Rede
des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages,
Herrn Dr. Willfried Penner,
148. Sitzung des Deutschen Bundestages
am 16. Dezember 2004
zum Jahresbericht 2003 des Wehrbeauftragten
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Aus aktuellem Anlass bemerke ich: Was Misshandlungen in der Bundeswehr angeht, so haben meine Amtsvorgänger und ich immer wieder darüber berichten müssen, und zwar klar und unmissverständlich auch anhand von Fallbeispielen. Aber auch dies ist wahr: Überwiegend hat die Bundeswehr angemessen reagiert, angefangen bei einfachen Disziplinarmaßnahmen bis hin zur Entfernung aus dem Dienst und Einschaltung von Strafverfolgungsbehörden. Gewiss wirkt dies nicht zu 100 Prozent generalpräventiv; sonst kämen solche Vorgänge nicht immer wieder vor. Aber ich kann nicht bekunden, dass sie generell verharmlost oder vertuscht würden. Das gilt im Übrigen auch für überkommene Soldatenrituale, die auch das körperliche Wohlergehen beeinträchtigen können und doch der männlichen Identitätsstiftung dienen sollen. Aus aktuellem Anlass bemerke ich weiter: Die Bundeswehr ist keine Armee der Schleifer und Drangsalierer. Die Masse der 12 000 Ausbilder gibt dienstlich keinen Anlass zu Beanstandungen.
Sie haben es nicht verdient, unter Generalverdacht gestellt und damit gesellschaftlich geächtet zu werden. Ganz im Gegenteil: Sie sind rechtstreu und versehen einen wichtigen Dienst für die Bundeswehr und die Soldaten.
Aus aktuellem Anlass darf ich aber auch Folgendes bemerken: Die Bundeswehr ist nicht irgendein öffentlicher Dienstleister. Sie hat auch mit Gewalt bzw. mit Anwendung von Gewalt und Abwendung derselben, auch durch Gewalt, zu tun. Es ist staatlich legitimierte Gewalt, die Gewalt von dritter Seite auch mithilfe der Bundeswehr und der Soldaten unterbinden soll. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung haben durch sehr konkrete Entscheidungen - insgesamt sind es über 40 - die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass die Bundeswehr und die Soldaten in solchen Fällen im Ausland eingesetzt werden können. Mittlerweile haben über 100 000 Soldaten an solchen Einsätzen teilgenommen. Die Soldaten darauf richtig vorzubereiten ist selbstverständliche Pflicht des Dienstherrn. Das geschieht auf vielfältige Weise, auch in der Form, dass Soldaten auf Gefangennahme und Verhöre eingestellt werden. Das kann und darf nicht in einer Weise begrenzt sein, dass man nur über den Ernstfall redet. Nein, der Soldat muss auf den Eventualfall vorbereitet sein, und zwar auch mit vielen sehr konkreten Elementen der Gefangenschaft. Das geschieht in einem genau festgelegten Rahmen mit Sicherungen bis hin zu begleitender ärztlicher und psychologischer Hilfe.
Wenn denn Bundesregierung und Bundestag weiter gehende Entscheidungen treffen, beispielsweise ein so genanntes robustes Mandat beschließen, dann muss die Bundeswehr ihre Soldaten darauf vorbereiten, dass sie dem robusten Mandat auch gerecht werden können. Wenn Bundesregierung und Bundestag - was bisher Gott sei Dank nicht geschehen ist - die Beteiligung an Kampfeinsätzen beispielsweise im Rahmen eines so bezeichneten asymmetrischen Kriegs beschließen, dann muss klar sein, worum es gehen kann: um Zerstören, Verwunden, Verwundetwerden, ja, auch um Sterben und Töten. Darauf müssen die Soldaten ebenfalls vorbereitet sein. Das ist dann nicht die Stunde der Rambos und der Brutalos, sondern die Stunde der Bewährung für die Tragfähigkeit der Inneren Führung. Wer dabei seine individuellen Quälgelüste auslebt, ist in der Bundeswehr fehl am Platz.
Aus aktuellem Anlass bemerke ich auch dies: In der allgemeinen Grundausbildung für Wehrpflichtige, freiwillig länger dienende Zeitsoldaten und Bewerber für die Ausbildung zu Berufssoldaten ist der Ausbildungsteil "Gefangennahme und Verhör" nicht vorgesehen; er ist untersagt. So hat es das Heeresführungskommando im Februar 2004 bestätigt; so hat es der Führungsstab der Streitkräfte verbindlich festgelegt. Wer dagegen verstößt, macht sich eines Vergehens schuldig. Wer innerhalb eines solchen Ausbildungsvorhabens darüber hinausgehende Gewalthandlungen vornimmt, wird zusätzlich zur Verantwortung gezogen. Die Einhaltung dieser Regeln muss die Dienstaufsicht sicherstellen. Sie steht nicht nur auf dem Papier, sondern ist konkret gefordert, nicht zuletzt und ganz besonders beim Schutz der Wehrpflichtigen.
