Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Eröffnung der 53. Bad Hersfelder Festspiele am 11. Juni 2003 in Bad Hersfeld
"Jedem Festspiel liegt etwas Charakteristisches, etwas
Besonderes zugrunde. In Schleswig-Holstein ist es die Landschaft
zwischen den Meeren, in Salzburg ist es Mozart, in Oberammergau das
Passionsgelübde. In Bad Hersfeld ist es die Stiftsruine. Wo -
wenn nicht hier, in diesem akustischen Wunder, in dieser herrlich
inspirierenden Kulisse - muss man einfach Theater spielen?
Wenn man auf die über 50jährige Geschichte der Festspiele
zurückschaut, wird deutlich: Hier haben (fast) alle, die in
der deutschen Theaterlandschaft Rang und Namen haben, gespielt und
inszeniert. Das Publikum kommt begeistert, zum Teil seit
Jahrzehnten, und lässt sich faszinieren, lässt sich
berühren. Die Festspiele sind ein Stück Identität
dieser Region. Ein kultureller Leuchtturm, dem sich auch der Bund
verpflichtet fühlt - schon seit Beginn der Festspiele, kurz
nach dem Krieg. Und das setzte sich fort - auch in jener Zeit als
Bad Hersfeld Grenzstadt war - "Zonenrandgebiet" - - bis heute, da
die Stadt wieder mitten in Deutschland liegt. Und - soweit ich das
sehe - gibt es keinerlei Absicht, an dieser Bundesverantwortung
etwas zu verändern.
II.
Überall auf der Welt gilt die Großstadt als kultureller
Magnet. Dort konzentriert sich fast alles: Künstler, Publikum,
der kulturpolitische Diskurs und nicht zuletzt - das Geld. Im
föderalen Deutschland liegen die Dinge - zum Glück -
anders: Das kulturelle Angebot in mittleren und kleinen
Städten, in den Landkreisen ist - immer noch - reichhaltig.
Wir haben nicht nur eine große Anzahl von Festspielen
zwischen Rügen und Garmisch. Wir haben auch eine
Stadttheaterlandschaft, um die uns die ganze Welt beneidet (hier
hat sich die deutsche Kleinstaaterei einmal als
außerordentlich segensreich erwiesen). Die vielen mittleren
und kleinen Häuser mit ihrem kreativen Potenzial und ihrer
Qualität sind eine Stärke Deutschlands,
gewissermaßen kultureller Humus, auf dem sich immer wieder
Bemerkenswertes entwickelt.
Auch abseits der Metropolen sind Theater so präsent, dass sich
die Bürger mit ihnen identifizieren, manchmal vielleicht sogar
mehr als in den sogenannten Kulturhochburgen, wo das Theater noch
mit vielen anderen Angeboten konkurrieren muss. Gerade in mittleren
und kleineren Städten speist sich das lokale Selbstbewusstsein
oft ganz entschieden aus dem Theater, aus dem örtlichen Schau-
und Festspiel: Ich denke z. B. an Weimar, wo eine ganze Stadt
für den Erhalt ihres Theaters kämpft, ich denke an
Meiningen, wo man gar nicht genau sagen kann, ob das Theater ein
Teil der Stadt ist oder die Stadt ein Teil des Theaters. Ich denke
auch an Bayreuth und ich denke selbstverständlich an Bad
Hersfeld. Solche gewachsenen, kulturellen Identifikationspunkte zu
bewahren, gehört zu den Aufgaben der Kulturpolitik im 21.
Jahrhundert.
Eine leichte Aufgabe ist das aber nicht. Und das hat nicht zuletzt
etwas mit dem Geld zu tun - besser: mit dem fehlenden Geld.
Früher galt das schöne Motto: Kulturpolitik heißt
ermöglichen. Heute verlangt Kulturpolitik zu entscheiden, was
ermöglicht werden kann und was nicht. Das geht nur im Streit.
Es ist gut möglich, dass dieser Streit der Kultur gut tut,
besser als die Beliebigkeit, die sich entwickelt, wenn zu fast
allem "ja" gesagt werden kann. Es ist andererseits sicher, dass ein
völliger Rückzug des Staates aus der Verantwortung
für Kultur schädlich ist. Für die Kultur - aber auch
für die Demokratie. Leider gibt es die schlechte Angewohnheit
in Deutschland, dass zuerst bei der Kultur gestrichen wird.
Kontinuität und Verlässlichkeit sind so für die
Kulturarbeit nicht immer gegeben. Die finanzielle Not zwingt zu der
Frage, ob manche überkommenen Strukturen noch
zeitgemäß sind.
