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Juni 4/2003
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Und sie bewegt sich doch ...

von Warnfried Dettling

Warnfried Dettling
Warnfried Dettling.

Das Jahr 2003 wird einmal als Anfang vom Ende des politischen Reformstaus in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingehen. Zum ersten Male hat ein Bundeskanzler öffentlich und offiziell erklärt, dass der real existierende Sozialstaat eine der Ursachen ist für wirtschaftliche und soziale Fehlentwicklungen. Die Debatte nach der Regierungserklärung vom 14. März hat gezeigt: Es kommt Bewegung in die Politik.

Seit rund zehn Jahren ist „Reformstau“ auch international zum geflügelten Wort geworden, wenn vom politischen Zustand in Deutschland die Rede war. Während Nachbarländer wie Holland, Dänemark oder Schweden vor gut zwanzig Jahren damit begonnen haben, den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme angesichts von Globalisierung, Digitalisierung und demographischer Veränderung neu zu ordnen, waren sich hier zu Lande CDU/CSU wie SPD, die Regierung (ob Helmut Kohl oder Gerhard Schröder) wie die jeweilige Opposition darin einig, dass von den notwendigen Reformen lieber schweigt, wer Wahlen gewinnen will. Pessimisten zweifelten, ob die politische Klasse kreative Antworten auf den Wandel fände und sagten schon den langsamen Niedergang des einstigen Wirtschaftswunderlandes voraus. Wer Übergänge nicht zu gestalten vermag, wird auf Dauer Untergänge (etwa des einst vorbildlichen deutschen Sozialmodells) nicht verhindern.

Es ist diese Überzeugung, die in der Agenda 2010 ihren politischen Ausdruck gefunden hat. Möglich ist sie geworden, weil die Zahl der Arbeitslosen ein Rekordhoch und die Zustimmung zur SPD ein Rekordtief erreicht haben. Die Lektionen waren klar: Auf den alten Wegen lassen sich die Probleme der Zeit nicht mehr lösen und, das ist die neue, die gute Nachricht: Die Wähler belohnen nicht länger eine Politik, die sich um die notwendigen Entscheidungen drückt. Ganz im Gegenteil: Sie entziehen ihr das Vertauen. Die Gesellschaft ist reformbereiter als viele in der Politik lange gedacht haben.

Das Wort „Reformstau“ hat ja immer nur einen Teil der Wirklichkeit getroffen. In den 1990er Jahren haben zunächst Wirtschaft und Unternehmen sich einem gewaltigen Prozess der Restrukturierung unterzogen. Seit einigen Jahren gehen Städte und Gemeinden neue Wege, um mit den sozialen Folgen der Veränderungsschübe besser fertig zu werden. An den Graswurzeln der Demokratie gab und gibt es viel freiwilliges Engagement, das den Horizont einer aktiven Bürgergesellschaft näher rücken lässt. Nur in der nationalen Politik, ob in Bonn oder Berlin, schien das bleierne „Weiter so“ zur Richtlinie der Politik geworden zu sein, durchaus lange im Einverständnis mit den Menschen. Nie ist es den Deutschen ja so gut gegangen wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: So hätte es für die einen, die im Westen, eigentlich immer weitergehen und für die anderen, die im Osten, werden können. Das Erwachen in der Wirklichkeit war schmerzlich, und es brauchte seine Zeit, bis Bürgern und Politikern dämmerte, dass es ein Zurück nicht mehr gibt.

Das war eigentlich in der Geschichte der Bundesrepublik fast immer so. Reformen kamen langsam, haben dann aber einen neuen Konsens geschaffen, auf dem sich mit der Zeit alle einfinden konnten. Die Westorientierung der jungen Bundesrepublik war umstritten. Die SPD brauchte die gesamten 1950er Jahre, um Marktwirtschaft, NATO und Atlantische Allianz anzuerkennen. Die CDU/CSU bekämpfte nach 1969 die Ost- und Entspannungspolitik der Regierung Brandt. Immer waren Streit und Konflikt Übergang zu einer neuen, nach und nach von allen anerkannten Formation deutscher Politik.

Ganz in diesem Sinne werden wir nun wieder eine formative Phase deutscher Politik erleben, in der diesmal um eine neue Architektur des Sozialen für das 21. Jahrhundert gerungen wird. Es könnten Debatten werden im Parlament, an die man sich erinnern wird. Die Zeit des Stillstandes geht langsam zu Ende. Aber wohin geht die Reise, zu welchen Zielen und auf welchen Wegen, in einer Zeit des Umbruchs, voller Risiken, aber auch voller Chancen?



Warnfried Dettling, Jahrgang 1943, gehört zu den frühen Vertretern und Theoretikern der Bürgergesellschaft in der Bundesrepublik. Er hat an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland, als Leiter der Planungsgruppe in der CDU und der Grundsatzabteilung eines Bundesministeriums sowie als Autor die Entwicklung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft analysiert. Gegenwärtig arbeitet er als freier Publizist (unter anderem für „Die Zeit“), als Politikberater und als Referent zu Themen der Bürgergesellschaft, der Zukunft des Wohlfahrtsstaates sowie der Familien- und Gesellschaftspolitik.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2003/bp0304/0304003
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