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19.12.2000
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Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Eröffnung der "Aktion Mensch"- Ausstellung "Der (im-)perfekte Mensch" am 19.12.2000 in Dresden

Vor einigen Wochen sendete das Fernsehen ein Portrait des behinderten Sängers Thomas Quasthoff. Darin sagte einer seiner Kollegen: "Wenn man ihn sieht, glaubt man, er hätte Grenzen. Wenn er dann singt, merkt man, es gibt keine." Dieser Satz berührt. Für Quasthoffs Kollegen war es offenbar eine überraschende Erfahrung, dass ein Mensch mit einem so unvollkommenen Körper zu so vollkommenem Gesang fähig ist. Bei aller Bewunderung, die sich darin ausdrückt, zeigt dieser Satz doch auch, wie willkürlich unsere Vorstellungen von Begrenztheit, Beschränkung, Behinderung sind.

Allerdings kommen wir nur selten in die Verlegenheit, unsere Vorstellungen überprüfen oder gar zurechtrücken zu müssen. Denn Behinderte sind in unserer Gesellschaft - immer noch - nicht sehr präsent. Nur wenige haben sich jemals mit den Erfahrungen und Problemen behinderter Menschen beschäftigt - obwohl fast jeder zehnte behindert ist. Menschen mit Behinderung stoßen immer wieder auf Barrieren und Hindernisse, auf Vorurteile und Vorbehalte, auf Desinteresse und Ignoranz. Mit dieser Ausstellung will die Aktion Mensch dazu beitragen, das zu ändern. Sie wendet sich gegen die ungute Tradition, Behinderung als Tabu zu behandeln, und gegen die gefährliche Tendenz, als "andersartig" empfundene Menschen vom öffentlichen Leben auszuschließen - ganz gleich, ob das bewusst oder unbewusst geschieht. Ich gebe zu: Zunächst erschien es mir als ein Wagnis, das ausgerechnet mit einer Ausstellung über behinderte Menschen zu tun. Doch dies ist eine Ausstellung mit behinderten Menschen über unsere Gesellschaft geworden: Sie stellt unsere Ideen und Ideale vom vermeintlich perfekten Menschen aus, sie hält uns vor Augen, wie stark das Miteinander in unserer Gesellschaft von diesen Idealen bestimmt ist, und am Ende lässt sie uns - hoffentlich - wünschen, dass wir die Chimäre vom "perfekten" Menschen zum Museumsstück erklären.

Der Traum vom perfekten Menschen ist wohl so alt wie die Menschheit. Dank Wissenschaft und Technik wähnen wir uns dem Ziel immer näher, Krankheit, Leid und alle menschlichen Schwächen zu überwinden und den "Menschen nach Maß" zu schaffen. Unsere Ideale von Schönheit oder Tugend wechseln zwar - aber von der Antike bis heute treibt Juvenals Wort vom "gesunden Geist in einem gesunden Körper" sein Unwesen. Von jeher hatten die Menschen das Bedürfnis, ihre Mängel auszugleichen und ihre Grenzen zu überwinden. Das mag ja gut sein, hat aber eine Rückseite. Von jeher haben sie behinderten Menschen, denen sichtbare und spürbare Grenzen gesetzt sind, Integration und Anerkennung verweigert. Ganz gleich, ob Behinderte als besondere Wesen verehrt oder als Kreaturen versteckt wurden - sie waren immer außen vor, sie waren immer "die anderen". Nicht einmal die Aufklärung brachte die Befreiung von der Stigmatisierung. Sie brachte statt der irrationalen nunmehr rationale Begründungen für die qualitative Bewertung menschlichen Lebens und die Ausgrenzung Behinderter. Ein scheinbar empirisch begründeter Normalitätsbegriff entstand, der seitdem in den Dienst verschiedener Ideen und Ideologien gestellt wurde - mit den schlimmsten Folgen. Im nationalsozialistischen Deutschland war die Vision vom idealen Menschen ein Grundstein für eine Politik der sogenannten "Rassenhygiene", die nichts anderes bedeutete als die Vernichtung von Menschenleben, die als "minderwertig" oder als "unwert" abgestempelt wurden.

