Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953
"50 Jahre nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni gibt es viel
Kritik daran, wie man in Deutschland Ost und West mit diesem Datum
umgegangen ist. Die Kritik ist sicher berechtigt. Da gab es einen
Arbeiteraufstand, der - man könnte sagen: gut
sozialdemokratisch - soziale Forderungen mit demokratischen
verband, aber diese Lesart fand bis heute kaum einen Niederschlag
in den Analysen und Würdigungen. Im Gegenteil ist mir oft eine
Haltung begegnet, die für die sozialen Forderungen
Verständnis zeigt und für die allgemein demokratischen
Forderungen von der SED die These der Fremdsteuerung
übernimmt. Andere bevorzugen eine nationale Interpretation, so
als sei der ostdeutsche Ruf nach Wiedervereinigung nicht vor allem
ein Ruf nach Freiheit, Demokratie und später auch Wohlstand
gewesen.
Der Umgang mit dem Gedenktag in den Jahrzehnten danach ist
ähnlich kritikwürdig: im Westen ein ritualisiertes
Gedenken, bei dem mehr und mehr frühe DDR-Flüchtlinge und
politische Repräsentanten der Bundesrepublik unter sich
blieben - ansonsten war es bloß noch ein in den sozialen
Besitzstand übergegangener arbeitsfreier Tag - im Osten
funktionierte die angstbesetzte Tabuisierung des Aufstandes und
seiner Helden und Opfer, wie von der SED gewünscht und
erzwungen.
Ich zweifle, ob es weiterhilft, die Ursachen dieses langen
Desinteresses als eine Schuld der einen oder der anderen zu
kritisieren. Denn man vergisst dabei etwas ganz Menschliches:
Niederlagen lassen sich nicht gut feiern. Das ist meine Wahrnehmung
des 17. Juni 1953. Es war eine Niederlage der Arbeiter im Arbeiter-
und Bauernstaat; sie war ein erster Schritt in die Resignation von
vielen Ostdeutschen und die Niederlage wurde zu einem Baustein
für die Festigung der Macht der SED und Ulbrichts
persönlich. Dessen Auswechslung war - was damals
natürlich niemand wusste - in Moskau praktisch schon
beschlossene Sache, unterblieb aber, weil man dem Volk diesen
Gefallen nach dem Aufstand nicht mehr tun wollte. Moskau ging es um
die Demonstration der Macht. Das hatte die SED-Politik längst
deutlich gemacht, was in die Vorgeschichte des 17. Juni
gehört. Die Erhöhung der Arbeitsnormen brachte ja nur die
sich längst anstauende Empörung der Menschen zum
Ausbruch. Sie war Anlass; Gründe gab es noch viele
andere.
Wer diese bittere Ironie der Geschichte, diese Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen nicht sieht, der kann kaum ermessen, welchen
Fortschritt in der politischen Kultur es bedeutet hat, dass den
DDR-Bürgern 1989 eine friedliche Revolution gelang, richtiger:
gelingen konnte. Trotz der sowjetischen Panzer und Soldaten, die ja
immer noch im Lande waren.
Etwas Entscheidendes hatte sich 1989 geändert: die sowjetische
Führung unter Gorbatschow wagte den Ausstieg aus der
Jahrzehnte währenden unseligen Geschichte kommunistischer
Gewaltherr-schaft, in der die Niederschlagung der
Emanzipationsbestrebungen in den sozialistischen Bruderstaaten auf
immer zu den schwärzesten Kapiteln zählt: Denn was 1953
in der DDR passierte, wiederholte sich ähnlich 1956 in Polen,
schlimmer noch im selben Jahr in Ungarn und 1968 in der
Tschechoslowakei.
1989 bewies Gorbatschow, dass er und die sowjetische Führung
es ernst meinten mit dem Neuen Denken, mit dem Ausbrechen aus den
tradierten Feindbildern. Die Moskauer Führer hatten ihre
historische Lektion gelernt. Das ist meine erste Antwort auf die
Frage nach der Bedeutung des Juniaufstandes für die politische
Kultur in Deutschland und in Europa. Der 17. Juni hatte eine
Langzeitwirkung - sogar in der Sowjetunion. Er prägte dort,
wenn auch sehr verzögert, das Denken von Politikern.
