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Geschichten aus der Kuppel und Kapitel aus dem Leben
von Kathrin Gerlof
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Besucher des Reichtagsgebäudes beim Abstieg aus der Kuppel. |
"Sie sollten wirklich im Sommer nach Heidelberg kommen, junge Frau, was meinen Sie, wie schön es dann dort ist. Also ich gehe bei jedem Berlin-Besuch auch in den Reichstag, das gehört einfach dazu. Und die Kuppel selbstverständlich auch. Aber man müsste ein Förderband bauen für unsereinen. Ich bin 76. Das schaff ich nicht mehr, da hoch. Mich fotografieren? Da nehmen Sie mal lieber meinen Mann. Karl-Heinz! Komm doch mal her, die junge Frau hier will ein Foto, sie schreibt einen Text über die Kuppel.
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1951: Tümmerbeseitigung vor dem Reichstag. |
Ja, diese Kuppel gefällt mir wirklich gut, junge Frau. Das können Sie schreiben. Nur eben ein Förderband fehlt. So, da stehen die beiden nun. Ach, ein Polaroid bekommen wir auch? Sehen Sie, das macht doch was her, Karl-Heinz und sein Freund Manfred – einer von der Justiz und einer von der Polizei. So, junge Frau, jetzt gehen wir noch in den Dom. Was wir hier gern für Musik hören würden? Ach wissen Sie, Operette vielleicht. Die Fledermaus? Nein, die nun doch nicht. Die Inschrift am Portal? Ja natürlich kennt man die. Ist ja schon vom weiten zu sehen. Und vergessen Sie nicht: Heidelberg im Sommer lohnt sich." (Manfred Schroth und Karl-Heinz Kühne)
Im Jahre 1894 – 23 Jahre waren seit dem Beschluss, in Berlin ein Haus für das Parlament zu bauen, vergangen – fand die Schlusssteinlegung statt. Das Architrav über dem Westportal allerdings hatte noch keine Inschrift. Und das, obwohl sich Kaiser, Parlament und Reichstagsarchitekt Paul Wallot einig waren, dass da "etwas" hin musste. Wilhelm II. hätte gern "Der Deutschen Einigkeit" dort stehen gehabt und wäre damit ein halbes Jahrhundert später und dann für viele Jahrzehnte auf der Höhe der Zeit gewesen. Die Reichstagsausschmückungskommission hingegen favorisierte "Dem Deutschen Reiche" und der Architekt selbst bestand auf "Dem Deutschen Volke". Aber das war des Kaisers Sache nicht. Bis zum Jahre 1915, da ihm sein Unterstaatssekretär Wahnschaffe zur Kenntnis geben ließ, er, der Kaiser, verlöre mit jedem weiteren Kriegstag die Unterstützung des Volkes und es schiene begrüßenswert, etwas gegen diesen Treueverlust zu unternehmen. Wahnschaffes Rezept: Die Inschrift am Reichstag anbringen. Der Kaiser ließ ausrichten, einem Beschluss des Parlamentes in diese Richtung würde er sich nicht mehr widersetzen unter einer Bedingung: Die sechzig Zentimeter großen Lettern sollten aus zwei in den Freiheitskriegen von 1813 erbeuteten Kanonen gegossen werden. Und so hatte seine Exzellenz vorerst denn doch das letzte Wort.
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Manfred Schroth und Karl-Heinz Kühne. |
Er konnte damals nicht wissen und hätte es sicher nicht gut geheißen, dass eines Tages der Eingang über das Westportal ins Hohe Haus jener sein würde, durch den Tag für Tag das Volk kommt, um sich hoch oben in der neuen Kuppel des Lord Norman Foster zu verlustieren. Er konnte nicht ahnen und hätte es nicht begrüßt, dass sich in nur einem Jahr drei Millionen Menschen anschauen, wo ihr Parlament arbeitet. Dass sie ihm mal kurz aufs Dach steigen, um von oben in alle vier Himmelsrichtungen zu blicken und auf ganz unspektakuläre, aber sehr definitorische Weise in die Realität umzusetzen, was die Inschrift im Architrav über dem Westportal verheißt: Dem Deutschen Volke.
