Bundestagspräsident Thierse würdigt Kofi Annans Wirken für eine gerechtere Weltordnung
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ist neben dem
früheren US-Präsidenten Bill Clinton Hauptredner bei der
Verleihung des "Deutschen Medienpreises 2003" an den
Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan in
Baden-Baden (Beginn 19 Uhr). Thierse würdigt dabei das
Eintreten Kofi Annans "für eine friedliche und gerechtere
Weltordnung, für die Einhaltung der Menschenrechte und
für die Ausbreitung von Demokratie und sozialer
Gerechtigkeit". Der Bundestagspräsident führt u.a.
aus:
"Der Deutsche Medienpreis hat sich in kurzer Zeit einiges Renommee
erworben. Das liegt nicht zuletzt an den Preisträgern. In
diesem Jahr ist es der Generalsekretär der UN, Kofi Annan, und
er ragt aus der Reihe seiner Vorgänger noch heraus. Sein Amt
stellt ihn oft ins Zentrum der weltpolitischen Aktualitäten.
Aber die Person Kofi Annan orientiert sich an grundsätzlichen,
an moralischen und in der Sache sehr komplexen Zielen. Das ist
nicht fernsehgerecht und weit entfernt vom Glanz und Glamour des
medialen Boulevards. Den meidet Kofi Annan, weil er auf Kompetenz
setzt und auf die Übereinstimmung von Reden und Handeln.
Mit dem Namen Kofi Annans verbindet sich sein überzeugendes
Eintreten für eine friedliche und gerechtere Weltordnung,
für die Einhaltung der Menschenrechte und für die
Ausbreitung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Kofi Annans
Lebenswerk ist international, kosmopolitisch und
kulturübergreifend ausgerichtet - ja, im Rückblick
erscheinen alle Stationen seines beruflichen Werdegangs geradezu
als Vorbereitungen für die eine große Lebensaufgabe,
für das Amt des Generalsekretärs der Vereinten
Nationen.
Schon 1962, mit 24 Jahren, kam Kofi Annan zur
Weltgesundheitsorganisation in Genf. Im UN-Hochkommissariat
für Flüchtlingswesen wird er mit den menschlichen
Tragödien in Krisen und Konflikten konfrontiert. Seine bis
dahin größte Bewährungsprobe bestand er als
Untergeneralsekretär für Friedenssicherung: nicht weniger
als 16 UN-Operationen mit rund 75.000 Blauhelmen in aller Welt
hatte er zu koordinieren. Nicht zuletzt wegen dieser Leistung wurde
Kofi Annan 1996 zum UN-Generalsekretär gewählt. Die
einstimmige Nominierung für eine zweite Amtszeit war die beste
Bestätigung seiner klugen, umsichtigen und weltweit
geschätzten Amtsführung.
Mit sympathischem Understatement hat Kofi Annan einmal gesagt, sein
Job sei der "unmöglichste der Welt", aber "irgendjemand
müsse ihn ja tun". Darin liegt auch die bittere Wahrheit, dass
sich wahrlich nicht alle Hoffnungen erfüllt haben, die mit der
Gründung der Vereinten Nationen vor 58 Jahren verbunden waren.
Es gibt Rückschläge, Fehlentscheidungen und bittere
Niederlagen. Kofi Annan hat die Größe, dort wo
politische Fehler Ursachen dafür waren, diese Fehler
einzugestehen. Aber die Welt läge weit mehr im Argen, wenn es
die Vereinten Nationen nicht gäbe. Das Vorgehen der
Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten im Irak ohne
UN-Mandat hat die Autorität der Vereinten Nationen im letzten
Jahr in Frage gestellt. Dass es nicht gelang, sie zu
erschüttern, ist vor allem Kofi Annan zu verdanken. Ein
"Präventiv-Angriff" verletzt die UN-Charta und also all jene
Prinzipien, durch die unzählige Konflikte eingedämmt und
entschärft werden konnten. Deshalb zweifeln viele daran, ob es
überhaupt noch möglich sein wird, in grundlegenden Fragen
der Weltpolitik zu internationalem Konsens und internationaler
Kooperation zu gelangen.
Ich teile diesen Pessimismus nicht. Denn immerhin ist es bisher
nicht gelungen, die Völkergemeinschaft auf Dauer zu spalten
oder gar die Vereinten Nationen substantiell zu gefährden.
Nicht zuletzt musste auch die sogenannte "Koalition der Willigen"
nach dem offiziellen Ende des Krieges einsehen, dass dessen Folgen
nicht ohne die UN bewältigt werden können. Die
internationale Staatengemeinschaft ist sich weiterhin darin einig,
dass weder der Terrorismus noch die Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen von einem Land allein erfolgreich
bekämpft werden können. Es ist gut, dass der irakische
Diktator seinen Landsleuten jetzt kein Unrecht und keinen Schaden
mehr zufügen kann. Doch sehen wir im Irak jeden Tag aufs Neue,
dass keinem Volk die Emanzipation aus Unterdrückung und
Unterentwicklung von anderen wirklich abgenommen werden kann.
Freiheit von Diktatur bedeutet eben noch lange nicht Freiheit
für die Demokratie, nicht einmal Stabilität.
Der Irak-Krieg hat uns mit einem ganzen Bündel ungelöster
Fragen konfrontiert: Wie gehen wir mit Diktatoren und deren
Verbrechen gegen die Menschlichkeit um? Wer trägt die
Verantwortung für die Konfliktlösung innerhalb
souveräner Staaten? Reichen die bestehenden Regeln und
Mechanismen aus, um der Verantwortung der internationalen
Staatengemeinschaft gerecht zu werden? Was können wir tun,
damit sich der menschenverachtende Terrorismus nicht zu einem Krieg
der Kulturen und Religionen ausweitet?