Trotz dieser schrecklichen Erfahrungen hat sich auch im Deutschland der Nachkriegszeit kein offener, unbefangener, gleichberechtigter Umgang mit Behinderten entwickelt - in der DDR genau so wenig wie in der Bundesrepublik. In Sondereinrichtungen und Sonderschulen lebten behinderte Menschen von der Gesellschaft eher getrennt, nicht immer bemerkt, eher unbeachtet. Erst in den sechziger Jahren hat das Schicksal der Contergan-Kinder in der Bundesrepublik eine breite Öffentlichkeit alarmiert und sensibilisiert. Mit einem Schlag wurde offenbar, was jeder weiß und keiner wahrhaben will: Behinderung ist ein Thema, das jeden angeht.

In den sechziger Jahren entstand auch die "Aktion Sorgenkind", eine der ersten Initiativen, die seitdem 33.000 Projekte mit rund drei Milliarden Mark gefördert hat. Damals war es ein großer Fortschritt, dass privates Engagement für Menschen mit Behinderung an die Seite staatlicher Fürsorge trat. Auch wenn aus heutiger Perspektive der Abschied vom Begriff "Sorgenkind" überfällig war - diese Ausstellung erinnert daran, dass vor nicht allzu langer Zeit die Belange von Menschen mit Behinderung im gesellschaftlichen Leben eine sehr geringe Rolle spielten. So wurde - um nur ein Beispiel zu nennen - erst 1980 der erste Parkplatz für Behinderte eingerichtet. Es war vor allem die "Krüppelbewegung", die ein Bewusstsein dafür geschaffen hat, dass die Gesellschaft von Behinderten nicht nur weitestmögliche Anpassung verlangen kann, sondern auch ihrerseits in der Pflicht steht, die Belange behinderter Menschen zu berücksichtigen.

Dennoch ist erst 1994 der Artikel 3, Absatz 3 unseres Grundgesetzes um den Satz ergänzt worden: "Kein Mensch darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden". Trotz vieler Fortschritte sind wir von einer vollen Umsetzung in die Realität noch weit entfernt. Vor zwei Wochen hat der "Welttag der Behinderten" darauf aufmerksam gemacht. Der Deutsche Behindertenrat hat in einer symbolträchtigen Aktion zwölf Thesen zur Gleichberechtigung behinderter Menschen an der Berliner Nikolaikirche angeschlagen und daran erinnert, dass Gleichstellungsgesetze im Bund und in den Ländern noch ausstehen. Berlin ist das erste Land, das im vergangenen Jahr ein Gleichberechtigungsgesetz verabschiedet hat. Dennoch sind auch in Berlin bisher nur 20 Prozent der Gebäude mit Publikumsverkehr rollstuhlfahrergerecht ausgebaut, 90 Prozent der medizinischen Einrichtungen und sogar 97 Prozent der Restaurants und Kneipen bleiben für Rollstuhlfahrer ohne fremde Hilfe unerreichbar. Noch immer sind Initiativen und Kampagnen notwendig, um deutlich zu machen: "Man ist nicht behindert, man wird behindert".

Zu Recht fordert und fördert Arbeitsminister Riester einen "Prozess der Enthinderung" auf dem Arbeitsmarkt. Menschen mit Behinderung werden inzwischen zwar in über 170 Berufen ausgebildet, aber ihre Arbeitslosenquote liegt mit 17,8 Prozent weit über dem Durchschnitt. Daran hat nicht einmal die gesetzliche Verpflichtung etwas geändert: Noch immer zahlen viele Arbeitgeber lieber eine Ausgleichsabgabe als Behinderte einzustellen. Die Vorurteile gegen behinderte Menschen sitzen tief. Meist bekommen sie erst gar keine Chance, ihre Leistungsfähigkeit zu beweisen und zu zeigen, dass sich Investitionen in einen behindertengerechten Arbeitsplatz lohnen. Ich hoffe deshalb, dass das neue Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die erwünschten Erfolge bringt.