Sogar in den Wochen der Sommerpause werden es nicht weniger Menschen, die rein wollen in die Kuppel. Auch nicht an einem etwas grauen Julitag, da der Wind heftig in die Kleider fährt, wenn man den Fahrstuhl verlässt, der einen rauf bringt ins gläserne Halbrund. Auch nicht, wenn der Himmel und hin und wieder ein Regenguss verhindern, dass der Aufstieg über die Doppelhelix, die sich an der Innenwand der Kuppel entlangschlängelt, zum perfekten Vergnügen wird. Weit kann man schauen, auch ohne Blau am Horizont, aber bei Sonne stellt sich dann eben noch dieses erhabene Gefühl zu allen angenehmen Verwirrungen ein, die einen befallen, wenn man das architektonische Wunder des britischen Meisters beläuft und erobert. An so einem grauen Julitag, an dem der Siebenschläfer Schuld haben mag, kommen und gehen sie, wie an allen anderen Tagen des Jahres. Weihnachten mag Ruhe sein. Das wird man sehen.
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Janessa Schwab (rechts) und Freundin. |
Nachdem der Kaiser widerstrebend aber doch sein Plazet gegeben hatte, sollte alles schnell gehen. Den Auftrag für den Guss der siebzehn Buchstaben erhielt die Bronzegießerei Loevy. Aus einem Spandauer Depot wurde ihr die Geschützbronze noch im Herbst des Jahres 1916 geliefert. Gleichzeitig tobte ein erbitterter Krieg zwischen den Gelehrten, für welche Schrift man sich nun entscheiden möge. Anhänger der Fraktura kämpften gegen Verfechter der Antiqua. Vergebliche Liebesmüh, denn längst war der Auftrag für die Schrift an den Architekten Peter Behrens, einen der Wegbereiter der Moderne in Deutschland, vergeben worden. Behrens bediente sich der Schrift, die er für den Katalog des Deutschen Hauses auf der Weltausstellung des Jahres 1904 in St. Louis entwickelt hatte, formte sie aus und lieferte die Vorlagen an die Brüder Albert und Siegfried Loevy, die zu arbeiten begannen. 25 Jahre später wird deren Bronzegießerei "arisiert" sein, 28 Jahre später der Sohn des Albert Loevy mit dem 49. Osttransport nach Auschwitz gebracht.
Das Schicksal der Brüder Albert und Siegfried ist unbekannt.
Wer heute die Doppelhelix hinauf- und wieder hinabgestiegen ist, verweilt meist noch einige Zeit in der Kuppel, um Bilder anzuschauen, die im Kreis um den verspiegelten Kegel in der Mitte des Raumes angeordnet sind. Man wirft einen Blick ins Dachrestaurant oder schaut an diesem Julitag zu, wie das Restaurant "Käfer" kleine Imbissstände aufbaut, an denen, so war zu hören, SlowFood, zelebriert werden soll. Vielleicht gar keine schlechte Idee, denn Zeit ist da oben – unter Glas und über Stein – ganz anders bemessen. Langsam schieben sich Frauen, Männer, Kinder an der runden Bildergalerie entlang, die historische Momentaufnahmen auf einen Zeitstrahl montiert, viele Kostbarkeiten dabei, so die Fotos von Erich Salomon, der einst, bevor auch er in Auschwitz umkam, die bis dato starre Protokollfotografie revolutionierte, indem er das Protokoll strich und den Menschen ins Blickfeld rückte.
