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Juni 01/1998
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Urteil hat negative Folgen auf Integration

(fa) In keinem Bundesland gibt es eine Ausgewogenheit zwischen Angebot und Nachfrage bei der Integration von behinderten Kindern in Unterricht und Erziehung. Dies stellte Detlef Eckert, Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland, in seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung der Kinderkommission "Das behinderte Kind in der Gesellschaft" am 25. Mai fest. In allen Ländern übersteige die Anzahl der Anträge von Eltern auf gemeinsamen Unterricht bei weitem die Zahl ausgewiesener Plätze in allgemeinen Schulen. Die Zahl der behinderten Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf, die als "Integrationskinder" eine Regelschule besuchen, werde zur Zeit bundesweit nur auf rund 15.000 geschätzt. Das sind laut Eckert gerade mal vier Prozent aller schulpflichtigen behinderten Kinder und Jugendlichen. Nach Ansicht des Verbandes müssen Eltern behinderter Kinder jetzt sogar befürchten, daß auf der Grundlage eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts auch die geringen Fortschritte in der integrativen Beschulung wieder rückgängig gemacht werden. Die Richter hatten entschieden, eine schulische Integration könne Kindern verwehrt werden, wenn die notwendigen Mittel für die behinderungsspezifische Förderung von der Schulverwaltung nicht zur Verfügung gestellt werden könne.
Diese Entscheidung der Karlsruher Verfassungsrichter läßt sich, so Gertrud Bicanski-Schilgen von der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung, auf die einfache Formel "Integration ja, aber..." reduzieren. Praktische Auswirkungen des Urteils seien dahingehend zu vermuten, daß insbesondere Eltern von schwerer behinderten Kindern von einem Antrag auf gemeinsamen Unterricht Abstand nehmen. Für ihr Kind sei im Vergleich zu weniger deutlich behinderten Kindern ein relativ hoher Ressourcenbedarf gegeben, der von den Schulverwaltungen eher zurückgewiesen werde und nach dem vorliegendem Verfassungsurteil auch nur schwer einklagbar erscheint. Bei den Eltern trete ein "Entmutigungseffekt" ein. Das Urteil bestätige, so Professor Ulrich Oskamp von der Universität Köln, die politische Inkonsequenz einer getarnten Integration. Dabei werde die Leitidee einer verträglicheren Umgangsweise mit behinderten Menschen als permanenter Erziehungsprozeß über das Grundschulalter negiert. Solche Brüche in der Schulverfassung seien im integrationsfreundlichen Ausland nicht auffindbar.
Nach Friedmann Schulze von der Aktion Sonnenschein e.V. wirkt sich das Urteil des Verfassungsgerichts dort, wo keine Integrationsbereitschaft besteht, so aus, daß Integration nicht stattfindet. Allerdings bedarf Integration, so Schulze, nicht nur eines guten Willens, sondern setzt auch Wissen voraus, das gegenwärtig seitens der Schulen nicht vorausgesetzt werden kann. Die daraus resultierenden Ängste stünden der Umsetzung des Integrationsgedankens häufig im Wege. Integrationsversuche auf rein altruistischer Basis, die aufgrund absehbarer Überforderung der Beteiligten gescheitert seien, verstärkten Angst und Widerstände gegenüber "solchen Experimenten". Für Professor Hans G. Schlack, Ärztlicher Leiter des Rheinischen Kinderneurologischen Zentrums in Bonn, ist es eine Auswirkung der Einsparungen im öffentlichen Haushalt, daß behinderte Kinder in Regeleinrichtungen aufgenommen werden, ohne das notwendige Maß an Sonderförderungen zu bekommen. Der Integrationsbegriff verkomme zum Etikettenschwindel, wenn Sparmaßnahmen als sozialpolitischer Fortschritt, nämlich als Integration, ausgegeben würden. In Wirklichkeit verschlechterten sich die Unterrichtsbedingungen gegenüber den Sonderschuleinrichtungen. Integrative Pädagogik erfordere, so Schlack, ein großes Maß an individueller Förderung und sei nicht mit eingeschränktem Personalaufwand zu leisten. Eine Überforderung von Regeleinrichtungen durch Integrationsaufgaben lasse sowohl behinderte als auch nichtbehinderte Kinder zu kurz kommen.
Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1998/bp9801/9801036c
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