Ich halte fest: Wenn wir nach der Bedeutung des 17. Juni 1953
für die politische Kultur fragen, dann lohnt es sich,
über den deutschen Tellerrand hinaus zu blicken. Eines
jedenfalls ist unbestritten: Ohne Eingreifen der sowjetischen
Panzer hätten wir schon 1953 die Einheit bekommen, denn
Ulbrichts Regierung, seine SED waren am 17. Juni praktisch
entmachtet. Was allerdings passiert wäre, wenn 1989 die Rote
Armee ihren Juni-Einsatz wiederholt hätte, mag ich mir nicht
wirklich ausmalen.
Dass die Revolution von 1989 anders als die von 1953 friedlich
verlief - ohne Blutvergießen, ohne Panzer, ohne Standgerichte
- war ein großes Glück, ein Riesenerfolg. Nur eines war
es nicht: selbstverständlich. Revolutionen in Deutschland
gingen selten gut aus - das sollten wir auch nach 1989 nicht so
schnell vergessen.
Wie lässt sich nun die Bedeutung des Juniaufstands für
die politische Kultur heute beschreiben? Hier zögere ich mit
einer Antwort. Zwar war in den letzten Wochen vieles über
dieses Ereignis in den Zeitungen zu lesen. Es gab zahllose
politische Veranstaltungen, tägliche Zeitzeugenberichte im
Radio, Wettbewerbe in Schulen, einige Fernsehfilme und
Dokumentationen, neue Sachbücher. Doch wie lange hält das
Interesse an? Laut einer aktuellen Umfrage des ZDF (Mai 2003) kann
nur knapp die Hälfte aller Deutschen mit diesem Datum etwas
anfangen, ihm das richtige historische Ereignis zuordnen. Der 17.
Juni war im Laufe der Jahrzehnte immer mehr verdrängt worden,
fast schon in Vergessenheit geraten. Das ändert sich jetzt
hoffentlich. Am 50. Jahrestag und fast 14 Jahre nach der
staatlichen Einheit fallen offenbar politische Scheuklappen, die
bisher den Blick verstellt hatten. Plötzlich können wir
uns die Geschichten der Zeitzeugen anhören, können
einfach nacherzählen, was die Forscher aus den Archiven heben:
und siehe da, die Nebel des Kalten Krieges lichten sich. Die
tatsächlichen Vorgänge, die tatsächliche Wut der
Arbeiter und aller, die sich ihnen angeschlossen hatten,
übrigens auch die Unlust vieler sowjetischer Soldaten, an
diesem Tag ihre Befehle auszuführen, sprechen für sich
selbst. Man braucht keine angeblichen Provokateure aus dem Westen,
um den Aufstand zu erklären und auch kein nationales Pathos.
Was da wirkte, war politischer, sozialer Unmut, er mündete in
das, was freie Gewerkschaften ausmachen: die Leute wollten mehr
materielle Gerechtigkeit, wollten mehr politische Freiheit und
Selbstbestimmung. Die da unten wollten nicht mehr weiter wie
bisher! Leider konnten die da oben noch, weil die Sowjetunion noch
Machtmittel hatte und anwenden wollte. Die revolutionäre
Situation, dass beides zusammenkommt, der Unwille von unten und das
Unvermögen von oben, die entstand erst 36 Jahre
später.
Also erzählen wir die Geschichte:
Die Vorgeschichte des 17. Juni lässt sich in Stichworte
fassen: Gängelung der Menschen durch den Staat, Enteignung des
Mittelstandes, Schließung kleiner Privatbetriebe, Vertreibung
der Bauern von ihren Höfen, Verfolgung der Jungen Gemeinden,
Diffamierung der Kirchen, ideologische Bevormundung in Betrieben,
Schulen und Universitäten, Kampf gegen die überall
vermuteten Überreste der Sozialdemokratie.
Die SED regiert ihren Staat und "ihre" Bürger, die kaum
Bürgerrechte hatten, im stalinistischen Geist und mit brutaler
Härte. Schon wegen kleinster Vergehen, etwa wegen des
Diebstahls von Nahrungsmitteln aus purer Not, landen damals viele
tausend Menschen im Gefängnis. Für so genannte
"Staatsverbrechen", wie etwa eine politische Parodie, gibt es hohe
Zuchthausstrafen. Kein Wunder, dass schon in den ersten drei Jahren
nach Staatsgründung über eine halbe Million Ostdeutsche
in den Westen fliehen.
Als die SED-Führung im Juli 1952 den "planmäßigen
Aufbau des Sozialismus" verkündet, hat sie ihren moralischen
Kredit, ihre Glaubwürdigkeit schon gründlich verspielt.