Es gibt keinen Grund, warum der Kulturbereich von Wandel verschont
bleiben soll. In allen anderen Bereichen, im Arbeitsleben, im
Gesundheitswesen, bei den Renten - um aktuelle Beispiele zu nennen
- geht es längst um tiefgehende strukturelle
Veränderungen. Auch im Kulturbereich gilt: Nur den status quo
zu verteidigen, wäre so konservativ, dass es schon falsch
wird. Man muss genau hinschauen, man muss Phantasie und
Kreativität auch bei der Finanzierung entwickeln. Man muss
auswählen, was geht und was nicht. Ist es vielleicht
kulturpolitisch sinnvoller, Geld für moderne Entwicklungen
auszugeben, die von unten kommen oder von den Rändern?
Mancherorts haben mehr Selbständigkeit von Theatern (und
Museen), haben Sparzwänge sogar zu ganz erstaunlichen, guten
Ergebnissen geführt. Ich meine nicht, dass sich Städte
ihre Theater vom Halse schaffen sollen, aber mehr Beweglichkeit und
mehr Eigenverantwortung können ein guter Ausgleich für
sinkende Finanzzuschüsse sein. Erfolgreich werden solche Wege
allerdings nur dann sein, wenn sie mit den Theaterschaffenden
geplant und umgesetzt werden, nicht gegen sie.
III.
Die Festspiele von Bad Hersfeld sind - wer wollte das bestreiten -
ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor für die Stadt. Schon
1954 verbuchte man stolz als Erfolg, dass die Festspiele einen
zusätzlichen Geldumlauf von einer halben Million D-Mark
auslösten. Festspiele sind immer auch ein Standortfaktor. Ich
weiß, daß solche Sichtweise manchem als Verrat an der
Kunst gilt. Das leuchtet mir aber nicht recht ein.
Grundsätzlich ist nichts falsch daran, wenn Kultur
Arbeitsplätze schafft und sichert, positiven Einfluss auf die
wirtschaftliche Situation einer Region hat. Weltfremd wäre,
das zu übersehen - übrigens auch, wenn es um
Kürzungen von Kulturetats geht. Kultur ist eben nicht nur die
"Petersilie auf den Kartoffeln", sondern - auch standortpolitisch
gesehen - durchaus existenziell.
Aber diesen Gesichtspunkt darf man nicht überdehnen. Dann
würden Kunst und Kultur nur noch über die touristische
Umwegrentabilität legitimiert werden. Kultur bedeutet mehr als
das für die Menschen, für die Gesellschaft insgesamt hat
sie Funktionen und Verantwortung jenseits ökonomischer
Kriterien. Die Ausbildung sozialer Kompetenz ist zum Beispiel ganz
entschieden kulturell vermittelt. Christina Weiss hat Theater und
Museen einmal als "Kraftwerke" bezeichnet, die das geistige Leben
mit Energie versorgen. Mir gefällt dieses Bild. In der Kultur
als dem Raum menschenverträglicher Kommunikation und Reflexion
können und werden immer wieder bohrende Fragen gestellt: Nach
den Gefahren eines nackten Materialismus ohne soziales
Gegengewicht, nach den Folgen von Bindungslosigkeit und fehlenden
Identifikationsmöglichkeiten, nach Chancen und Risiken
moderner Technik, nach Perspektive und Wert menschlichen Lebens in
der gnadenlosen Konkurrenz globalen Wettbewerbs, nach dem
Spannungsverhältnis zwischen der Stärke des Rechts und
dem Recht des Stärkeren. Und diese Fragen werden nicht im
Stile wissenschaftlicher Vorlesungen oder politischen Streits
gestellt, sondern auf andere, ganz eigene, sinnlich erfahrbare und
begreifliche Weise. Es gibt ja nicht nur einen Kanon gemeinsamen
Wissens, sondern auch emotionale, ästhetische
Verständigung, die unverzichtbar ist. Beides hätten wir
nicht ohne die Künste.
IV.
Kultur gewinnt gerade in schwierigen Zeiten an Bedeutung, weil
Phantasie und Visionen gefragt sind, weil sinnliche Wahr-nehmung,
ästhetische Vielfalt und Muße grundlegende
Bedürfnisse sind. Angesichts der Beschleunigung des
Lebenstempos und angesichts der Zukunftsängste in einer
unübersichtlicher werdenden Welt wollen sie um so dringender
befriedigt werden. Es genügt nicht, darüber strenge
Analysen zu verfassen. Menschen müssen ausdrücken, wie
sie diese Veränderungen empfinden, wahrnehmen,
begrüßen oder verabscheuen. Nur so finden wir
übrigens auch die Wege ihrer Bewältigung. Auch in Zeiten
der Globalisierung, der nicht nur ökonomischen Entgrenzung und
Beschleunigung wird Kultur nicht unwichtiger, im Gegenteil.