Der Staat verlangt den Wehrpflichtigen eine tief greifende Pflicht ohnegleichen - gegebenenfalls bis zum Einsatz von Leib und Leben - ab. Deshalb besteht staatlicherseits auch die selbstverständliche Pflicht und Schuldigkeit, für einen umfassenden Schutz Sorge zu tragen. Wenn es denn bei der Dienstaufsicht hapert, dann muss das in Ordnung gebracht werden, und zwar umgehend.
Aus aktuellem Anlass bemerke ich zusätzlich: Es ist zutreffend, dass das Echo betroffener Soldaten auf Coesfeld unterschiedlich ausgefallen ist. War es für die einen "cool" oder ein "Highlight", wurde es von anderen erlitten, von wieder anderen als zum militärischen Betrieb gehörend akzeptiert und von weiteren Soldaten unter gruppendynamischen Zwängen hingenommen; so wird jedenfalls berichtet. Das wird genau ermittelt werden müssen, und zwar von Staatsanwaltschaften genauso wie von der Bundeswehr selbst. Ich selbst kann mitteilen, dass Eingaben Betroffener zu diesem Thema eher karg sind. Die Zurückhaltung von Wehrpflichtigen bei Eingaben ist im Übrigen auffällig. Sie machen nur unterproportional davon Gebrauch. In Zahlen heißt das für 2004: Knapp 19 Prozent beträgt der Anteil der Grundwehrdienstleistenden an der durchschnittlichen Truppenstärke. Ihr Anteil am Eingabeaufkommen liegt hingegen bei knapp 7 Prozent, und dies bei proportional ständig steigenden Zahlen der Eingaben insgesamt. Außerdem bemerke ich aus aktuellem Anlass: Die beschuldigten Soldaten haben - wie auch andere - einen Anspruch auf ein faires Verfahren. Mehrere Soldaten haben mich auch insoweit um Unterstützung gebeten. Dem komme ich selbstverständlich nach; auch das gehört zu meinen gesetzlichen Aufgaben. Vorverurteilungen helfen der Sache nicht, wohl aber zügige Verfahren nach den Maßstäben des Rechts. Auch darauf werde ich ein Auge haben.
Abweichend vom Vorherigen, aber auch aus aktuellem Anlass darf ich bemerken: Ausländerpolitik berührt ebenfalls die Bundeswehr. Nicht nur deutschstämmige Frauen und Männer leisten soldatischen Dienst in der Bundeswehr. Es heißt, dass die Bundeswehr mittlerweile circa 80 unterschiedliche Ethnien umfasst. Gerade die Soldatinnen und Soldaten mit fremder Abkunft können mit Fug und Recht erwarten, dass die Ausländerpolitik mit ihren Müttern und Vätern anständig verfährt.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich muss darauf aufmerksam machen dürfen, dass die Bundeswehr und die Soldaten nach 15 Jahren stetiger tief greifender Veränderungen, die noch mindestens weitere fünf Jahre währen sollen, Zeit zum Atemholen brauchen. Es war und ist eine riesige Kraftanstrengung, die Bundeswehr zur Einsatzarmee umzubauen, den Umfang der Bundeswehr von 520 000 Soldaten im Jahr 1990 auf demnächst 250 000 schrittweise zu reduzieren, die Anzahl der Standorte nach und nach auf 405 zu verkleinern, die Voraussetzungen für den uneingeschränkten Zugang für Frauen in die Bundeswehr zu schaffen usw. usw. Zusätzliche grundlegende Veränderungen werden zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. Der diesbezügliche Leitbegriff Transformation wird nicht als Verheißung verstanden. Dieser Begriff kann vielmehr zum Unwort in der Bundeswehr werden, wie zuvor die Begriffe "Kopfpauschale" oder "Hartz IV" auf anderen Politikfeldern. Bei allem Verständnis gerade der Soldaten für Veränderungen: Innehalten braucht nicht immer ein Fehler zu sein. Anders ausgedrückt, man darf das stolze Selbstverständnis der Bundeswehr, wonach es keine Probleme, sondern nur Herausforderungen gibt, nicht überstrapazieren.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundeswehr, so wird vonseiten der politischen und militärischen Führung mehr oder minder uneingeschränkt betont, sei auch zu weiteren Einsätzen in der Lage, ohne dass die bisherigen Engagements reduziert werden müssten. Das hört sich in der Truppe gelegentlich anders an. Immer wieder und verstärkt weisen Soldaten darauf hin, dass die Möglichkeiten der Spezialisten, namentlich der Fernmelder, erschöpft seien, dass sachgerechte Ausbildung im Inland Not leide, weil gutes Material im Einsatz benötigt werde, und dass viele Ausbilder ebenfalls wegen Einsatzverwendung ersetzt werden müssten. Im Interesse der Soldaten ist zu hoffen, dass die unterschiedlichen Wahrnehmungen derselben Sache durch die Truppe einerseits und die militärische und politische Führung andererseits nicht "Weichspülprozessen" zuzuschreiben sind, die umso mehr wirken, je weiter die Realität entfernt ist. Es wäre unverantwortlich, sich für Einsätze zu entscheiden, wenn die Fähigkeiten dafür nur mit sprachlichen Kunstgriffen festgestellt werden können.