Der Aufbau der Kasernierten Volkspolizei, der forcierte Ausbau der
Schwer- und Grundstoffindustrie, die von oben angeordnete Schaffung
von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG's) und
später von Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH's) -
all diese Maßnahmen lösen eine ernste Wirtschafts- und
Versorgungskrise aus. Die hohen Reparationslieferungen an die
Sowjetunion tragen das Ihrige bei. Die Lebensmittel werden immer
knapper und teurer. Konsumgüter für den täglichen
Bedarf - Kleidung, Stoffe usw. - gibt es kaum noch. Die alten
Produktions- und Lieferstrukturen waren zerschlagen worden, ohne
dass die neuen, sozialistischen funktionieren.
Und wie reagieren Ulbricht und sein Politbüro? Sie ordnen von
oben erhebliche Leistungssteigerungen an. Im Mai 1953 erhöhen
sie die für die Produktion entscheidenden Arbeitsnormen um
zehn Prozent, was kräftige Lohnsenkungen zur Folge hat. Doch
mit dem Druck auf die Arbeiter wächst auch ihr Frust,
wächst die Unzufriedenheit im ganzen Land. Die innenpolitische
Krise spitzt sich bedrohlich zu. Anfang Juni 1953, drei Monate nach
Stalins Tod, bestellt die verärgerte Sowjetführung die
Spitzenfunktionäre der SED nach Moskau ein und verlangt
radikale Kurskorrekturen. Doch der "Neue Kurs" der SED, das
Eingeständnis politischer Fehlentscheidungen, die
Rücknahme der Normerhöhung, sie kommen zu spät, sind
kein Ventil für die aufgestaute Wut der Arbeiter.
Schon seit Tagen hatte es Versammlungen, meist nur kurze
Arbeitsniederlegungen gegeben. Die Initiative zu ersten
größeren Streiks am 15. Juni 1953 ergreifen die Arbeiter
auf den Großbaustellen im Friedrichshain und in anderen
Berliner Betrieben. Am 16. Juni streiken die Stahlarbeiter in
Hennigsdorf, und in Berlin demonstrieren erst 700, am Ende dann
mehrere Tausend Berliner Arbeiter mit Transparenten durch die
Stalinallee in die Innenstadt. Ihnen geht es nicht mehr nur um die
Normen auf dem Bau. Bei der spontanen Kundgebung am Haus der
Ministerien erklingen erste Forderungen nach freien und geheimen
Wahlen und nach dem Rücktritt der Regierung. Für den
nächsten Tag, den 17. Juni, rufen die Arbeiter den
Generalstreik aus.
Dieser Aufruf verbreitet sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land. Am
Morgen des 17. Juni kommt es in über 700 Ortschaften zu
Protestaktionen der Bevölkerung: 600 Betriebe werden
bestreikt, Gemeindeämter belagert, Gebäude der SED, der
Polizei, der Staatssicherheit gestürmt, knapp 1.400
Häftlinge werden aus Gefängnissen befreit.
Was als Arbeiterprotest, als Arbeiterbewegung begann, mündete
an diesem 17. Juni in einen Volksaufstand. Menschen aus allen
sozialen Schichten (Arbeiter, Bauern, Angestellte, auch
Angehörige der Intelligenz, auch Polizisten) verlangen mehr
als nur eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen.
Ihre Forderungen sind grundsätzlicher Natur: Sturz der
Regierung, freie Wahlen, Zulassung der westdeutschen Parteien in
der DDR. Den Demonstranten geht es um einen politischen
Befreiungsprozess, der letztlich auf die Beseitigung der
Zonengrenze und damit auf die Schaffung eines einheitlichen
deutschen Staates in Demokratie und Freiheit zielt.
Zentren der Erhebung waren neben Berlin, Leipzig, Halle vor allem
die Industriestandorte Leuna, Schkopau, Merseburg, aber auch
Wolfen, Weißenfels, Eisleben. In jenen industriellen
Ballungsräumen, die schon vor 1933 Zentren der deutschen
Arbeiterbewegung waren, erreicht die Streikbewegung zum Teil auch
einen hohen Grad an Organisation und Geschlossenheit:
Streikleitungen werden gewählt und vernetzt, Belegschaften
zwingen die Funktionäre, Resolutionen zu unterschreiben.
Dennoch krankt der Aufstand von Beginn an daran, dass er ohne
deutliche Führung, ohne starke überregionale Koordination
bleibt. Ganz abgesehen davon, dass der zeitliche Spielraum begrenzt
bleibt.
