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Juni 01/1998
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Bundesadler

Die "fette Henne" wird 45

Bonner Bundesadler auch Modell für Wappenvogel im Reichstag

Sein bekanntestes Werk haben die Menschen auf Fotos, im Fernsehen und in der Zeitung schon so oft gesehen, daß sie es gar nicht mehr als das Werk eines Künstlers identifizieren. Hoch oben an der Stirnwand des Plenarsaals des Deutschen Bundestages prangt der Bundestagsadler von Ludwig Gies. In seinem Schatten haben sich berühmte Parlamentarier der Bundesrepublik Deutschland spannende Rededuelle geliefert: Herbert Wehner und Konrad Adenauer, Willy Brandt und Rainer Barzel, Helmut Schmidt und Helmut Kohl.
Aus Gips schuf Gies 1953 den Bundesadler, an den sich Generationen von Abgeordneten und Fernsehzuschauern gewöhnt haben und der nicht nur im Volksmund wegen seiner gedrungenen Form liebevoll-spöttisch "fette Henne" genannt wird. Heute fällt es schwer, sich von dem gewohnten Bild zu lösen. Nach Abriß des alten Plenarsaales schuf Günter Behnisch, Architekt des neuen Bundestagsplenarsaals in Bonn, eine überarbeitete Version des Giesíschen Adlers, die sich optisch nur unwesentlich vom Original unterscheidet.
Ende Mai beschloß der Ältestenrat des Bundestages auf Empfehlung der Baukommission, daß das Bonner Symbol aus Gründen der Kontinuität und des Wiedererkennens auch den Plenarsaal im Berliner Reichstag " ab 1999 Heimat des Deutschen Bundestages " zieren soll. Der Architekt des Reichstagsumbaus Sir Norman Foster erhielt den Auftrag, den alten Plenaradler etwas "straffer" zu gestalten. Die Parlamentarier folgten damit einer Empfehlung des Architekten, der vorgeschlagen hatte, am bisherigen Adler-Modell festzuhalten. Im Juni soll Foster dem Bundestag einen Entwurf vorlegen. Erstmals muß dabei auch der Rücken des Wappenvogels gestaltet werden, denn der Adler wird im Reichstag vor einer Glaswand der Ostseite des Gebäudes schweben.
Daß der Bundesadler des alten Plenarsaales später seine bekannteste Arbeit werden sollte, ahnte Gies sicher nicht. Denn eines seiner künstlerisch größten Werke schuf er schon 1921. Es war das große, sich krümmende Holzkruzifix für den Lübecker Dom, das die Nazis als entartet diffamierten und der 1944 in Berlin verbrannte. Gies zählt mit seinen Plastiken, Plaketten und Bildern zu den wichtigsten Expressionisten in Deutschland. Doch sein künstlerisches Schaffen galt den Nazis als "undeutsch".
Seine modernen Arbeiten mit großer Ausdruckskraft, die abstrahierten und den Menschen auch im Leid zeigten, wurden im Dritten Reich der Lächerlichkeit preisgegeben. Sie gehörten wie andere große Werke deutscher Kultur zu den verspotteten Werken der Münchener Ausstellung "Entartete Kunst" 1937. Im gleichen Jahr verlor Gies sein Lehramt an der Berliner Akademie der Bildenden Künste und wurde aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen.
Zu Giesí wichtigen Plastiken und Bildern gehören neben dem Lübecker Kruzifix der Silber- und Goldkranz in der Schinkelschen Wache Unter den Linden (1927), sein Lamm aus Porzellan für die Berliner Porzellan-Manufaktur (1928), die Rheinlandschaft mit Schleppkahn für den Duisburger Hauptbahnhof (1935), die später übermalt wurde, sein eindrucksvoller, leidender Christuskopf in Lindenholz (1936), der Adler in der alten Reichskanzlei, den Hitler als zu wenig nordisch-heraldisch entfernen ließ, der Adler in der ehemaligen Reichsbank von Berlin, seine Geigerin von 1947, das Grabmal für Hans Böckler auf dem Kölner Melatenfriedhof (1951), der Harfenspieler für das Kölner WDR-Funkhaus (1952), der Erlkönig (1952) und das Engelfenster für die Kolumba-Kapelle in Köln (1954). Giesí künstlerische Vielfalt zeigt sich auch in seinen Baukeramiken für das Düsseldorfer Phönixhaus und die Gutehoffnungshütte in Oberhausen, in den Stuckreliefs für das Haus der Metallgewerkschaft in Berlin, der geschnitzten Orgelwand für die Aula der Bonner Universität und den sieben Meter hohen Genien im Atrium des Essener Folkwang-Museums.
In diesen Werken wird auch der thematische Dreiklang Giesí deutlich. Dem Sakralen widmete sich Gies ebenso wie dem Alltag der arbeitenden Menschen und den feierlich-anrührenden Motiven, die sich in seinen Medaillen und Kränzen widerspiegeln. Eine seiner Medaillen, die Heine-Gedächtnis-Medaille der Stadt Düsseldorf in Gold, sollte 1960 zu hohen politischen Ehren kommen. Sie wurde keinem geringeren als Bundespräsident Theodor Heuss bei der Verleihung der Ehrenbürgerrechte überreicht. Drei Jahre zuvor hatte übrigens Heuss selbst Ludwig Gies mit einer hohen Auszeichnung bedacht: mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1998/bp9801/9801012
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