"Vielleicht kommt er ja", sagt ein Zehnjähriger zu einem kleinen Mädchen, das auf Knien unter die Doppelhelix kriecht, um einen Blick nach draußen zu werfen. "Wer denn?", fragt sie. "Na der mit den dunklen Haaren, der Schröder." "Ach, den Kanzlerchef meinst Du", sagt das Mädchen und lächelt. "Der hat doch jetzt Urlaub."
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Joana und Ursula Schümer. |
In den Vorweihnachtstagen des Jahres 1916 wurde die Aufschrift ohne große öffentliche Resonanz am Architrav des Westportals angebracht. Nur die "Spandauer Zeitung" nahm in einer Bildzeile von dem Ereignis Notiz, aber von nun an blieben die Worte, wo sie waren, überstanden den Reichstagsbrand und auch den Beschuss durch sowjetische Artillerie im Jahre 1945. Zwei Buchstaben fielen diesen Stunden, da erbittert um jeden Quadratzentimeter des Gebäudes gekämpft wurde, zum Opfer. "DEM .EUTSCHEN .OLKE" war im Mai 1945 an der Reichstagsruine zu lesen und vorerst stand Dringenderes an, als ein bronzenes D und ein bronzenes V.
Wer die Kuppel betritt, wirft zuallererst einen Blick nach oben, schätzt den Weg ab und die eigenen Kräfte ein. Die praktischen Frauen tragen festes Schuhwerk und sind gerüstet für den Aufstieg, den sich kaum jemand entgehen lassen will. Manche Männer testen das Licht erst mit, dann ohne Sonnenbrille, nehmen ihren Frauen die Handtaschen ab, die sie sich umhängen, machen noch schnell ein Beweisfoto, für das sie Frau und Kinder so postieren, dass der Effekt garantiert ist, später die Familie vor den Spiegeln und in den Spiegeln auf dem Bild zu haben.
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David Schwalm. |
1951 fanden sich vor dem Reichstag Trümmermänner ein. Es gibt ein Foto, wo zwanzig von ihnen unter dem Schriftzug "DEM .EUTSCHEN .OLKE" stehen und zuversichtlich in die Kamera schauen. Die Polizei schickte sie an jenem Tag allesamt wieder nach Hause. Arbeiten am Gemäuer war noch zu gefährlich – Einsturzgefahr allenorten. Aber schönes Wetter war.
An diesem Julitag im Jahre 2000 geschieht es doch hin und wieder, dass die Sonne kommt. Dann schauen für einen Moment alle zum Himmel. "Hey, die Sonne", sagen die Optimisten. "Aber da hinten ist der Himmel schwarz", monieren die Pessimisten. Dann wenden sie sich wieder den Bildern zu, die im Kreis angeordnet sind. "Erwin", ruft ein älterer Mann, "jetzt biste am Ende, lauf nicht noch mal um die Fotos, wir wollten doch auf den Gendarmenmarkt."
"Wir sind aus Gütersloh. Meine Frau war ja schon öfter hier im Reichstag. Ich bin das erste Mal da. Also schön ist die Kuppel, aber das schreiben Sie mal nicht, das ist ein zu triviales Wort. Lichtdurchflutet passt besser. Die Kuppel macht den Blick frei. Sie ist imposant, wirklich. Findest Du nicht auch?"
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Uta und Jens Kemper. |
So seltsam es scheinen mag, niemand weiß heute mehr genau, wann die Inschrift über dem Westportal wieder vervollständigt wurde. Es muss zwischen 1957 und 1959 geschehen sein, kurz bevor der Bau der Mauer den Reichstag endgültig und für lange an den Rand der Stadt verdammte und von der Mitte Berlins separierte. Geschichte das alles. Heute gehen die Menschen mit großer Selbstverständlichkeit ins Hohe Haus, unter der Inschrift hindurch, rauf in die Kuppel, die den Blick frei macht und Lust darauf, zu schauen und zu hören, wie es mal war.
"Juhu", trillert eine Frau und blickt nach oben, wo ihre Freundin steht und winkt. "Bring was mit, wenn Du wieder runter kommst."