Am 16. und 17. Juni 1953 verlor die SED die Kontrolle über das
Land. Nur durch das Eingreifen der Roten Armee, die 500.000
Soldaten in der DDR hatte, konnte der Aufstand niedergeschlagen
werden. Panzer fuhren auf, das Kriegsrecht wurde verhängt,
Einheiten der Kasernierten Volkspolizei rückten an. Der 17.
Juni fand ein blutiges Ende: über fünfzig Menschen wurden
getötet, mindestens zwanzig standrechtlich erschossen. Nach
Angaben der Birthler-Behörde wurden dann in der Folgezeit
mindestens 2.300 Teilnehmer am Volksaufstand von sowjetischen und
DDR-Gerichten zu meist langen Zuchthausstrafen verurteilt.
Dass heute viele Ostdeutsche nur wenig über diese
antistalinistische Erhebung wissen, ist Folge des Umgangs mit
diesem Ereignis in der DDR. In den Jahren und Jahrzehnten nach 1953
wurde der Aufstand propagandistisch umgedeutet als "Eingriff des
faschistischen und monopolistischen Gegners aus dem Westen". Auch
wenn sich einige "irregeleitete Arbeiter" zu Protesten hätten
verführen lassen, habe doch die überwiegende Mehrzahl der
Werktätigen fest zu Partei und Regierung gestanden. Diese
verfälschende, verharmlosende Lesart des Juniaufstandes
mutierte zur offiziellen Sprachregelung. Gleichwohl blieb der
Volksaufstand im historischen Angstkalender der Regierenden
präsent: Als sich im Sommer 1989 die innenpolitische Situation
dramatisch zuspitzte, stellte der offenbar noch immer
traumatisierte Erich Mielke seinen Offizieren im MfS die Frage "Ist
es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?" Die Offiziere
verneinten dies, sie vertrauten weiter auf die Überlegenheit
des repressiven Apparats.
Der 50. Jahrestag des 17. Juni bietet Anlass, dieses historische
Ereignis für unsere politische Kultur zurückzugewinnen.
Dank der guten Archivlage, die sich in zahlreichen Publikationen
widerspiegelt, ist es uns heute möglich, diesen Tag neu zu
entdecken und gemeinsam, "gesamtdeutsch" zu begehen - ohne ihn
für einseitige Zwecke zu instrumentalisieren.
Kritik an der jahrzehntelangen Vernachlässigung dieses
Aufstands in der politischen Kultur unseres Landes will ich
allerdings nicht so sehr an den von "Amts wegen" Zuständigen,
an den Anderen üben. Fangen wir doch einmal bei uns selbst,
bei den Ostdeutschen an.
Wir, die wir in der DDR lebten und mit kritischer Distanz das
politische Geschehen im Lande verfolgten, haben uns bei unserer
eigenen Traditionssuche viel lieber auf den Aufstand in Ungarn,
1956, auf die Helden in Prag, 1968, und später dann auf
Solidarnoc berufen, statt auf den 17. Juni. Der Juniaufstand galt
uns relativ wenig, wir haben ihn uns nicht wirklich zu eigen
gemacht. Das mag mit der wenig rühmlichen Rolle vieler
Schriftsteller und Intellektueller 1953 zu tun haben. Manche, die
zu den kritischeren, deshalb glaubwürdigeren zählten,
unterschieden selbst zwischen den für berechtigt gehaltenen im
engeren Sinne gewerkschaftlichen Forderungen und den für
unerwünscht erklärten "konterrevolutionären"
Forderungen nach Demokratie und Freiheit, die logischerweise in die
Forderung nach deutscher Einheit mündeten. Sie
unterstützten damit im Ergebnis die offiziellen Darstellungen
über diesen Aufstand. Es mag sein, dass viele in der DDR dem
erlegen sind. Es mag aber auch sein, dass es die Niederlage war, an
die man nur ungern erinnert werden wollte. Die Jüngeren hatten
dann ja noch die genannten weiteren Niederlagen zu verkraften: eine
davon war der Mauerbau, der durchaus zu den Folgen des 17. Juni
gerechnet werden kann: schmerzlich wurde deutlich, dass nicht nur
die eigenen Machthaber, sondern auch der Westen über uns in
der DDR entschied; dass der Westen im Kalten Krieg als
Verbündeter für das Volk ausfiel. Das war ja schon am 17.
Juni so.
