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Dezember 05/1998
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Mythos und Realität des Lobbyismus im Parlament

Dr. Martin Sebaldt
von Dr. Martin Sebaldt

Als Theodor Eschenburg 1955 seinen berühmt gewordenen Essay "Herrschaft der Verbände?" veröffentlichte, bezweckte er damit die Formulierung eines "Verbandsknigges". "Mir ging es hier nicht um die Existenz der Verbände, sondern nur um die Fragwürdigkeit ihrer Verhaltensweise", wird er über 40 Jahre später dazu in seiner Folgeschrift formulieren, die nun "Das Jahrhundert der Verbände" tituliert ist.  Auch wenn Eschenburg zu Unrecht zum bloßen Verbandskritiker hochstilisiert wird ? er monierte nur bestimmte Auswüchse organisierter Interessenvertretung ?  wurde er ungewollt doch zum Katalysator einer bundesdeutschen Verbändephobie, welche meist auf Vorurteilen gegenüber Interessengruppen beruht, nicht aber auf empirischer Einsicht.

Der politischen Arbeit deutscher Interessengruppen haftet folglich immer noch an, daß sie abseits des Rampenlichts ihren Einfluß primär durch die politische Hintertür zur Geltung bringen. Demokratisch nicht legitimierte Verbandsherrschaft sei so vorprogrammiert. Vielfältige Kritik richtet sich in diesem Zusammenhang auch gegen die Parlamentarier, welche aufgrund ihrer legitimen Suche nach Wählerstimmen dem Werben einflußreicher Interessenorganisationen besonders aufgeschlossen seien, sich nur zu gerne instrumentalisieren ließen: Die Beziehung zwischen Abgeordneten und Verbänden wird so zum politischen Kuhhandel hochstilisiert, in welchem Interessengruppen gegen die Zusicherung von Wahlstimmen die Bereitschaft zur verbandsfreundlichen Arbeit im Parlament erkaufen.

Wo endet der Mythos und wo beginnt die Realität? Werden diese Charakterisierungen der parlamentarischen Praxis gerecht oder produzieren sie ein Zerrbild, welches eher Produkt populistischer Parteien- und Verbändekritik denn wissenschaftlicher Analyse ist? Der Blick auf die nackten Zahlen mag zunächst verunsichern: So belegt das ausgezeichnete Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages von Peter Schindler minutiös, daß etwa in der 12. Wahlperiode nicht weniger als 39,4 % aller Abgeordneten ehrenamtlich oder hauptberuflich in einem Verband Funktionen ausübten, also als Geschäftsführer, Vorstandsmitglieder oder Vorsitzende auf Kreis- oder Bezirksebene in dem Dienst einer Interessengruppe stünden. Dabei liegen die Union mit 44,8 % und die FDP mit 43 % deutlich vor der SPD, welche 31 % Abgeordnete in solchen Funktionen besitzt. Das Schlußlicht bilden Bündnis 90/ Die Grünen mit 12,5 % und die PDS/ Linke Liste mit 8,8 %. Nicht überraschen kann dabei die stärkere Arbeitgeberorientierung der derzeitigen Koalitionsfraktionen und die größere Gewerkschaftsaffinität der SPD.

Diese Daten zur 12. Wahlperiode, welche durchaus typisch und insoweit auf die gegenwärtige Szenerie übertragbar sind, scheinen auf den ersten Blick zu belegen, was Kritiker befürchten: Das Parlament durchsetzt von Lobbyisten, parzelliert in "Verbandsherzogtümer", unfähig zu einer gemeinwohlorientierten Politik.

Doch welchen praktischen politischen Stellenwert hat diese Verbandsfärbung des Deutschen Bundestages wirklich, und wie ist es um die Bedeutung des parlamentarischen Lobbyismus generell bestellt? Fragt man die Verbandsfunktionäre selbst, und läßt die Bedeutung politischer Institutionen als Kontaktpartner für Verbände nach dem Schulnotensystem zensieren, ergibt sich ein recht klares Bild: "Klassenprimus" der Bonner politischen Landschaft ist mit der Note 1,6 die Ministerialbürokratie, gefolgt von den Medien und Partnerverbänden mit jeweils 1,8; auf Platz 4 folgen die Ausschüsse des Bundestages mit einer soliden 2,0. Kurzum: Die Zensuren der Verbandsvertreter spiegeln den ohnehin bekannten Sachverhalt wider, daß lobbyistische Tätigkeit zunächst auf die zuständigen Abteilungen und Referate der Ministerialbürokratie abzielt, wo das Gros der Gesetzesvorlagen erarbeitet und somit auch frühzeitig beeinflußbar ist. Die Einflußnahme auf das Parlament hat infolgedessen mehr flankierenden denn dominierenden Charakter: Dort gilt es, im Rahmen der Ausschußberatungen erwünschte Änderungen zu erreichen bzw. im Rahmen von Hearings die eigene Position publikumswirksam zu verkaufen.

Muß man also den generellen Stellenwert parlamentarischer Lobbyarbeit adäquat gewichten, so gilt dies gleichermaßen für die Wirkungsmöglichkeiten verbandsangehöriger Parlamentarier. Der Idealfall, den sich die Verbände dabei alle wünschen, sieht wohl so aus: "Wenn Sie eine bestimmte Entwicklung befürchten oder wissen, daß da was in der Regierung läuft, und Sie wollen, daß das auf den Tisch kommt: Dann brauchen Sie einen Abgeordneten, der eine Anfrage stellt. Optimal natürlich, wenn Sie dem Abgeordneten die Frage schreiben und dem Staatssekretär die Antwort. Dann haben Sie Ihr Geld für den Monat verdient!" So formuliert es ein Funktionär der Bauindustrie und setzt damit die Maßstäbe.