Hinter uns liegt ein Jahrhundert furchtbarer
Zivilisationsbrüche. Die Lehre aus der Erfahrung von
nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, Krieg und Völkermord
war der gemeinsame Wille, feste und verbindliche Regeln für
ein zivilisiertes Miteinander von Menschen und von Staaten zu
etablieren. In der UN-Charta hat sich die internationale
Staatengemeinschaft auf gemeinsame Werte und verbindliche Regeln
zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte verpflichtet. Zwar
ist es Ziel und Zweck dieser Regeln, Kriege mit politischen Mitteln
zu verhindern - doch leider hat sich gezeigt, dass dies auch nicht
um jeden Preis geschehen kann und geschehen darf. Ich erinnere an
die gerade für uns Europäer so schwierige Entscheidung,
den Völkermord im ehemaligen Jugoslawien mit
militärischem Eingreifen zu beenden, obwohl die Billigung des
Sicherheitsrats ausblieb.
Immer noch sind Konflikte der Ernstfall, in dem sich die Bindekraft
gemeinsamer Regeln und Werte erweisen muss. Nicht nur in ruhigen
Zeiten, sondern vor allem in Kriegs- und Krisenzeiten zeigt sich,
ob Staaten und Menschen ein Mindestmaß an Humanität,
Menschenwürde und Zivilität aufbringen.
Auch 58 Jahre nach der Unterzeichnung der UN-Charta müssen
ihre universellen Regeln und Werte Maßstab politischen
Handelns bleiben. Das gilt übrigens im Großen wie im
Kleinen, zwischen Staaten wie zwischen Menschen in den
Staaten.
Jede Gesellschaft braucht verbindende und verbindliche Werte, um
als solche zusammenhalten zu können. Die Menschen brauchen
Rechte, um frei sein zu können und haben Pflichten, damit das
Ganze funktioniert. Kofi Annan hat das so ausgedrückt: "Wir
müssen in uns selbst den Willen finden, nach den Werten zu
leben, die wir verkünden - in unserem Privatleben, in unseren
lokalen und nationalen Gemeinwesen und in der Welt." Für die
Starken, Mächtigen und Reichen füge ich hinzu, kann das
nicht oft genug gesagt werden. Einfach, weil mit den
Möglichkeiten, sich den Pflichten zu entziehen auch die
Versuchung dazu wächst. Ob sich nun ein besonders starker
Staat internationalen Regeln und Absprachen widersetzt oder ob
einzelne Bürger, prominent und wohlhabend geworden, sich
beispielsweise ihrer Steuerpflicht entziehen - in beiden
Fällen wird die Verantwortung, die man tragen sollte, nicht
wahrgenommen.
In einer globalisierten Welt, in der unterschiedliche Kultur- und
Wirtschaftsräume immer enger zusammenrücken, ist das
vereinte Eintreten für gemeinsame Werte und
Grundüberzeugungen unverzichtbarer denn je. Globalisierung ist
auch Entgrenzung. Sie bietet Wohlstandschancen, aber auch die
Versuchung zur Schrankenlosigkeit. Jedenfalls hat die
Globalisierung bislang noch nicht ausreichend zur Bekämpfung
von Hunger, Armut und Krankheiten, zum Schutz der Umwelt und zur
Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, zur Teilhabe aller
an Bildungschancen beigetragen. Diese Probleme zu ignorieren,
würde uns weltweit und grenzenlos Unzufriedenheit und
Enttäuschung, Angst und Misstrauen einbringen. Im schlimmsten
Fall würde eine Spirale der Gewalt in Gang gesetzt, wie sie
seit dem 11. September 2001 bis in die letzten Winkel der Welt
bewusst geworden ist. Um so verdienstvoller ist es, dass Sie,
lieber Kofi Annan, nicht müde werden, immer wieder auf die
fatalen Folgen von sozialer Ungerechtigkeit hinzuweisen.
Kofi Annan versteht es immer wieder, mit klugen, unwiderlegbaren,
geradezu zwingenden Argumenten auf den Zusammenhang zwischen
Freiheit, sozialem Fortschritt, Gleichberechtigung und Achtung der
Menschenwürde und dem Bemühen um Frieden und
Gewaltfreiheit hinzuweisen. Annan beeindruckt dabei durch Kompetenz
und Sachlichkeit; er ist uneitel und zurückhaltend, aber
beharrlich, unbestechlich und absolut integer. Damit verhilft er
seinem Amt und seinen Zielen in der ganzen Welt zu
außerordentlicher politischer und moralischer
Autorität.
Kofi Annan ist oft unbequem und anstrengend, wenn er an eigentlich
selbstverständliche Werte erinnert. Er tut es leise, aber
eindringlich, mitfühlend, aber ohne falsches Pathos. Er passt
damit nicht in das Bild einer Welt, das viele Medien zeichnen:
schnelllebig, nur kurzfristig von Ereignis zu Ereignis eilend,
angeblich nur an Spaß und Unterhaltung interessiert. Trotzdem
berichten die Medien über ihn und kritisieren ihn fast nie.
Lieber Kofi Annan, auch das dürfen Sie sich als ein
persönliches Verdienst anrechnen. Mit Ihnen an der Spitze
bleiben die Vereinten Nationen Hort und Hoffnung für jene
humanen Werte, die uns überall auf der Welt ein friedliches
Miteinander in Würde und Freiheit ermöglichen sollen. In
diesem Sinne noch einmal: Lieber Kofi Annan, herzlichen
Glückwunsch zur Verleihung des Deutschen Medienpreises."
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