Mit dieser Verdrängung und Resignation haben wir vor allem
jenen Hunderttausenden Unrecht getan, die 1953 den Mut aufbrachten,
ihren Protest gegen die Diktatur öffentlich zu machen, in den
Streik zu treten, für Demokratie und Freiheit zu kämpfen.
Diese Menschen verdienen den gleichen Respekt, die gleiche
Anerkennung wie die Aufständischen in Budapest und Prag. Ich
bin ausgesprochen dankbar, dass im Zuge der zahlreichen
Veranstaltungen zum 50. Jahrestag diese Akteure endlich aus dem
Schatten der Geschichte treten und öffentliche Würdigung
erfahren.
Übrigens: Die Tatsache, dass der Aufstand gescheitert ist,
nimmt seiner historischen Bedeutung nichts. Festzuhalten ist, dass
die ostdeutschen Demonstranten von 1953 die Ersten waren, die sich
in Osteuropa gegen das kommunistische System erhoben haben. Der
Blick auf die Emanzipationsbewegungen in den sozialistischen
Staaten nach 1945 weist dem Juniaufstand diesen exklusiven Platz
zu. Das ändert nichts daran, dass es sich auch um die erste in
einer langen Reihe von Enttäuschungserfahrungen gehandelt hat,
der die niederschmetternden Enttäuschungen in Polen, Ungarn,
Mauerbau 1961, dem heutigen Tschechien und die Ausbürgerung
Biermanns 1976 folgen sollten. Die Verbindung zu 1989 ist die Idee
der Freiheit, die sich für Ostdeutschland nur in der Einheit
erreichen ließ, und diese Kette immer neuer
Enttäuschungen, die zunächst in Ohnmacht und Resignation
und Flucht, am Ende aber zu dem Mut der Verzweiflung
führten.
Ein herausgehobener Platz steht dem 17. Juni damit auch innerhalb
der deutschen Freiheitsgeschichte zu - einer Geschichte, die nicht
allzu viele erfolgreiche Daten aufzuweisen hat. Der 17. Juni ist
ein Tag des Kampfes für demokratische Freiheiten in
Deutschland. Von hier aus führte der Weg zur friedlichen
Revolution von 1989.
Nachdem wir nun über ein Jahrzehnt die Einheit haben,
können wir den 17. Juni 1953 auch als gesamtdeutsches Ereignis
begreifen lernen, ganz im Sinne von Egon Bahr, der sagte: "Wir
können stolz sein auf diesen Tag und das, was die Ostdeutschen
gezeigt haben. Ohne ihren Mut hätte es weder den 17. Juni 1953
noch den 9. November 1989 gegeben. Der kleinere, bedrängtere
Teil hat für das Ganze Geschichte geschrieben."
Die politische Kultur unseres Landes wäre sehr viel ärmer
ohne diesen Aufstand. Doch bei allem Stolz sollten wir uns stets
auch der Verpflichtungen bewusst sein, die er uns auferlegt. Zur
Verpflichtung des 17. Juni zählt, dass Deutschland ein
solidarisches Land bleibt: Solidarisch gegenüber jenen
Menschen, die noch immer in Unrechtssystemen leben müssen.
Angesichts unserer eigenen Geschichte, unserer eigenen Erfahrungen
kann uns die Unfreiheit anderer nicht gleichgültig lassen. Wir
haben die Pflicht, auch auf internationaler Ebene für die
Verteidigung der Freiheit und der Menschenrechte engagiert zu
streiten. Zu unserer politischen Kultur gehört nicht zuletzt
die Einsicht, dass wir die Feinde der Demokratie bekämpfen
müssen, ehe sie stark werden, ehe sie Macht in ihren
Händen halten.
Der Volksaufstand mahnt zu Zivilcourage, zu Solidarität
gegenüber jenen Menschen, die sich in unserem Land mitunter
nicht sicher fühlen können: Einwanderer, Obdachlose,
Minderheiten. Wenn wir die innere Einheit sicher und gerecht
gestalten wollen, dürfen wir die Verteidigung unserer
demokratischen Werte weder dem Zufall noch der Beliebigkeit
überlassen. Die Beschäftigung mit diesem Datum der
deutschen Geschichte kann das Bewußtsein schärfen
für die Kostbarkeit von Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und
Demokratie.
Ich wünsche mir, dass die Gedenkveranstaltungen zum 50.
Jahrestag des 17. Juni dazu beitragen, dieses revolutionäre
Ereignis wieder in unsere Gedenkkultur einzugliedern und lebendig
zu halten. Das wäre ein Gewinn für unsere
Demokratie."
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