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, Personalangelegenheiten machen seit Jahren einen wichtigen Anteil an den Eingaben aus. Dabei geht es in jüngster Zeit namentlich um sich mehrende finanzielle Einbußen bei ständig zunehmenden Dienstbelastungen. Lebens- und dienstältere Offiziere mit Portepee sind mit ihrer persönlichen Beförderungssituation unzufrieden. Beim Blick in den Spiegel stellen sie sich selbst die Frage - auch ihre Angehörigen stellen ihnen diese Fra-ge -: Was hast du eigentlich verbrochen, dass die Soldaten, die du ausgebildet hast, in derselben Laufbahn an dir vorbeigezogen sind? Gewiss, das Attraktivitätsprogramm hat gegriffen. Dabei sind vielfach diejenigen übersehen worden, die mit ihrer militärischen Erfahrung und ihren unverzichtbaren Qualitäten in der Menschenführung das Rückgrat der Armee ausmachen: die gestandenen Ober- und Hauptfeldwebel. Immer wieder sind auch Klagen über organisatorische und inhaltliche Mängel bei den Maßnahmen der zivilen Aus- und Weiterbildung zu vernehmen. Immer wieder wird die Undurchlässigkeit von Laufbahnen beklagt. Die Truppe wünscht sich erweiterte Möglichkeiten der Personalgewinnung und der Stellenbesetzungshoheit "aus sich heraus". Die Zentren für Nachwuchsgewinnung werden teilweise herb kritisiert. Ich habe vier von fünf dieser Einrichtungen besucht und mich davon überzeugen können, dass dort gute Arbeit geleistet wird. Dennoch: Die Truppe muss sich darauf verlassen können, dass im Hinblick auf den Alltag in der Bundeswehr weder Assoziationen mit "Marlboro-Romantik" noch solche mit Aufenthalten im "Streichelzoo" geweckt werden dürfen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, Schlussfolgerungen aus den von mir mit meinem Jahresbericht 2003 vorgelegten Befunden zu ziehen ist Sache des Auftraggebers, nämlich des Parlaments. Für den Fall allerdings, dass Sie den Beauftragten nach seiner Einschätzung fragen, gestatten Sie mir noch folgende Bemerkungen: Die von mir festgestellten Mängel werden von der politischen Führung der Bundeswehr weitestgehend bestätigt. Die Monita werden geteilt, Abhilfe wird jedoch nicht überall oder nur in Ansätzen geleistet. Bei dieser Reaktion darf es nicht bleiben. Die Fragen aus der Truppe danach, wann denn nun endlich die allenthalben bekannten Mängel, etwa bei der Infrastruktur, beim Material, beim Beförderungssystem für die älteren Feldwebel, abgestellt werden, werden drängender. Einen Dissens in der Bewertung sehe ich beim Thema Auslandseinsatz/Material. Ich habe kritisiert, dass Soldaten ohne absolvierte Ausbildung an ihren Spezialfahrzeugen - das meint: sondergeschützte Kfz von Personenschutzkommandos - in den Einsatz geschickt werden. Das Ministerium hält dies bei der Feldjägertruppe und dem Wolf für hinnehmbar. Ich bleibe dabei: Vorbereitende Einsatzausbildung muss im Inland stattfinden und darf nicht erst im Einsatzland beginnen. Ein Wort zu den aktuellen Eingabenzahlen. Stand von gestern: 5 890 Eingaben. Das sind zehn mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres. Damit wird bis zum Jahresende ein ähnlich hohes Niveau wie im Vorjahr erreicht werden, insbesondere gemessen an einer sinkenden Truppenstärke auch in diesem Jahr. Der Staatsbürger in Uniform nimmt seine Petitionsinstanz, den Wehrbeauftragten, knapp 90-mal so häufig in Anspruch wie der Staatsbürger ohne Uniform den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages. Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich bedanke mich für die Unterstützung durch den Verteidigungsausschuss, deren ich jederzeit sicher sein konnte. Ich bedanke mich für die durchgängig gute Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Verteidigung, was gelegentliche Unzulänglichkeiten bei den Stellungnahmen zu meinen Überprüfungsersuchen nicht umschließt. Ich wünsche besonders den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz von Herzen, dass sie wohlbehalten nach Hause zurückkehren. Schönen Dank für die Geduld.