Der politische Alltag gestaltet sich allerdings weniger einfach. Nicht weniger als 16 von 23 hierzu befragten Verbandsfunktionären stellten die Bedeutung verbandsangehöriger Abgeordneter für die Arbeit von Interessengruppen im allgemeinen, aber auch ihrer eigenen Organisation, generell in Abrede. Ganz allgemein wird dabei auf die Rollenkonflikte verwiesen, denen sich ein allzu offen interessenbezogen handelnder Parlamentarier ausgesetzt sehe: Durch seine parteiinterne "Ochsentour" bedingt, sei er als politische Existenz vor allen Dingen seiner Partei verpflichtet und müsse sich infolgedessen auch primär als Partei- und Fraktionsmitglied, erst sekundär als Vertreter partikularer Interessen verstehen. Ein allzu offen für Verbandsbelange eintretender Abgeordneter wird genau diese Grundregel verletzen und damit die fraktionsinterne Sanktionsmaschinerie in Gang setzen: Bleibt es zunächst bei mehr oder weniger freundlichen Aufforderungen, sich in erster Linie in den Dienst der Partei zu stellen, so kann dies bei mangelndem Effekt in offene fraktionsinterne Ausgrenzung münden, welche den solchermaßen Stigmatisierten im Grenzfall zur politischen Einflußlosigkeit verurteilt.

Aus den genannten Gründen entsprechen die meisten verbandlich gebundenen Parlamentarier auch der Programmatik ihrer Partei und Fraktion. Doch nicht nur dies: Gemäß dem Grundsatz "where you stand depends on where you sit" entwickeln die meisten verbandsangehörigen Abgeordneten durch ihre permanente parlamentarische Arbeit ohnehin ein Selbstverständnis, welches eben primär parlamentarisch und nurmehr sekundär verbandlich geprägt ist. Ein Vertreter der Lebensmittelbranche etwa mußte resigniert feststellen: "Ich hab da fünf (Abgeordnete): Die sind unheimlich freundlich! Die sind auch aktiv und lassen sich gerne einladen. Aber wenn ich dann mal nachfrage, dann geht das im Wortschwall unter. Das Wichtigere für die Lobbyarbeit sind die Kollegen, die in der Fraktion zuständig sind."

Der zuletzt angesprochene Sachverhalt mindert die Wirkungsmöglichkeiten eines potentiellen parlamentarischen Lobbyisten im übrigen noch weiter: Eingebunden in die arbeitstätige Organisation von Fraktion und Ausschuß, ist er dort in den seltensten Fällen konkret für die Interessenbereiche des eigenen Verbandes auch zuständig. Selbst die Mitgliedschaft im richtigen Ausschuß, etwa demjenigen für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, muß einem Bauernvertreter noch nicht unbedingt Wirkungsmöglichkeiten eröffnen, wenn er nicht als Berichterstatter maßgeblich federführend ist. Externe Verbandsvertreter wenden sich daher oft gerade nicht an "ihre" Abgeordneten, sondern an die jeweils zuständigen.

Doch welchen Wert besitzen verbandsangehörige Abgeordnete dann überhaupt? Sind sie nicht letztlich sogar eine Hypothek für jede Interessengruppe, weil über sei zum einen wenig bewegt werden kann, sie aber zum anderen immer wieder als Zielscheibe populistischer Verbändekritik herhalten müssen? Dieses Bild wäre sicherlich ebenso verzerrend. Denn die Verbandsfunktionäre verweisen im gleichen Atemzug immer wieder auf den Informationsvorsprung, welchen diese Parlamentarier verschaffen könnten. Durch gute Kontakte zur Arbeitsebene der Ministerien hätten sie frühzeitig strategisch wichtige Informationen über Gesetzgebungsprojekte etc. und gäben diese auch regelmäßig an ihre Organisationen weiter. Auch durch fraktionsinterne Diskussionen seien verbandsangehörige Parlamentarier frühzeitig informiert und könnten im Rahmen der eben skizzierten Spielregeln dort auch Verbandsinteressen artikulieren. Zu den Spielregeln gehören z. B. auch die Hearings, mit denen die Ausschüsse die Informationen der Interessengruppen in ihre Beratungen einbeziehen.

Fazit: Der Mythos vom gemeinwohlabträglichen Lobbyismus ist quicklebendig, aber er steht auf tönernen Füßen. Lobbyistische Realität ist demgegenüber unspektakulär, regelgeleitet, ja fast banal und damit für Publizistik und Wissenschaft unattraktiv. Seit jeher ist es deshalb gute Tradition, lobbyistische Regelverstöße, die immer die Ausnahme geblieben sind, in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. Doch wie ein Fußballspiel nicht auf Fouls, gelbe und rote Karten reduziert werden kann, sondern von der unspektakulären Regelhaftigkeit lebt, ist auch der Alltag des Verbandswirkens von klaren Spielregeln geleitet, deren Verletzung ebenso geahndet wird: Nicht von ungefähr wissen Eschenberg und Co. von derlei Verstößen: Ihre Veröffentlichung ist bereits Teil des Kontrollmechanismus, welcher lobbyistisches Foulspiel zuverlässig ahndet und damit auch dauerhaft zur Ausnahme degradiert.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1998/bp9805/9805004
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