Vor diesem Hintergrund setzt der Bundestag jetzt eine
Enquete-Kommission zur Situation der Kultur in Deutschland ein. Sie
wird voraussichtlich im Herbst ihre Arbeit aufnehmen und sich um
eine "Bestandsaufnahme Kultur in Deutschland" bemühen. Sie
wird nach Perspektiven unter neuen Rahmenbedingungen fragen. Und
sie wird sicher auch danach fragen, wie Politik der Kultur helfen
kann, unter dem wachsendem Druck ökonomischer
Verwertungsinteressen bestehen zu können.
Verwertungsinteressen, die stark von international operierenden
Unternehmen und vom sogenannten "Zeitgeschmack" bestimmt werden.
Zum Beispiel in der Musik: Deutschsprachige und in Europa
produzierte Musik hat bei uns im Radio viel weniger eine Chance als
englischsprachige aus den USA. Fast alle Stationen - auch die
öffentlich-rechtlichen - senden inzwischen ein Musikprogramm,
das dem - angeblichen - Massengeschmack entspricht, sich jedenfalls
vor allem an den globalen Verwertungsinteressen der Produzenten
orientiert. Für Sperriges, Unkonventionelles dagegen gibt es
oft keinen Sendeplatz. Das heißt: Wohl eher keinen Sende-Mut.
Ähnliches kann man auch vom Film sagen.
Vielleicht hilft ein Blick zu unserem Nachbarn jenseits des Rheins:
Frankreich hat mit einer Quote für einheimische Musik gute
Erfahrungen gemacht. Die Quote hat die dortige junge Musikkultur
belebt und nun zeichnen sich auch internationale Erfolge ab, wie es
sie viele Jahrzehnte nicht mehr gegeben hat. Wenn das keine
Eintagsfliegen bleiben, könnte das hierzulande
Überlegungen vermehren, ob man neuere deutsche Musik mit einer
Quote nach französischem Vorbild fördern kann. Ich neige
zu einem solchen Experiment - nicht aus nationalistischem Pathos,
sondern auf Grund zweier einfacher Beobachtungen:
1. Jeder weiß, dass die Ausdrucksmöglichkeiten
verschiedener Sprachen verschieden sind. Warum sollen wir drohendem
Verlust dieser Feinheiten/dieser Vielfalt tatenlos zusehen?
2. Es gibt viele Talente in Deutschland und in Europa, deren
Chancen sich durchzusetzen davon abhängen, ob wir Hörer
mit ihrer Musik überhaupt behelligt werden.
V.
Die Kultur, die Künste sind notwendig, weil wir Men-schen
zweckfreier oder zumindest zweckentlaste-ter Kommunikation
bedürfen. Angesichts der Ökonomisierung, der
In-strumentalisierung unserer sozialen Beziehungen, unserer
Kommunikation gilt das sicher um so mehr. Die Menschen verlan-gen
nach sinnlicher Erfahrung, historischer Vergewisserung, nach
Identifikationsmustern, nach Identitätserfahrung. Dies gilt im
Kleinen wie im Großen. So wird zum Beispiel die
europäische Einigung ohne ein Bewusstsein von der
Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen europäischen Kultur
kaum zu realisieren sein. Ein solches Bewusstsein wächst und
gedeiht, wenn die Verbundenheit aktiv er-fahren wird.
Kultur bietet Erfahrungen, die der Alltag nicht häufig bereit
hält. Hier weckt sie den kritischen Geist, dort lässt sie
uns die manchmal erlösende Distanz zu erdrückenden
ökonomi-schen und politischen Zwängen finden. Deshalb
gehört Kultur weder in eine Nische, noch aus der
öffentlichen Verantwortung genommen und allein den
Verwertungsinteressen überlassen. Solange die Kulturausgaben
aus mehr oder minder wachsenden Etats bestritten werden konnten,
haben wir die eine, die alles entscheidende Frage in Wahrheit nicht
einmal stellen müssen: Was ist uns Kultur wert? Jetzt, da die
finanzielle Situation des Staates (und zwar auf allen Ebenen) eine
grundlegend andere ist, müssen wir sie beantworten. Kultur ist
nicht bloße Dekoration wie die Petersilie auf der Kartoffel -
ich habe dieses Bild des Grafikers Klaus Staeck eben schon benutzt
- Kultur ist so wichtig wie die Kartoffel selbst. Kultur ist
keineswegs der Luxus, den wir uns dann leisten können, wenn es
uns gut geht. Ganz im Gegenteil: Kultur ist lebensnotwendig. Kultur
ist existenziell und deshalb ein Lebens-Mittel.
In diesem Sinne: Die 53. Bad Hersfelder Festspiele sind
eröffnet."
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