Die Vorurteile vieler Arbeitgeber sind symptomatisch. In unserer Gesellschaft bemisst sich der Wert eines Menschen offensichtlich vor allem an seiner Rolle als Produzent und Konsument. Wer als Arbeitskraft nicht reibungslos funktioniert, wer den steigenden Anforderungen der Leistungsgesellschaft nicht gerecht wird, wer bei dem ständig wachsenden Tempo nicht mithalten kann, der gerät schnell ins Abseits. Eine behinderte Mutter hat das so ausgedrückt: "Die Gesellschaft verlangt von Behinderten eine riesige Anpassungsleistung. Du bist erst anerkannt, wenn Du alles so schaffst, als hättest Du kein Handicap." Das dürfte eher noch untertrieben sein. Wahrscheinlich müssen behinderte Menschen - wie Thomas Quasthoff - in ihrem Metier sogar besser sein als die anderen, um anerkannt und erfolgreich zu sein, um ihre Behinderung "vergessen zu machen", wie es zuweilen heißt.

Der Normierungsdruck steigt. Karriere und familiäre Geborgenheit, ein schlanker, durchtrainierter Körper und der Genuss von Sinnesfreuden - tagtäglich suggerieren uns die Medien, dass wir auf nichts davon verzichten können. Die wenigen Schönen, Starken, Erfolgreichen geben ein Ideal vor, von dem sich die Mehrheit antreiben lässt. Behinderte Menschen sind einer wachsenden Ungeduld, ja Unduldsamkeit ausgesetzt. Ein alarmierendes Zeichen dafür war es, dass in Flensburg und in Köln die Justiz den Anblick und die Äußerungen behinderter Menschen für unzumutbar erklärt hat. Solche Urteile nähren ein Klima der Intoleranz, das auch rechtsradikale Schläger ermutigt, statt sie in die Schranken zu weisen. Solche Urteile zeigen ein Ausmaß an Verantwortungslosigkeit, das die Frage nach den Werten unserer säkularisierten, pluralistischen Gesellschaft aufwirft.

"Raus mit der Sprache", fordert diese Ausstellung. Es ist eine Ermutigung an behinderte Menschen, sich zu Wort zu melden, es ist aber auch eine Aufforderung an alle anderen, Position zu beziehen: Wer bestimmt eigentlich das ideale Maß des Menschen, wer setzt die Norm? Was heißt überhaupt perfekt, was ist defekt? Was ist dem Menschen gemäß, was ist human? Wie weit wollen wir das Streben nach Effizienz und Perfektion noch treiben? Es ist wichtig, notwendig, drängend, solche Fragen zu stellen, damit nicht - wie schon in den Feuilletons geschehen - das Zeitalter des Humanismus für beendet erklärt wird.

Die Diskussion über Fortschritte in der Humangenetik und die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik geben Anlass zur Sorge und zur Wachsamkeit. Seit das Abweichende, das Andere zum vermeidbaren Risiko geworden zu sein scheint, ist auch wieder die Rede von Wert und Unwert behinderten Lebens. Jede werdende Mutter entscheidet selbst, ob sie ihr Kind bekommen möchte oder nicht. Ich frage mich aber, wie es um eine Gesellschaft bestellt ist, in der nach einer Umfrage ein Fünftel aller Frauen eine Abtreibung erwägen würden, wenn sich herausstellte, dass ihr ungeborenes Kind später zu Übergewicht neigen wird. Statt froher Erwartung auf das neue Leben die Angst vor dem imperfekten Menschen - wie weit werden die Ansprüche an die "Wunschkinder" dieser Gesellschaft noch steigen? Muss eine Gesellschaft alles wollen, was technisch möglich ist? Dürfen wir - noch einmal, nur mit anderen Mitteln - zulassen, dass Selektion der Starken an die Stelle von Fürsorge für die Schwachen tritt? Auch diese Ausstellung führt uns vor Augen, wie schmal der Grat zwischen Wunschtraum und Alptraum ist.

