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Januar 01/2000
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Wolfgang Thierse, Präsident des Deutschen Bundestages:

"Eine Schuld, die nicht vergeben werden kann"

(Auszüge der Rede vor dem Bundestag)

Am 27. Januar 1945 erreichten sowjetische Truppen das Konzentrationslager Auschwitz. 1.689 Tage lang waren dort Menschen gefoltert, gequält, ermordet worden: Juden vor allem, Polen, Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene und Häftlinge anderer Nationalität. Ihrer gedenken wir heute. Wir gedenken der über sechs Millionen Juden und der vielen anderen Opfer des nationalsozialistischen Rassen- und Größenwahns ...

Auschwitz – dieser deutsche Name einer kleinen polnischen Stadt westlich von Krakau ist zum Inbegriff eines Völkermordes ohnegleichen geworden. Wie kein anderer Name steht Auschwitz für eine Schuld, die nicht vergeben werden kann und die nie vergessen werden darf. Wenn diese Schuld auch nicht übertragbar ist – die Verantwortung, die da-raus erwächst, ist sehr wohl übertragbar. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, dass die Vergangenheit stets als Mahnung präsent bleibt: Die Verbrechen der Nationalsozialisten sind einzigartig. Wir müssen dafür sorgen, dass sie es für immer bleiben.

1996 hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum nationalen Gedenktag erklärt. Die heutige Gedenkstunde, die fünfte, ist eine besondere. Heute ist Elie Wiesel bei uns, obwohl und weil er Auschwitz und Buchenwald überlebt hat.

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse.

Verehrter Herr Wiesel, Sie haben einmal offenbart, dass es viele Jahre gedauert hat, bis Sie über Ihre Erfahrungen überhaupt sprechen und schreiben konnten. Seitdem haben Sie in Ihrem Werk und Wirken immer wieder eindringlich die Botschaft übermittelt – ich zitiere: "Kämpfen Sie niemals gegen die Erinnerung. Der Mensch ist fähig zu wissen, was in der Vergangenheit geschah und wozu er imstande ist, er ist fähig zur Verantwortung.".

Zugegeben: Es hat lange gedauert, bis wir uns offen und einhellig zu unserer Verantwortung für die Vergangenheit bekannt haben. Fritz Stern hat das Wegsehen "die Furcht erregende Signatur unseres Jahrhunderts" genannt. Neben aufrichtiger Beschäftigung mit der Vergangenheit gab es viel zu lang und viel zu viel Flucht aus der Verantwortung, Schweigen über Unrecht, Verdrehen und Manipulation der Wahrheit ...

Vergessen wir nicht: Es ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, dass in Deutschland Juden mit Nichtjuden um die schwierige Vergangenheit ringen. Den wenigen, die der NS-Vernichtungsmaschinerie entkommen waren, schien vor 55 Jahren ein Bleiben im Land der Täter unvorstellbar. Wer die Kraft dazu hatte, bereitete seine Ausreise vor. Dass dennoch Juden geblieben sind, dass nach und nach weitere zurückkamen, dass in Deutschland wieder Synagogen gebaut wurden und sich jüdisches Gemeindeleben entfaltete – das ist ein großes Geschenk ...

"Von der geächteten Nation zum ver-lässlichen Partner"

Ignatz Bubis hat kurz vor seinem Tod leider eine sehr pessimistische Bilanz gezogen. Doch er hatte Gründe zur Skepsis und zur Sorge: Im vereinten Deutschland sind Ausländer ermordet, Behinderte und Obdachlose angegriffen, jüdische Friedhöfe geschändet worden. Das sind Verbrechen, die niemand leichtfertig als "Ausreißer" abtun darf.

Wenn wir eines aus der Geschichte gelernt haben, dann doch dies: Es wäre fatal, wenn sich eine schweigende Mehrheit nicht "zuständig" fühlte für das, was in unserem Land passiert. Wir alle sind aufgefordert, ausländerfeindliche, rechtsradikale und antisemitische Gewalt offen und couragiert abzuwehren. Wie fest das demokratische Bewusstsein in unserer Gesellschaft verankert ist, das erweist sich darin, wie wir mit den Menschen zusammenleben, die hier "fremd" sind, die in der Minderheit sind oder an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden.

Zum Glück gibt es in Deutschland auch viele, sehr viele, die die Ursachen von Gewalt – gerade bei Jugendlichen – aufspüren und bekämpfen helfen. Überwinden wir die falsche Faszination durch Gewalt und Gewalttäter und richten unsere Aufmerksamkeit auf diejenigen, die sich wehren, die nicht wegsehen oder gleichgültig sind, sondern die alltäglich demokratisches Engagement und Zivilcourage zeigen! Das ist die richtige, die sinnvolle Konsequenz aus Erinnern und Gedenken. Zum Glück gibt es viele engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sich in ihrem Alltag aktiv für unser Gemeinwesen engagieren. Unterstützen wir sie, stärken wir die Mehrheit derer, die sich verantwortlich fühlen für das, was in unserem Land passiert!

Vergessen wir nicht: Wir verdanken es der bindenden Kraft des Grundgesetzes, dass aus der geächteten Nation inzwischen ein geachtetes Mitglied der internationalen Völkergemeinschaft geworden ist. Daraus erwächst die Verpflichtung, dass wir uns als verlässliche Partner im vereinten Europa für eine enge Zusammenarbeit und für ein friedliches Zusammenleben der Völker einsetzen ...

Infos

Die Reden im vollen Wortlaut erhalten Sie über den Deutschen Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, Telefon 030/227-274 53, Telefax 030/227-265 06 und im Internet: www.bundestag.de

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0001/0001007
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