrid erhoben und im Anschluss daran auch direkt an den
Präsidenten des Konvents gerichtet habe: Die Ergebnisse der
Konventsberatungen müssen den nationalen Parlamenten
rechtzeitig vorliegen. Die einzelnen Parlamente müssen die
Möglichkeit zu einer nationalen Debatte über die Zukunft
Europas, einschließlich einer Diskussion über das
Abschlussdokument, noch vor der Regierungskonferenz haben. Nur so
können wir die Schlussfolgerungen des Konvents untermauern,
die demokratische Legitimation der Konventsarbeit stärken und
in der Öffentlichkeit die Akzeptanz der Beratungsergebnisse
erhöhen. Ich werde mich deshalb dafür einsetzen, dass der
Deutsche Bundestag eine solche Bewertungsdebatte noch vor der
parlamentarischen Sommerpause führt. Ich sehe die
öffentliche Debatte über die europäische Verfassung
als Chance: Es kann uns auf dem Weg voranbringen, das Projekt
Europa aus Gremien und Hinterzimmern auf die europäischen
Marktplätze zu bringen und mehr europäische
Öffentlichkeit zu schaffen.
Aus diesem Prozedere ergibt sich aber meines Erachtens eine
wichtige Konsequenz, über die wir heute debattieren und
befinden sollten. Wenn wir mit den Beratungen in unseren nationalen
Parlamenten ernst genommen werden wollen, wenn mögliche
Änderungs- oder Ergänzungsvorschläge noch die Chance
zur Berücksichtigung haben sollen, dann muss auch der Konvent
darüber nochmals abschließend beraten. Von hier, von
unserer Konferenz in Athen, sollte also der dringliche Appell an
den Europäischen Konvent ausgehen, dass er vor der
Regierungskonferenz am Jahresende noch einmal zusammentritt, die
Stellungnahmen aus den nationalen Parlamenten berät,
prüft und in das Abschlussdokument einarbeitet.
Wir Politiker müssen unseren Informationsauftrag dann
allerdings auch sehr ernst nehmen. Wir müssen über
öffentliche Debatten hinaus eine Grundlage für mehr
europäische Öffentlichkeit schaffen mit breit angelegten
Informationskampagnen in den Mitglied- und Beitrittsstaaten. Dann
könnte wir den nächsten Schritt wagen: die Abstimmung der
Bürgerinnen und Bürger der Union über ihre
Verfassung. Während der Konventsarbeit wurde auf Transparenz
und Bürgernähe gesetzt. Es wäre deshalb
widersprüchlich, am Endpunkt des Projektes, bei der Annahme
der Europäischen Verfassung, die Bürger außen vor
zu lassen. Es würde auch den doppelten Charakter der
Europäischen Union als Bürger- und Staatenunion
unterstreichen. Der Konvent sollte deshalb prüfen, wie die
Bürgerinnen und Bürger unmittelbar im Wege eines
Bürgerentscheids über die Annahme der europäischen
Verfassung entscheiden können.
Dies setzt allerdings die Einhaltung eines engen Zeitplans voraus.
Die Regierungskonferenz könnte noch vor Jahresende
abgeschlossen werden. Da viele hochrangige Regierungsmitglieder
persönlich im Konvent mitgewirkt haben und dessen
Arbeitsergebnis billigen dürften, besteht die Chance, dass die
Regierungskonferenz das Ergebnis unverändert übernimmt.
Unmittelbar nach der Erweiterung der EU am 1. Mai könnten dann
alle Länder die europäische Verfassung unterzeichnen und
anschließend den Ratifikationsprozess einleiten. Das
wäre nach unserer Überzeugung ein vernünftiger
Zeitplan.
5.050 Zeichen