Als Christenmensch hoffe ich, dass die Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben nicht dem Wunsch nach Perfektion geopfert wird. Wir wissen aus bitterer Erfahrung, dass Perfektionswahn auch in die Barbarei führen kann. Zur Zivilisation gehören deshalb nicht nur Leistung und Technik, sondern auch Menschlichkeit und Toleranz. Der Mensch - das wird bei der Konstruktion des perfekten Menschen meist vergessen - ist auch und nicht zuletzt ein soziales Wesen. Diese Ausstellung macht deutlich, dass sich die Zivilisiertheit einer Gesellschaft im Umgang miteinander zeigt, auch und gerade in der Solidarität mit behinderten, gebrechlichen, schwachen Menschen. Solidarität ist etwas anderes als christliche Barmherzigkeit. Eine solidarische Gesellschaft gibt den Schwächeren keine Almosen, sondern einen Anspruch auf Zuwendung und Rücksicht, auf Unterstützung und Hilfe. In einer solidarischen Gesellschaft darf niemand in seiner Würde verletzt werden, nur weil er auf Hilfe angewiesen ist. Denn der Mensch ist nicht erst Mensch, wenn er tatsächlich alles kann, was Menschen möglich ist.

In unserer Gesellschaft gibt es einen eher zunehmenden Hang zu bloßem Egoismus, Rationalismus und Ökonomismus. Ich sehe darin eine der Ursachen dafür, dass die Bereitschaft, auf behinderte Menschen zuzugehen, nicht etwa größer wird, sondern seit einigen Jahren wieder zurückzugehen scheint. Solchen Tendenzen zu einer neuerlichen Dezivilisierung müssen wir entschieden entgegentreten und die Kultur der Solidarität wieder stärken. Ich selber war vier Jahre alt, als meine Mutter an Multipler Sklerose erkrankte. Für mich war es eine selbstverständliche Pflicht, ihr zu helfen und im Haushalt die Aufgaben zu übernehmen, die ihr nach und nach zu viel wurden. Eine solche Erfahrung prägt das Leben. Um so nachdenklicher machen mich Umfrageergebnisse aus den USA, die vielleicht in Deutschland nicht sehr viel anders aussähen: 75 Prozent der Jugendlichen haben nie ein Baby auf dem Arm getragen, 81 Prozent nie einen alten Menschen getröstet und 85 Prozent nie einen Kranken gepflegt. Offenbar wächst eine Generation heran, die den Wert von Menschlichkeit und Solidarität noch nicht praktisch erfahren hat. Zum Menschsein gehören aber Angewiesenheit und Abhängigkeit, Begrenztheit und Fehlerhaftigkeit, Verletzbarkeit und Endlichkeit. Offenbar müssen wir immer wieder neu lernen, uns selbst und andere als "Nichtganze" zu akzeptieren.

Ich bin froh, dass diese Ausstellung nach dem Menschenbild fragt, das unserem gesellschaftlichen Miteinander zugrunde liegt. Sie liefert keine fertigen Antworten, sondern unterschiedliche Sichtweisen und Visionen über die Zukunft dieser Gesellschaft. Eine dieser Visionen ist eine freie, pluralistische und tolerante Gesellschaft, in der es auch "normal" ist, dass zehn Prozent der Menschen mit Behinderung leben. Noch sind wir davon weit entfernt, dies für normal zu halten. Noch leben wir in einer Gesellschaft, die nur selten ihre Vorstellungen von menschlicher Perfektion und Imperfektion in Frage stellt und darüber reflektiert.

Dies ist eine Ausstellung, die nicht anklagt und nichts aufdrängt. Sie bietet den Besuchern ungewohnte Perspektiven und faszinierende Erfahrungen. Behinderte Menschen erscheinen hier als "großes Fragezeichen" über dem eigenen Kopf, wie es einer von ihnen, der Schriftsteller Bernd Kebelmann, für diese Ausstellung formuliert hat. Ich bin sicher: Wer sich darauf einlässt, der wird erkennen, dass Neugier und Offenheit für das "Andere" eine Kultur der Akzeptanz und der Toleranz fördern. In diesem Sinne hoffe ich, dass möglichst viele - Behinderte und Nichtbehinderte - die Chance wahrnehmen, die in dieser Ausstellung liegt: die Chance für ein gelassenes Ja zum imperfekten Menschen.

Quelle: http://www.bundestag.de/bic/presse/2000/pz_001219
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